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…vor lauter Nichtstun ganz erschöpft
Die Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth

K. K. Bajun
Sehr gebildet soll sie gewesen sein, eine Philosophin gar, die, wenn das Schicksal ihr dahingehend gewogen gewesen wäre, dem Vernehmen nach das Zeug zu einer großen Königin auf dem Throne St.Georgs zu England gehabt hätte.
Die Rede ist von Wilhelmine von Preußen, der ältesten Tochter des Soldatenkönigs und Lieblingsschwester Friedrichs des Großen.
Nun sind Memoiren dazu angetan, einiges über deren Verfasser zu erzählen, was über den gewollten Inhalt mitunter weit hinausgeht. Manch einer, wie der ehemalige und langjährige amerikanische Außenminister Henry Kissinger schreibt weit über Tausend Seiten und bringt es dabei fertig, sich nicht mit einem Wort in die eigenen, persönlichen Karten schauen zu lassen. Ein wahrer Chefdiplomat ersten Ranges! Solche Memoiren sind ganz einfach der verbindliche Entwurf eines Geschichtsbildes für nachfolgende Generationen und blenden die autobiographischen Elemente geschickt aus.
Andere, wie oftmals neuzeitliche „Sänger“, „Künstler“, Schauspieler oder Sportsgrößen, pinseln auf Teufel komm raus, weil sie der Ansicht sind, alle Welt müsse süchtig sein, nach dero Befindlichkeiten und kann das Gewäsch gar nicht erwarten. Dabei lassen sie oftmals pinseln, denn, sollten sie auch nur einen einzigen Brief von eigener Hand aufsetzen müssen, so würde man der Leere in ihren Hirnkästen alsbald gewahr werden: Kein Schimmer von Stil, Orthographie oder Grammatik – sie sind halt „VIPs“, prominente Schießbudenfiguren und das reicht ja schließlich.
Im 18. Jahrhundert aber gab es noch keine nennenswerten Ghostwriter. Wir können also davon ausgehen, daß die Königstochter Wilhelmine wirklich selbst an einem zierlichen Secretair eines Pavillons ihrer Eremitage gesessen hat und die Feder über das Papier kratzen ließ.
Was sie dort schreibt, ist in jeder Hinsicht bemerkenswert. Der erste und nachhaltigste Eindruck ist folgender: Ein hochwohlgeborener Kindergarten von Müßiggängern, eine gesalbte Clique von Tagedieben verpraßt mit ihrem gottlosen Leben das sauer erschuftete Geld von Menschen, die, wenn diese Edelbrut sich überhaupt herabläßt, sie zur Kenntnis zu nehmen, als Subjekte und Kreaturen diffamiert werden.
Doch dieser Umstand ist den Herrschaften kein Gedanken wert. Das ist ihr unantastbares Recht, und es ist völlig obsolet, die Frage einer ausgewogeneren Gesellschaftsordnung überhaupt zu stellen.
Während sich die Bevölkerung also den Buckel krumm schuften muß, um diese spätfeudalen Parasiten zu unterhalten, verleben diese ihre Tage auf Erden in elendem Müßiggang. Soupers, Diners, Jagden, Ausflüge, Kartenspiel und Maskenball, Menuett und Schauspiel. Da sich diese Aktivitäten nun aber Tag für Tag wiederholen, so widmet man sich bei Hofe noch einem anderen Sport: der Intrige! Hier geht es um Macht und Einfluß, Kabalen werden gesponnen, bei deren Umsetzung man sich so perfide dilettantisch verhält, daß der Gegner oder „Feind“ unbedingt die Chance haben muß, in die Parade zu fahren. Es wird Leuten ein „großes Geheimnis“ anvertraut, und zehn Minuten später weiß es der ganze Hof. Die Indiskretion wird gerügt, man schmollt und begeht gleich darauf denselben Fehler. So wurde unter anderem Weltgeschichte geschrieben. Waren das alles exponierte Idioten?
Es scheint so, zumindest auf den ersten Blick: Dorftussen und Bauernlümmel in Reifrock und Gala, spießig und maßlos im Karikieren menschlicher Gefühle, die theatralisch zur Schau getragen werden, wo man ihrer doch realiter völlig zu entbehren scheint. Da wirft man sich der eigenen Mutter flehend zu Füßen, die einem schriftlich anzeigte, daß sie die Tochter von nun an als „ihre ärgste Feindin“ zu betrachten gedenke, einen Tag später ist das Wetter wiederum umgeschlagen, man konspiriert wieder gemeinsam und so geht das fort und fort.
Dabei entwickeln sich tatsächlich Tragödien. Selbst hochadlige Herrschaften verschwinden auf eine unwirtliche Festung bei Wasser und Brot, wenn nicht schlimmeres. Entwickeln sich kriegerische Auseinandersetzungen aus diesen Kindereien, so müssen nicht selten „Subjekte“ und „Kreaturen“ en masse mit Leben und Gesundheit für die Possen ihrer „Edlen“ bezahlen.
Nun ist von Kommentatoren dieser Memoiren richtig erkannt worden, daß Wilhelmine ein recht einseitiges, über weite Strecken überzogenes und verzerrtes Bild von den Höfen ihrer Zeit entwirft. Daß dem die Betrachtungen einer Frauenseele zugrunde liegen, erkennt man unschwer Zeile für Zeile. Familiendynamiken dominieren das Erinnerte, politische Ereignisse werden bestenfalls marginal besprochen, und dann auch nur, wenn sie in irgendeinem Bezug zu jener familiären Situationen stehen.
Kritische Bewertungen von Selbsteinschätzungen, mögliche Subjektivität in Erlebtem wie Reflektiertem, ja Selbstzweifel waren vor zweihundertundsiebzig Jahren völlig unbekannt: Man empfand etwas, man schrieb das auf und also war es wahr. Dialektik und Objektivität erschöpften sich schon in dem Versuch, zwei Charakterseiten einer zu beschreibenden Persönlichkeit zu beleuchten. „Sie war geistreich aber hatte faulige Zähne und einen üblen Geruch…“, „ …er war weltgewandt, aber ein großer Intrigant und voller Eigennutz…“ – in diesem Tenor geht es munter langhin.
Dabei entspricht das Gesamtwerk einem nicht enden wollenden Schulaufsatz eines Drittkläßlers. Vier, setzen! Das ist die erste Reaktion, zu der sich ein moderner Leser mit einer akzeptablen sprachlichen Grundausstattung hinreißen lassen möchte.
Sätze werden aufeinaderfolgend immer wieder mit einem öden „Ich“ begonnen. Geistloser und wenig farbenfroher Stil durchzieht das Buch, ermüdend das ewige Gejammer über seelische und physische Krisen, die die Fürstin zu sammeln scheint, wie ein Philatelist seine Briefmarken.
Wir wollen nicht in Abrede stellen, daß die Zeit eine ungleich Härtere war. Die Erkenntnisse der abendländischen Medizin bedeuteten für die Betroffenen selten genug Heilung, sondern ganz im Gegenteil oft eine Vermehrung ihrer Leiden. Das Universalmittel war ein Aderlaß. Allgemein anerkannt, bedeutet er häufig das Aus für die ohnehin schon geschwächten Patienten. Gleiches galt für die Tinkturen und Pülverchen, die als Medikamente verordnet wurden – was die Leute durchzumachen hatten, läßt sich nur schwer ermessen. Glücklich, wer sich keinen Doktor leisten konnte! Und dabei waren selbst Leute von Stand in beklagenswerter Verfassung: Hygiene war unbekannt, Wasser als Mittel zur Reinigung verpönt, man war verdreckt und starrte vor Ungeziefer. Die prachtvollen Räume der Schlösser waren nicht minder verseucht, ja, ja: wenn Sie heute ein Schloß besuchen, so seien Sie sich dessen bewußt, daß Sie eigentlich einen Ausflug nach Disney-Land unternehmen. Sie glauben, das hat hier immer so geglänzt, und die Herrschaften waren Ausbünde an Duft und Reinheit? Weit gefehlt. Wenn Hofstaaten des Öfteren umzogen, dann hatte das hauptsächlich den Grund, daß das Gesinde, (die Kreaturen), monatelang beschäftigt war, den Dreck und die Exkremente der noblen Herrschaften aus den Zimmern und Gängen zu entfernen und das Gebäude wieder in einen halbwegs bewohnbaren Zustand zu versetzen. Es waren große Dreckspatzen, die sich ungeniert in ihre Wohnungen entleerten, wenn ihnen gerade kein Nachtgeschirr zur Hand war, und wenn sie im Labyrinth des Parks Blinde Kuh spielten und dabei fielen, konnte es schon passieren, daß sie in einem noch warmen Haufen von Fäkalien eines Höflings oder einer Dame landeten.
Dieses Wissen im Hintergrund und die Zeilen der für gebildet geltenden Markgräfin vor Augen, erschauern wir heute bei der Lektüre. Eine rohe und brutale Bande von „overgrown children“, wie die Engländer sagen würden, regierte die Geschicke ihrer Nationen. Der Terror der französischen Revolution wird mit einem Schlage nachvollziehbar. Irgendwann ging das nicht mehr! Die Äußerung, die Marie Antoinette zugeschrieben wird: „Was, das Volk hat kein Brot mehr? Dann sollen sie halt Kuchen essen!“ ist zwar sicherlich fiktiver Natur, gewinnt aber durch die dokumentierte Haltung, die uns aus den vorliegenden Lebenserinnerungen Wilhelmines entgegenleuchten, einiges an Authentizität.
Wenn uns all die Grafen, Herzöge, Prinzen und Prinzessinnen mit ihren ewigen, ebenso lächerlichen wie für sie damals essentiellen Rang- und Vortrittsstreitereien, ihrem Theaterdonner und Getöse vorgestellt werden, so empfinden wir Abscheu und Ekel vor der ganzen primitiven Truppe, die sich eigentlich als die Kulturträger des Abendlandes begriffen.
Ihre Bilder und Portraits, die Schilderung ihrer Persönlichkeiten, soweit sie uns gegenwärtig in gefälligen Übersichten dargeboten werden, fallen in sich zusammen, wie leere Kartenhäuser. Damen und Herren, die uns als klug und geistvoll beschrieben wurden, geben Platitüden und infantilen Nonsens von sich, aber wir wollen uns mäßigen – wir urteilen in einem Abstand von einem Vierteljahrtausend – wer weiß schon, wie wir dermaleinst bewertet werden!
Das führt uns zu der abschließenden Überlegung: Wie sieht es heute aus in den Spitzen von Staat und Wirtschaft? Sind Vergleiche zulässig?
Wir denken: Ja! In jedem Falle. Sicher, die Damen und Herren von heute sind reinlicher, sie waschen sich, benutzen Klos mit Wasserspülung, die medizinische Versorgung und Prävention besteht auf einem weit höheren Niveau – aber die Verhaltensmuster der Nackten Raubaffen in Führungspositionen dürften von gleichen Motiven geprägt sein, wie damals.
Mit dem einzigen Unterschied, daß man dem Volk, dem großen Lümmel, eine Demokratie vorgaukelt und ihm unablässig ins öffentliche Ohr flötet, es sei der Souverän. Dem zum Trotze haben sich doch die feudalen Strukturen von den Schalthebeln der Macht nie auch nur um ein Jota entfernt. Dort geht es ganz genauso zu, wie ehedem: Stallgeruch, Herkunft, persönliche Bindungen, Hausmacht, Intrige und Kabale, Abhängigkeiten und Gefolgstreue – alles etwas dezenter in Szene gesetzt, alles etwas mehr hinter den Kulissen. Damit der Plebs stille hält, spielt man Komödie vor ihm, zeigt ihm, was er sehen will – mal jovial, mal seriös. Aber sind die Kameras abgeschaltet, dann fliegen die Masken vom Gesicht! Dann beginnt der uralte Tanz, in dessen Schritte uns die öden Memoiren einer preußischen Königstochter so vortrefflich durch das Hintertürchen eingeweiht haben. Und hier ist es von Vorteil, daß die Zeilen von Frauenhand geschrieben wurden: Kein Mann vermag die Schwingungen und persönlichen Interaktionen so fein aufzufassen und so trefflich ins Bild zu setzen, wie eine Frau, die seit den Lagerfeuern der Steinzeit auf nichts anderes gedrillt wurde. Wie diese Details dann unmerklich das große Ganze zu determinieren beginnen – an dieser Stelle bekommen diese Lebenserinnerungen Farbe, ja geradezu Brillanz!
„…vor lauter Nichtstun ganz erschöpft!“ Wir haben dieses Zitat aus den Memoiren der Bayreuther Markgräfin zum Titel unseres Beitrags gewählt. In ihrer unschuldigen Provokanz ist diese Aussage nicht mehr zu überbieten. Sie ist gleichsam die Quintessenz des gesamten Werkes, in der sich das Wesen einer ganzen Kaste fokussiert.
Während Millionen Menschen von Tag zu Tag um ihre nackte Existenz rangen, und diesen Kampf immer wieder und millionenmal verloren, waren einige wenige, die sich aber für die Wichtigsten ihrer Epoche hielten, „vor lauter Nichtstun ganz erschöpft“.
Die Parallelen zur globalen Moderne sind auch hier unverkennbar: wenn die Neger, Inder und Südamerikaner eines Tages der reichen und dekadenten Nordhemisphäre eine Zweite Französische Revolution bereiten, dann wäre dies nach Lektüre dieses Satzes kaum verwunderlich.
Man sollte daher beizeiten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und eine Umkehr von den alten Prinzipien der selbstbezogenen Vettern-Mißwirtschaft, der Arroganz den Bestohlenen und Unterdrückten gegenüber, ja, der gesamten abendländischen Onanie in Erwägung ziehen, bevor es wieder einmal zu spät ist. Die stürzenden Türme von New York und der gesprengte Madrider Bahnhof sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache.
Legen wir also das Lineal an zwei bestimmte Punkte: die vorliegende Autobiographie einerseits und Ground Zero andererseits, und ziehen wir eine Gerade! Es bleibt uns unbenommen, diese Gerade in die Zukunft zu verlängern. Dann liegt die Entscheidung bei uns, welche Schlüsse wir aus dieser Milchmädchenrechnung zu ziehen und umzusetzen gewillt sind.

B 2. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004