Julian Apostata
der letzte Hellene auf dem Cäsarenthron
von Herrn Dimitrij Sergejewitsch Mereschkowski
K. K. Bajun
11. Dezember 361 nach Christus.
Noch einmal bäumt sich das lebensbejahende Licht der antiken
Weisheit gegen das gerade aufgekommene, totalitäre und lebensfeindliche
Christentum auf: in Gestalt des 29 jährigen Kaisers Flavius Claudius
Julianus. Dieser junge Mann, der soeben mit seinen Legionen aus den
nördlichen Provinzen des römischen Reiches heimkehrt, um
siegreich in Konstantinopel einzuziehen, hat trotz seiner Jugend schon
eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Ein Enkel Konstantins des
Großen, der dem Christentum zum Durchbruch verholfen hatte,
wird er über Jahre seiner Jugend stets und ständig in Furcht
gehalten von seinem regierenden Vetter Constantius, der seinen Onkel
und dessen Nachkommen bis auf Julian und dessen Bruder Gallus tötete.
Angeblich wollte das römische Militär nur direkte Nachkommen
des Konstantin auf dem Throne der Cäsaren dulden.
Um seine Erziehung bekümmerten sich vor allem christliche Lehrer,
die ihn zu einem Mönch an der Spitze des römischen Weltreiches
schmieden wollten.
Ein dumpfer, stumpfer und fanatischer Fundamentalist sollte er werden,
der den Willen der sich etablierenden christlichen Machthaber umsetzt,
ohne diese neue Religion und ihr Verhältnis zur Lebenswirklichkeit
auch nur im Mindesten in Frage zu stellen.
Das eben war der Knackpunkt. Soziale und hegemoniale Strukturen, die
schon das Leben von Affenrudeln determinieren, bestimmen unabänderlich
auch das soziale Wesen von menschlichen Gemeinschaften, egal, unter
welcher Bezeichnung letztere firmieren und welchen Anspruch sie vortragen.
Das eigentlich Revolutionäre am Christentum war ja die völlig
geniale Behauptung, als erste gesellschaftliche Kraft der Welt nunmehr
für die Armen, die Entrechteten, die ewigen Verlierer im Kampf
um Macht und Einfluß da sein zu wollen.
Dieses Konzept in eine menschliche Gemeinschaft einzupassen aber bedeutet
die Quadratur des Kreises.
Doch genau für diesen unmöglich scheinenden Spagat bot das
Christentum eine einzigartige Lösung an, die an Genialität
der Einsteinschen Relativitätstheorie in nichts nachsteht: Sie
vertröstete den Bodensatz der Gesellschaft auf ein imaginäres
Jenseits, in welchem ewiges Glück zu versprechen die einfachste
Übung war. Dieses aber könne man sich nur durch Leiden im
sehr reellen Diesseits verdienen: je mehr man litt, desto besser wurden
die Aussichten für das ewige Leben nach dem Tode. Wie freudig
dagegen nahmen die vom Schicksal Begünstigten die irdischen Freuden
in Kauf. Selbst mit der Aussicht auf die ewige Verdammnis bedroht,
waren sie nicht bereit, ihr Wohlleben zugunsten der Armen aufzugeben.
Ein fetter, goldstarrender Bischof – welch ein Hohn auf die
Lehre des Jesus von Nazareth!
Das Volk aber, der Pöbel, nahm diese gewagte Theorie begeistert
auf. Warum auch nicht? Schließlich wurde ihm an diesem Punkt
in der Geschichte erstmals überhaupt Erwähnung zuteil!
Da spielte es keine Rolle, wie verlogen das Konzept war. Wer am Ersaufen
ist, greift naturgemäß nach jedem Strohhalm, und sei es
der größte Humbug!
Potentaten und Machthaber der alten Ordnung, der Antike, exerzierten
in großem Stile vor, was die Geschichte der Menschheit wie ein
roter Faden durchzieht und von den DDR-Bürgern 1989 hautnah beobachtet
werden konnte: Die Gesinnung wurde den neuen Erfordernissen angepaßt,
um das alte Leben ungestört fortsetzen zu können.
Dieses „alte Leben“ aber war nichts anderes als das ewige
Monopoly der Menschen, das in den antiken und vorchristlichen Gesellschaftsordnungen
mit großer Ehrlichkeit – und parallel dazu: mit großer
Grausamkeit – betrieben wurde. Natürlich führen die
Spielregeln dieses Monopolys bei den Unterlegenen in aller Regel zu
unermeßlichem Leid, zu Verstümmelung, Verarmung und sogar
dem Verlust des einzigen, kostbaren Lebens bei Niederlage oder dem
Versuch der Auflehnung gegen die empfundene Ungerechtigkeit.
Wir, die wir die Renaissance des Raubtierkapitalismus erleben, werden
alsbald wieder wissen, worum es der christlichen – und später
auch der kommunistischen – Idee zu tun war. Nota bene: es ist
von der Idee die Rede, nicht vom Experiment ihrer praktischen Umsetzung.
Dennoch – mit Ideen allein baut man keinen Staat auf! Pragmatismus
ist gefragt. Und dessen Ziel muß es sein, die Volksmassen einerseits
im Zaume zu halten und andererseits für die eigenen Zwecke zu
gewinnen. Denn Volksmassen hinter sich zu haben, bedeutet Macht!
Das ganze Gerede um utopische Phantastereien wie „Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit“ ist völliger Nonsens.
Um das zu wissen bedurfte Kaiser Konstantin nicht der Erfahrung einer
französischen Revolution. Sein eigener kluger Kopf reichte durchaus.
Gib dem Volk eine Schmalzstulle, verbunden mit obskuren Verheißungen
auf ganze Berge von Milch und Honig – und es frißt dir
aus der Hand, in der Hoffnung, von den versprochenen Bergen nur einen
Bruchteil wirklich zu ergattern.
Das alles erkannte Konstantin und setzte es in reale Politik um. Nicht
aber sein etwas romantischer veranlagter Enkel, der noch von einem
lebensfrohen Hellas mit all seinen Göttern und Hainen träumte,
der das schwarze, leibabtötende Muckertum der neuen galiläischen
Religion verfluchte. Julian, ein heller und kritischer Verstand verachtete
eine Geisteshaltung, die dem Glauben den Vorrang vor dem Wissen einräumte,
ja, die das Wissen gar in Grund und Boden verdammte um des Glaubens
willen.
Er verachtete die Träger dieser neuen Religion, die den Weisungen
ihres Meisters durch ihre Attitüden hohnsprachen. Denn viele
dieser frühen Christen waren, so wie ihre Nachfolger in den späteren
Jahrhunderten bereit, ihrem christlichen Nachbarn ohne zu zögern
den Schädel einzuschlagen, wenn dessen Glaubenshaltung und Bekenntnis
auch nur um das sprichwörtliche Jota abwich. Sie haßten
diesen Glaubensbruder mehr als die Heiden. Lieben sollten sie nach
Jesus’ Anweisung alle beide. Das Gegenteil war der Fall. Julian
erkannte die bodenlose und verlogene Heuchelei der sich im absoluten
Recht wähnenden Fanatiker und bekämpfte das böse Pack,
wo er nur konnte. Und sie bekämpften ihn.
Dadurch stand er von vornherein auf verlorenem Posten: Das Volk liest
Bildzeitung und nicht Frankfurter Allgemeine, wenn der Vergleich gestattet
ist. Und Julian, der Hochgebildete, der Rhetoriker – er sprach
am Volk vorbei. Die Christen editierten eine Propaganda von „Bild“-
Format. Das machte sie extrem erfolgreich. Die Märchen, der wirre
und krude Blödsinn, die Legenden, die sie im Interesse der Verbreitung
ihrer Religion unter die Völker brachten, dieser ganze Stuß
fiel bei den abergläubischen Menschen auf fruchtbarsten Boden.
Und dann besaßen sie noch eine Wunderwaffe: Das Märtyrertum.
Viele ihrer Heiligen, denen oftmals die Kirchen unserer abendländischen
Städte und Gemeinden geweiht wurden, waren zu Lebzeiten häufig
Verbrecher, die das Pech hatten, von einem Heiden umgebracht zu werden,
oder Verbrecher, die viele Heiden und/ oder Ketzer umbrachten, oder
aber fanatisierte Menschen, deren Seelenzustand wir heute unter psychopathologischen
Aspekten begutachten würden. Diese Canaille verdrängte nun
die zahllosen lebenslustigen Götter der Antike, mit ihren zugegebenermaßen
oft haarigen Kulten.
(Es sei dies als unbestreitbares Verdienst des Christentums angemerkt,
daß sie das menschliche Leben sakrosankt erklärten und
die menschenverachtenden Zirkusspiele, Opfer und Gebräuche der
Vorzeit abschafften, wenngleich das Blutvergießen unter der
christlichen Herrschaft niemals auch nur in Ansätzen aufhörte.
Dennoch, das Prinzip der Menschenwürde als staatstragendes Moment
ist den Christen anzurechnen.)
Der große russische Dichter und Religionstheoretiker Dmitrij
Sergejewitsch Mereschkowski nahm sich dieses Themas in seiner Romantrilogie
„Christ und Antichrist“ an, dessen erstes Opus das hier
besprochene und 1895 geschriebene Buch „Julian Apostata –
der letzte Hellene auf dem Cäsarenthron“ ist.
Wir begegnen Seite um Seite einem fundierten historischen Fachwissen,
einer exzellenten Recherche und einem fesselnden Erzählstil.
Vor allem aber besticht die Eigenschaft Herrn Mereschkowskis, fernab
von jeder schnulzigen Süßlichkeit den erbarmungslosen Kampf
zu schildern, den Menschen seit jeher mit allen Mitteln um die Macht
führen. Herr Mereschkowski seziert Charaktere – unbarmherzig
und anatomisch präzise.
Es kommt nur noch darauf an, ob der Leser willens und bereit ist,
den Erkenntnisgewinn auf sein eigenes Ego zu adaptieren. Denn unbestritten
ist: die vom Autor skizzierten Verhaltensmuster sind der menschlichen
Rasse, wie oben beschrieben – immanent. Wer immer sich der Einsicht
verschließt, daß auch das eigene positive Selbstbild nur
allzuoft von der Realität abweicht, daß auch wir, die wir
uns so häufig im Rechte glauben mit unseren Ansichten und Erfahrungen,
fehlbare Menschen sind, die gerade durch ihre Fehlbarkeit nachgerade
verpflichtet sind, dem Nächsten zuzuhören und die Einwürfe
des Anderen zumindest zu erwägen, der wird sich den Vorwurf gefallen
lassen müssen, seinen Teil dazu beizutragen, daß die Kontinuität
der Gewalt gewahrt bleibt bis ans Ende der Tage der Menschheit.
Doch man lasse sich trösten: Ein Jesus von Nazareth, ein Buddha,
ein Lao-tse, ein Franziskus von Assisi, ein Diogenes oder ein Plato
halten den Lauf der Dinge nicht auf. Wo immer das Leben um seinen
Erhalt kämpfte, da bemächtigte es sich der Ressourcen anderen
Lebens. Nichts anderes ist die Gewalt. Sie ist das obligate, treibende
Element innerhalb des Gesamtkunstwerkes Leben. Oder, wie der geflügelte
Satz lautet: Der Krieg ist der Vater aller Dinge!
Das soll uns nicht zu Apologeten von Krieg und Gewalt stempeln. Es
ist nur der nüchterne Realismus, der uns vor versponnenen Erlösungstheorien
bewahren soll, die den Menschen seit ihrem Bestehen nichts als vermehrtes
Leid brachten.
Wir halten es daher für besser, den Tatsachen so nüchtern
ins Auge zu sehen, wie es Konstantin der Große tat. Dennoch,
unser Herz schlägt für dessen Enkel, den unglückseligen
Feingeist Julian, den von seinen christlichen Hassern „Apostata“
– „der Abtrünnige“ genannt wurde. So, wie er
von Herrn Mereschkowski gezeichnet wurde.
Unser Herz schlägt für einen gebildeten, der Rede mächtigen,
den Wissenschaften zugeneigten und der wahren Milde dienenden, philosophischen
römischen Kaiser, der den Idealen des gekreuzigten Galiläers
weit näher kam, als die meisten der sich Christen nennenden Würdenträger
und Hofschranzen.
Sein Andenken zu bewahren dünkt uns lohnenswerter, als das von
Massenmördern, wie beispielsweise des „Heiligen“
Bernhard von Clairvaux.
Einen vortrefflichen Beitrag dazu leistete der leider zu Unrecht in
Vergessenheit geratene Dmitrij Sergejewitsch Mereschkowski. Wir schulden
ihm Dank.
Wem es nicht mehr möglich sein sollte, das Buch Herrn Mereschkowskis
antiquarisch zu erhalten, der lese Orwells „Farm der Tiere“!
Der Sinngehalt beider Werke läuft so ziemlich aufs gleiche hinaus.
Nur die Stilmittel und der erzählerische Hintergrund differieren.
Zu bedauern ist nur, daß die Menschheit trotz so vieler qualvoller
Erfahrungen und trotz so vieler exquisiter Vordenker und Bücher
partout nicht in der Lage ist, ihren verderblichen Kurs zu ändern.
Schade drum.