Der
Katharinenkirche aufs Dach gestiegen
Die Hauptkirche der Neustadt Brandenburg
an der Havel, St.Katharinen von Norden her
K. K. Bajun
Die dominanteste Erscheinung der
Neustadt Brandenburg an der Havel ist um eine begehbare Attraktion reicher
– man kann der Hauptkirche St.Katharinen seit Jüngstem aufs
Dach steigen. Na ja, nicht gleich aufs Dach – eher auf den Dachstuhl.
Der Weg dahin führt über einen engen Wendel östlich der
für ihren Zierrat berühmten Nordkapelle, zu Bauzeiten der Kirche
angelegt, um den Bauleuten einen gerüstunabhängigen Zugang zur
jeweiligen Höhe der Kirchenwand zu gewährleisten. Man merkt,
daß die Altvorderen nicht so groß gewesen sein können
– der Wendel ist wirklich sehr eng. 80 Stufen – und man ist
über dem Kreuzrippengengewölbe des Kirchenschiffs angelangt.
Empfangen von einem wirklich freundlichen Aufsichtsbeamten läßt
man, wenn sich die Augen erst ein wenig an das Halbdunkel unter dem riesigen
Dach gewöhnt haben, den Blick etwas schweifen. Da liegen die Buckel
und Täler des Netzgewölbes einmal von oben betrachtet. Es sieht
aus, wie die Wellen eines gefrorenen Sees. Wie haben die Alten das hinbekommen?
David Macaulay hat die Technik in seinem Kinderbüchlein „Sie
bauten eine Kathedrale“ beschrieben. Aber sagt das wirklich schon
alles über die enorme Leistung aus, die dahintersteckt? Diese Schinderei!
Es gab keine Baumaschinen, keine Elektrizität, keine starken Kräne.
Alles wurde von Hand gehuckt, ein kleiner Tretkran am Mauerkragen befestigt,
griff wohl mal beim Allernötigsten ein. Aber sonst? Donner und Doria!
Der Wald unterm Dach
Und dann erhebt sich der Blick und es schwindelt den überraschten
Gast: Ein Wald von Balken, sich überkreuzend erhebt sich in eine
schier endlose Dämmerung. Während der an sich schon imposante
dreischiffige Kirchenraum sich 17 m über den Fußboden erhebt,
der Dachstuhl bringt es auf beinahe 20m! Wer um alles in der Welt hat
sich diese überragende Konstruktion ausgedacht? Vor unserem inneren
Auge tauchen sie auf, die Zimmerleute vor weit über einem halben
Jahrtausend. 24m lange Sparren wurde unter Hektolitern von Schweiß
auf das Deckenniveau gewuchtet und dann in die Höhe gedrückt.
Wie? Wie? Uns bleibt das Maul offen stehen! Keine Eisennägel! Geschickte
Zimmermannshände stemmten an genau der richtigen Stelle die Nuten
und Aussparungen in die Balken, um die gewaltigen Hölzer gegeneinander
verschränken zu können. Holznägel hielten das Ganze zusammen.
Wer immer eine solche Konstruktion ersann, er muß ein heller und
geschulter Kopf gewesen sein. Wir würden ihm zutrauen, Rubiks Würfel
buchstäblich aus dem Handumdrehen richtig zu machen – die Anforderungen
an das abstrakte Denken dürften kaum höher sein.
Keine Bauakademie lehrte diese Kunst, kein Statiker prüfte mit Berechnungen
– gab es überhaupt eine Bauzeichnung? Papier war knapp. Rechenschieber
oder gar Taschenrechner und Computer waren völlig unbekannt.
Wenn wir heute vom leitenden Architekten des herausragendsten Bauwerks
der norddeutschen Backsteingotik sprechen, so benennen wir Meister Hinrik
Brunsberg aus Stettin. Sagen Sie den Namen noch einmal ganz langsam für
sich und betonen Sie das Wort „Meister“! Der hier war wirklich
einer!
In mehreren Etagen zieht sich die wunderbare Konstruktion in die Höhe
um Schindeln von einer Gesamtfläche von Dreieinhalbtausend Quadratmetern
Halt zu geben. Über dem Chor erkennt man die Beikonstruktion von
Gebälk, das einst den Dachreiter der St. Katharinenkirche zu tragen
hatte. Der Dachreiter selbst ist lange verschwunden. Sie können ihn
noch auf der berühmten Panoramaansicht bewundern, die vor seiner
sinnlosen Zerstörung im Neustädtischen Rathaus, nun aber im
Stadtmuseum im Frey-Haus der Altstädtischen Ritterstraße hängt.
Irgendwann entschloß man sich den Dachreiter herunterzunehmen. Der
Unterbau blieb. Es ist beeindruckend. Sehen Sie vom Aufgang nach Westen,
so erblicken Sie eine kleine Sensation: Ein gemauerter Giebel erhebt sich
vor Ihnen über die gesamte Breite des Kirchenschiffs. Das ist aber
noch nicht alles: Er ist verziert mit eingelassenen gotischen Blendgaden,
bemalt mit buntem Maßwerk. Wofür der Aufwand, werden Sie denken.
Das sah doch über die Jahrhunderte sowieso kein Mensch. Nun, die
Antwort liegt auf der Hand. Was Sie sehen, war ursprünglich der Abschluß
des Schiffes nach Osten.
Der alte Giebelabschluß nach Osten
Dann kam wieder etwas
Geld in die städtischen Kassen – ja, liebe Brandenburger, so
was gab’s wirklich mal! – und der hochlöbliche Magistrat
der Neuen Stadt Brandenburg beschloß das Anfügen eines Chores.
Während wir einsam unter dem weitläufigen Dachstuhl stehen,
sprechen wir ein kurzes Dankgebet zum Hausherrn dieses Gotteshauses. Danke,
Lieber Gott, daß Du verhindert hast, daß mit Kurfürstenhaus,
Rathaus, St.Annenstraße und Paulikloster auch dieser Bau untergehen
mußte. Danke, daß die Herrschaft der Atheisten nur vierundvierzig
Jahre währte und bald nach deren Abdanken mit der Renovierung dieses
Prachtbaus begonnen werden konnte. Ich, der ich im Schatten seines Turmes
das Einmaleins erlernen durfte, kannte ihn noch anders. Grau in Grau war
er und unansehnlich – und mir doch damals schon ans kindliche Herz
gewachsen.
Blick in den herrlichen Chor von St.Katharinen
Wir danken nicht nur dem allmächtigen Vater Israels für das
Wiederaufleben dieses in jeder Hinsicht wegweisenden Sakralbaus unserer
Mütter und Väter – wir danken auch dem umtriebigen Pfarrer,
der Landeskirche und den vielen engagierten Helfern, die unseren Augen
und unserer Seele einen wundervollen Raum zum Ausruhen und zur Einkehr
wiedergaben, verbunden mit dem Gedächtnis an die Großtaten
der Alten, auf deren Schultern zu stehen wir das ehrenvolle wie verpflichtende
Privileg haben.
Und wir lächeln nachsichtig und verstehend, wenn unser lieber Kollege
Druckepennig seine Kippa aufbehält. Denn wir wissen, daß er
das heilige Haus, den anderen Tempel seines Herrn ehrt und daß er
auf seine Weise Zwiesprache hält mit dem Rabbi Joshua, dem Sohn seines
Volkes, auf dessen Liebe sich die Kunst und Mühsal der Alten gründete
und berief.
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