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Die Elitetruppe und das Leid der jungen Russen
Herr Sakulowski legt einen Roman über ein vergessenes DVP-Einsatzkommando vor

Kotofeij K. Bajun. Rathenow. Es dürfte extrem selten sein, dass ein Kritiker zum Autor sagt: „Nein, mein Lieber, dein Buch bespreche ich nicht!“ Im Falle „Verlorenwasser“ von Herrn Sakulowski aber geschieht genau das! Warum nur? Ist das Buch nicht gut genug für des Kritikers Ansprüche?

Weit gefehlt! Nicht einmal das Prädikat „Sehr gut“ würde Herrn Sakulowskis Roman gerecht werden. Doch die Sache ist komplex. Wovon reden wir? Von dem Buch, das uns vorliegt und das handwerklich sehr solide aufgebaut und dessen Plot ohne literarische Pirouetten erzählt wird? Von der stringenten und in sich geschlossenen Geschichte?

Nee, darum geht es gar nicht. Es geht um das Buch hinter dem Buch. Es geht um die Inhalte, die Herr Sakulowski zwischen den Zeilen schrieb und die nur jemand erfährt, der die Kunst des zwischen-den-Worten-Hörens und zwischen-den-Zeilen-Lesens erlernt hat. Ein waschechter und wacher Ossi eben.

Deswegen kann es passieren, dass dem Werk auf dem westdeutschen Markt kein großer Erfolg beschieden sein wird. Aber bei den Ossis, vor allem bei denen, die das alles haargenau kennen, was der Autor da zu Papier gebracht hat – bei denen hat es das Zeug eine ungeheure Wucht zu entfalten. Es packt den kleinen Jungen, der noch immer seinen Platz in der alt gewordenen, irdischen Hülle des Kritikers beansprucht, an der Seele. Und es knautscht diese Seele zusammen – auf Streicholzschachtelformat. Die Tränen laufen dem Alten übers Gesicht … Plutowka … Der Ofen, auf dem er liegen durfte, war aus Lehm, nicht aus Ziegeln. Drei Schaffelle drunter – eins zum Darüberlegen. Ja, auch der Großvater hieß Timofeij, die Großmutter allerdings Marfa Antonowna. Aus Holzstämmen war das Häuschen gefügt und stand mit seinem kleinen Hof und dem Gärtchen eine dreiviertel Werst östlich von Mütterchen Kama, der ältesten Tochter von Mütterchen Wolga. Herr Sakulowski muss diese Landschaft sehr genau kennen – und diejenigen, die von dieser Landschaft geprägt wurden.

Saratow? Der kleine Park mit den Schachtischen am Westufer von Mütterchen Wolga … Unten, am Kai, liegt die "Wjesna" vertäut, aus der kleinen Konzertmuschel ertönt ein Walzer, der die durch den Park von der Arbeit nach Hause Eilenden begleitet. Von hier also fährst du mit dem Soldatentransportzug nach Deutschland, Alexej … In deine Kaserne eines ehemaligen Nazi-Diversionsregiments, vielleicht in Brandenburg/ Havel, wo deine Kameraden beinahe jedes Wochenende über die alten Rollbahnen des Arado-Flugfeldes zu den markigen Klängen des „Abschiedes einer Slawin“ marschierten – das Elektrostahlwerk gab es noch nicht – wo Prügeln zum Frühsport gehörte, wo das System der „Großväterchen“ die Schikanen der NVA-EK-Bewegung noch weit in den Schatten stellte und wo des Öfteren ein junger Schüler der ortsansässigen „Polytechnischen Oberschule mit erweitertem Russischunterricht“ nach erhaltener Senge Kartoffeln oder Rüben schälte, während der Starschina, der um des Jungen Schule wusste, diesen den Technikus rauf runter deklinieren und konjugieren ließ: Stol, Stola, Stolu, Stol, Stolom, Stolje! „Klatsch“ – der Katzenkopf saß: „Jeschtscho ras schestoj Padjesch!“ „O Stolje.“ „Nu, prawilno … molodez! Später: „Kogda Papa schdjot doma?“ Der Junge: „Sjem Tschasow wetschera.“

Noch später, gegen halb sieben: „Geht’s noch allein nach Hause?“ Der Junge:“ Hmmm…“ Der Starschina brummt: „Na gut, wirst wohl noch ein bisschen brauchen, bis aus dir ein richtiger Russe wird.“ Der UAS steht am Kontrollnyi Punkt, dort wartet auch das Fahrrad. Das 24er Mifa glänzt wie eine Speckschwarte, die Kette ist geölt, rostige Stellen geschmirgelt und mit grüner Farbe überstrichen – passt nicht ganz, geht aber … das Rücklicht brennt wieder. Der Soldat, der das Fahrrad auf die Rückbank des UAS packt, stopft dem Jungen ein bisschen Eiskonfekt und ein paar Snatschki in die Tasche, von denen er weiß, dass sie unter den deutschen Jungens wie frei konvertierbare Währung gehandelt werden.

Der Starschina raunzt, dass der Junge das nächste Mal noch eine durchgereicht bekäme, wenn das Rücklicht wieder kaputt sei – ein Fahrrad müsse immer in Ordnung sein – dann geht es ab nach Hause. Mit dem UAS. Deutsche Polizei? Wir lachen nur darüber. Der Alte? „Dresche von den Russen bekommen? - Jar nich jenuch!“ Thema erledigt. Was hatte er auch jenseits des Walls auf dem riesigen Gebiet der russischen Militärfahrschule verloren! Ach ja – die Arado-Rollbahnen, auf denen man so herrlich dahinrasen konnte. Bis beinahe zum See. „Nicht über den Wall!“, warnten die Bauern aus N., „Dort sitzt der Kolja mit der Mandoline.“ Ja, ja red mal! Doch die Bauern hatten recht … Kolja war auch regelmäßig fixer und der Junge, der noch lange kein Kritiker war, wurde samt seinem 24er Mifa für den Rest des Nachmittags gefänglich eingezogen. Kein Hahn krähte danach. Und am nächsten Tage stolzierte der Bursche durch seine Schule mit dem Sowjetstern am Pullover, stolz wie ein Spanier und selbst für die Lehrerschaft von einer merkwürdigen Immunität – den vor den Russen kuschten sie alle. Wer von denen das Jackstück voll bekam, war für den Rest der Welt sakrosankt.

Verstehen Sie, warum der Kritiker nicht seine analysierende Feder ansetzen kann? Der Junge, der sein Taschengeld bei der Mitropa des Altstadt-Bahnhofs in Schokolade umsetzte, die er den Wachsoldaten hinter dem Zaun zusteckte, und der die Zustände in der Roten Arbeiter-und Bauern Armee ganz gut kennt, dessen Herz krampft sich zusammen, wenn vom unzeitigen Tode eines dieser jungen Burschen in der sowjetischen Uniform die Rede ist. Er weiß um das Leid der geliebten Schwester, die einst geschworen hatte, den kleinen Bruder zu beschützen. Auch das kennt der Kritiker aus eigener Anschauung. Zwei Desertionen hat er als entfernter Zeuge miterlebt und beide gingen für die jungen Burschen, die nur nach Hause zu Mama wollten, tragisch aus. Die DVP war beteiligt – aber in einem weiten Zirkel um das Geschehen herum. Um die Deutschen fernzuhalten. Beim Deserteur griffen die Russen selbst zu! Handgranate in den Keller – die Schäden am Eingeweckten wurden später diskret und großzügig reguliert.

Der Autor weiß, dass vieles wahr ist. Ob es die IXer gab? Keine Ahnung. Vom Objekt „Verlorenwasser“ in der Nähe des Mittelpunkts der DDR aber wusste er schon zu DDR-Zeiten. Man machte immer ein Geheimnis darum: „Da hocken die Bonzen und gehen zur Jagd …“, hieß es. Dass die Volkspolizei im Gegensatz zu Erichs Roten Teufeln in Lehnin – die vornehmlich auf die Einnahme Westberlins gedrillt wurden – ebenfalls ihre kleine Skorzeny-Truppe besessen haben soll – davon ahnte der Kritiker bislang allerdings nichts. Erwischt! Realität – Fiktion? Wenn es nicht wahr sein sollte, dann ist die Idee allerdings exzellent. Und wie der Autor die DVP-internen Dialoge wiedergibt. Donnerwetter! Man hört sie regelrecht, während man liest. Ja genau – das waren sie!

Aber das mit den Leuten, die mit den Russen auf private Rechnung Geschäfte machten, davon wusste er auch. Nur dass es niemals einfache Soldaten waren – die kamen bestenfalls einmal im Jahr zum Gruppenausgang vor die Tore der Kaserne, als Auszeichnung für die „Beste Kompanie“ – es waren auch keine Unteroffiziers-Chargen. Das konnten nur die Offiziere. Sonst niemand.

Davon berichtet Herr Sakulowski also. Sehr kenntnisreich … sehr detailliert. Wie gelangt man so lange Zeit danach noch an solche Informationen? Hut ab!

Sehr packend: Ein 360 Seiten starkes Buch, dass der Kritiker in einer Nacht und in einem Rutsch ausliest, das kann per se nicht misslungen sein.

Aber der Kreis derer, die es wirklich verstehen, der wird – wie immer bei brillanten Büchern – eng gefasst bleiben und das andere Ufer der Elbe sicher kaum jemals erreichen. Dafür tut sich in dem Buch zu wenig unter der Gürtellinie, zu wenig Schmalz … eben zu viel literarische Qualität. Damit kommen die da drüben nicht so richtig klar. Der Osten aber hat wieder ein Buch, das eine Empfehlung verlohnt. Eine Empfehlung an all jene, die es zu lesen verstehen – und eben nicht nur das Buch, das sie in Händen halten – sondern eben auch das Buch hinter dem Buch ... die wahre Geschichte eben!

Verlorenwasser
Rolf Sakulowski
Emons Verlag 2023,
ISBN 978-7408-1444-1
367 Seiten
€ 17,-

 
B
13. Volumen

© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012

27.03.2023