Einmal "Finstere Havel" mit Kartoffeln,
Rotkohl und Soße, bitte!
Tim Piepers neuer "Sanftleben" frisch
auf den Tisch
Kotofeij K. Bajun
Sechs Jahre sind ins Land gegangen,
bis es in Tim Piepers Dunkler Havel finster wurde. Aber was soll’s?
Gute Whiskys reifen langsam.
Wissen ‘Se, das ist ja schon mal kein schlechtes Zeichen, wenn ein Kritikus
einen 300 Seiten starken Krimi in einem Rutsch ausliest. Sicher, man
könnte dem Kulturjournalisten bei Missfallen der Lektüre ja auch eine
eiserne Disziplin unterstellen … Aber, seien Sie dessen versichert,
die braucht’s bei dem Pieper Tim gar nicht! Das liest sich so lang weg,
das ist spannend, das zieht einen mit, solides Handwerk eben.
Nein, alles was recht ist, sein Metier beherrscht er, der Autor. Er
tritt nicht als ein Johann Melchior Dinglinger der Krimikunst an, er
setzt uns keinem über- oder außerirdisch anmutenden Kommissar, wie etwa
dem etwas versnobten Hercules Poirot, dem unfehlbaren, scharfsinnigen
und vollkommen selbstbeherrschten Sherlock Holmes oder der die blanke
Unterschätzung provozierenden Miss Marple aus. Keine Arabesken, keine
Rocailles, kein überflüssiger Schnickschnack oder Schmonzes. All das
erspart er uns gnädig. Mit seiner Erzählkunst segelt Herr Pieper hart
an der erlebbaren märkischen Realität. Sein Tino Sanftleben könnte der
Mann sein, der bei Kaufland vor uns an der Kasse steht und wir wüssten
erst um sein Metier, wenn wir ihm selbst als arme Sünder gegenübersäßen.
Und die anderen, die er beschreibt – der Eingeborene vermag wirklich
jedem ein lebendes Vorbild zuzuschreiben. Von wegen … „nicht beabsichtigt“,
„rein zufällig“ … nun gut!
Also solide Hausmannskost. … warten Sie, lassen Sie uns einen Augenblick
in dieser Metapher verweilen! Da war doch dieser Kollege des Herrn Pieper,
der Dr. Tom Wolf. Na, klingelt’s bei Ihnen? Richtig! Die kongenialen,
die so herrlich erfrischenden Preußenkrimis um seinen detektivischen
Zweiten Hofküchenmeister Friedrichs des Großen, Honoré Langustier. Und
so waren dessen Krimis gestrickt – feinste haute cuisine, raffiniert,
deliziös, ach – man gerät ins Schwelgen.
Doch eines Tages hatte Monsieur Langustier unter der Fahne des be.bra-Verlages
genug kriminelles Gesindel zur Strecke gebracht. Sein geistiger Vater
wollte etwas märkisch Bodenständiges anbieten, etwas, was nicht unbedingt
den Nachttisch eines Auguren anvisiert, der durch sein Zwinkern zu verstehen
gibt, dass er die feingeistige Anspielung verstanden habe und sich somit
rechtmäßig zur intellektuellen Avantgarde zählen dürfe. Nein, Herr Wolf
wollte auch mal Krimis schreiben, mit denen auch die märkische Mimi
getrost zu Bett gehen konnte – und siehe, das gastliche Haus emons nahm
sich des literarischen Wanderers an und servierte eine vorzügliche Plundwurst
mit Sauerkraut aus echtem Märkischem Blut. Eine gesunde Heimatbezogenheit
zu fördern zählt also zu den Meriten der emons-Leute.
Wer nun meinte, Hausmannskost par exellance sei ein sublim formulierter
Punktabzug am Werke Herrn Piepers, begäbe sich mit dieser Schlussfolgerung
auf den Holzweg.
Zu viele Hürden im Parcours, die der Kritiker den Autor boshafter Weise
abreiten lässt, hat dieser souverän und bravourös absolviert.
Schauen wir uns die Schlüssigkeit der Handlung an. Schulterklopfen!
Solide und sauber, keine Schwachstellen zu registrieren. Ist es doch
das harte Brot des Kriminalautoren, seinen Leser durch ein Labyrinth
von Indizien und Motiven, Mutmaßungen und Hinweisen zu führen, mal diesen
und mal jenen in den Focus des Verdachts zu rücken und erst am Schluss
den – hoffentlich unerwarteten – Täter zu entlarven. Gar nicht so einfach,
wenn man den Personenkreis überschaubar halten muss, um den Leser nicht
mit einer Vielzahl von Akteuren schwindelig zu machen. Und nebenbei
muss die Spannung am Köcheln gehalten werden. Eben, bis die Überraschungsterrine
mit dem Kopf des Täters darin präsentiert wird.
Jetzt nehmen wir uns den Spannungsbogen vor: eine opake, vielschichtige
und beinahe schon gespenstisch anmutende Einführung – dem Krimifan ist
bereits bei den ersten Zeilen klar, dass jedes auch noch so unbedeutende
Detail im späteren Verlauf an Bedeutung gewinnen wird. Die ersten der
insgesamt vierundsechzig Kapitel sind großzügig gehalten und komprimieren
sich in sich überstürzenden Ereignissen zum Ende hin beinahe logarithmisch.
Technisch blitzsauber! Es werden zwei parallele Zeitstränge bedient,
Präsens und Vergangenheit, die akkurat am Schluss zusammenlaufen – als
Meisterstück würde es die Handwerkskammer in Götz schon durchaus akzeptieren,
auch wenn die das Buch beschließende, obligatorisch versöhnliche Wolke
aus Privatem und Persönlichem des Chefermittlers den Krimi für unseren
Geschmack ein wenig zu romantisch verabschiedet.
Je nun – als Werkstück ist die „Finstere Havel“ gewiss nicht der legendäre
Sekretär aus der Hand David Roentgens, um den die Welt Schloss Köpenick
beneidet. Aber, und das darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden
– solche erlesenen Stücke sind auch nicht für den breiten Markt geschaffen
worden. Da muss etwas Alltagstaugliches her. Und diese Klaviatur bespielt
der Autor mit gehörigem Talent. Mehr wollen wir an dieser Stelle auch
gar nicht, denn permanente Virtuosität ermüdet und verführt irgendwann
beinahe zwangsläufig zur Extravaganz. Schaudernd wabert in uns die Erinnerung
an die musikalische Hölle des Zwölfton-Kakophonisten Igors „des Schrecklichen“
Strawinsky empor … Heilige Tim und Tom, bewahret uns! Sie bewahren uns.
Jetzt tauchen wir mal ein ins Geschehen: Was besticht, ist die schon
rauschhafte Detailverliebtheit des Erzählers in jeder Hinsicht. Sei
es, wenn er die Landschaft beschreibt, sei es, wenn er sich der menschlichen
Interaktion zuwendet. Das hat was von einem Iwan Schischkin der Kriminalliteratur.
Jetzt nicht gleich erröten, lieber Herr Pieper – der Schischkin ist
der strahlende Fixstern am Himmel und Ihr Kritiker bringt damit zum
Ausdruck, dass Sie Ihren Sextanten schon ganz formidabel auf dessen
Kurs ausgerichtet haben. Auch dafür gibt es Applaus!
Die Beschreibung der Charaktere verliert in keiner Zeile und zu keiner
Zeit die Bodenhaftung, kommt natürlich und ungezwungen einher, wirkt
nirgends gekünstelt oder realitätsfern. Herrn Pieper gelingt es tatsächlich,
mit seinem Buche das innere Kino des Lesers anzuwerfen und einen abendfüllenden
Krimi auf die Leinwand zu zaubern. Man hat das Gefühl, man sei unsichtbar,
aber hautnah dabei. Da ist viel und profunde Sachkenntnis im Spiel,
viel unaufdringliche und echte Empathie mit seinen Protagonisten, vor
allem mit den Opfern der menschlichen Niedertracht: junge Frau mit einem
kaleidoskopartigen Profil, junge Ehefrau und Mutter, sympathischer Versicherungsagent
und verwaister kleiner Junge mit rosa Plüschschweinchen – man muss schon
hartgesotten sein, um da keine Träne zuzulassen. Opfer, die auch Täter;
Täter, die auch Opfer sind - ein gelungener Abschied von der Schwarz-Weiß-Malerei
eines überkommenen Edgar Wallace" ... Resümierend also eine feinfühlige,
psychologisch und soziodynamisch geschulte Feder, welche bei Lesern
mit entsprechender Sensibilität nicht vergebens ans Türchen der emotionalen
Kammer klopft. Als Pathologe in der Sektionskammer für menschliche Seelen
und Gemütszustände macht Herr Pieper fürwahr eine gute Figur, auch wenn
er das ein oder andere Mal dem Klischeehaften gefährlich nahekommt.
An diesen Stellen arbeitete Schischkin mit dem feineren Pinsel.
Zu loben ist auch die Reminiszenz an die Authentizität, wenngleich zart
besaitete Naturen davor zurückschrecken dürften. Beschreibt Herr Pieper
den Zustand einer Wasserleiche, so sehen wir die Abbildungen und Erklärungen
aus Otto Prokops legendärer „Forensischen Medizin“ vor uns. Das Standardwerk
für jeden braven Studiosus der Medizin heutzutage sowohl Pflichtlektüre
als auch Regalgold und kann als Neuauflage schon mal mit stolzen € 1.400,-
ins Kontor schlagen. Doch – das ist zu konstatieren – für die „Finstere
Havel“ hat sich die Investition ganz offensichtlich bezahlt gemacht.
Als Letztes halten wir nun noch die Lupe über die sprachliche Gestaltung.
Wenn Sie den Text des Kritikers für langatmig und kompliziert halten,
dann geht der Punkt an Sie! Alles Absicht: Einem guten Autoren sollte
eine Besprechung nie versuchen den Rang abzulaufen. Ihr Anliegen ist
es, die Qualität des Vorgelegten herauszustellen und die äußert sich
in Herrn Piepers Kontrastprogramm in kurzen und prägnanten Hauptsätzen,
einem übersichtlichen und eingängigen Erzählstil, leichter Kost bei
hohem Anspruch eben. Und das alles zusammengenommen macht ein veritables
märkisches Krimimenü aus, das seinen Michelin-Stern verdient hat.
Sprich über alles – nur nicht über fünfundvierzig Minuten, lehrte uns
unser Schutzpatron Sankt Tucholsky.
Also kommen wir zum Schluss und damit zu unserer Empfehlung:
Wenn Sie dem entzückenden, die Seele streichelnden Reich von Mütterchen
Havel zugetan sind und auch einen guten Krimi nicht verschmähen, dann
legen wir Ihnen ans Herz: Kehr’n Se ein in das Gasthaus emons, wenn
Herr Piper am Herd steht – hier gibt’s einen guten Hackbraten mit goldgelben
Wittbrietzener Kartoffeln, duftender brauner Mehl-Soße und einer Portion
Rotkohl! Nichts überwürzt, nichts exotisch, nichts zu dick aufgetragen,
nichts schwer verdaulich. Und trinken Sie die Pinte süffigen märkischen
Landbiers dazu aus einem rustikalen, irdenen Walzenkrug! Und vergraben
Sie die Zehenspitzen dabei so ein bisschen im märkischen Sand oder lassen
Sie sie von Havelwasser umspülen! Und dann wer’n Se seh’n: Man kommt
auch ganz modest ohne Poirots Trüffel, uraltem Bordeaux aus böhmischen
Waldgläsern und die Pfeife von Mr. Holmes aus - und ist doch rundherum
glücklich und zufrieden.
Finstere Havel
Kriminalroman
Tom Pieper
Emons Verlag GmbH
300 Seiten
ISBN 978-3.7408-1141-9
€ 13,-