Käuzchenkuhle
        Späte Würdigung eines DDR-Kinderbuchklassikers 
         Kotofeij K. Bajun. Havelsee. 
          Vom nahen Kirchhof des kleinen 
          Havelstädtchens her klingt der schaurige Ruf des Waldkäuzchens. Der 
          Mond bricht nur ab und an durch die unter dem Nachthimmel dahintreibenden 
          Wolken und beleuchtet die fahle Landschaft. Vom Turm der Kirche her 
          schlägt die Glocke elfmal. Doch sie übertönt das Käuzchen nur kurz. 
          Ein großer Hund kläfft wummernd in die Nacht und verharrt dann. Es bekommt 
          keine Antwort. Alles schweigt. Bleiern und träge wälzt sich der Fluss 
          am Städtchen vorbei nach Norden. Auf den Wiesen gegenüber erheben sich 
          seidenweiche Nebelbänke …
        
          Wir können’s anstellen, wie wir wollen – an Horst Beselers schriftmalerische 
          Wortgewalt kommen wir nicht heran. Nicht mal annähernd. Das Werk, mit 
          dem dieser Autor im Jahre 1965 den ostdeutschen Kinderbuchmarkt bereicherte, 
          zählt unbestreitbar zu den Klassikern der DDR-Kinderbuchliteratur. … 
          und die war mit Krachern gesegnet! Man denke an Reimar Gilsenbachs legendären 
          „Ewigen Sindbad“, an „Ede und Unku“, an „Tambari“ und die „Reise nach 
          Sundevit“. Die Reihe ließe sich problemlos fortsetzen.
        
          Was nun aber das Genre Kinderroman oder besser – Kinderkrimi – anlangt, 
          da rangiert Beselers „Käuzchenkuhle“ mit Sicherheit auf Rang eins, mit 
          mehreren Längen Abstand zu den anderen, durchaus nicht zu verachtenden 
          Ergüssen beispielsweise der Herren Willy Meinck oder Benno Pludra.
        
          Hat es aber einen Sinn, ein Buch noch sechsundfünfzig Jahre nach seinem 
          Erscheinen zu besprechen? Nun – vielleicht mehr denn je. Nur wenigen 
          der gegenwärtigen Zeitgenossen ist dieser für DDR-Kinder so vertraute 
          Titel noch in Erinnerung und diese wenigen sind nun meist auch bereits 
          grauhaarig und tatterig.
        
          Besser, weitaus besser ergeht es da schon Otfried Preußlers „Krabat“, 
          dem westdeutschen Klassiker, der durch Marco Kreuzpaintners exzellente 
          Verfilmung von 2006 nachgerade geadelt wurde.
        
          Wir wagen die Behauptung, dass Herrn Beselers Kinderbuch in derselben 
          Liga spielt, wenn es auch psychologisch nicht so feingeschliffen auftritt, 
          wie der Krabat. Beseler legt die Handlung mehr in die Hände klischeehafter 
          Charaktere – der „Juniorprofessor“, der Praktiker, der wuselige Knirps, 
          der die physische Unzulänglichkeit mit einer altklug einher kommenden 
          Diensteifrigkeit zu überspielen sucht, die junge, zauberhafte Studierte, 
          der böse Wirt, der gestrauchelte und später bekehrte Säufer, der gerechte 
          Bürgermeister und die stets helfende, weise Staatsmacht, der alte, noch 
          dem klerikalen Aberglauben verhaftete, einzelgängerische Großvater, 
          der aber ansonsten eine ehrliche Haut ist, die treusorgende, liebende 
          und verständnisvolle Großmutter, die Karriereeltern, der uneigennützige 
          Lehrer und der abgrundtief böse Strolch von der SS.
        
          Ganz so schlimm, wie wir es an dieser Stelle überzeichnen, ist es sicherlich 
          nicht. In allen Psychogrammen lässt Beseler auch immer einen guten Zug 
          zu, oder zumindest einen Erklärenden, Verstehen wollenden. Das macht 
          ihn sympathisch, sogar glaubwürdig. Beseler arbeitet nicht schwarz-weiß, 
          wie es die Verfilmung seines Werkes aus dem Jahre 1969 ist – Beseler 
          schattiert ausgewogen und maßvoll.
        
          Die überwältigenden Schilderungen des menschlichen Miteinanders und 
          der Natur um das fiktive und doch so wirklichkeitsgetreue Dörfchen Wolfsruh 
          und seinen Mummelsee mit der angrenzenden Käuzchenkuhle reißt denjenigen, 
          der das alles noch so aus eigenem Erleben kennt, unbezwingbar in die 
          Handlung hinein. Hier stimmt einfach alles! Vor allem aber verrät jede 
          dieser Exkursionen in diese verzaubernde märkische Landschaft eine tiefe, 
          den heutigen Stadtmenschen und nachgeborenen Dörflergenerationen abhandengekommene 
          Kenntnis der Natur.
        
          Seine Liebe zu dieser Natur spricht aus jedem Absatz. Beseler bettet 
          seine Handlung in diese grandiose sommerliche Naturkulisse ein. Es begegnen 
          uns nur zu wenig Mücken, Dasen und Zecken, diese Stechfliegenkreaturen 
          der Hölle, die jedes sommerliche Idyll zunichte machen. Aber die begegnen 
          uns in „Rheinsberg – ein Tagebuch für Verliebte“ unseres geistigen Vaters 
          Dr. Kurt Tucholsky auch nicht. Und wenn der nicht … Also gut, schlucken 
          wir’s runter.
        
          Diese Landschaft, diese Menschen gibt es so nicht mehr. Mag sein, dass 
          die märkischen Seen noch in ihre Auen und Wiesen eingebettet liegen. 
          Nun aber sind sie umbaut von Ressorts, Promenaden, Marinas, Hotels und 
          Pensionen. Trotz aller plakativ brüllenden und um Touristenaufmerksamkeit 
          buhlenden Gastfreundschaft sind alle Tore und Türen des Dorfes permanent 
          abgeschlossen, das Leben auf den dörflichen Straßen ist versiegt – die 
          Alten sitzen nicht mehr schwatzend auf ihren Holzbänken vor dem Zaun 
          oder unter der Laube vor der Eingangstür, die Höfe, die das Dorf einst 
          weit und ausladendend machten, sind dem Blick entzogen und vergeblich 
          hecheln die Touristen und die Bootsbesitzer aus Potsdam und Berlin, 
          deren Bayliner an den Stegen der Marina schaukeln jenem Idyll nach, 
          welches Beseler beschrieb und welches den Damaligen kein Traum sondern 
          Lebenswirklichkeit gewesen ist. Was einem fehlt, merkt man doch alleweil 
          erst dann, wenn man es verloren hat.
        
          Wie Beseler die Figuren zeichnet, so ganz ohne zu schwafeln, überkandidelten 
          Sermon zu servieren, wie er die Dramaturgie des 360 Seiten starken Taschenbuchs 
          aufbaut, das hat die „Käuzchenkuhle“ sicherlich ganz zu Recht zu einem 
          Buch gemacht, dessen Titel jeder DDR-Pimpf, der intellektuell nicht 
          völlig auf verlorenem Posten stand, aus dem Effeff kannte.
        
          Die Käuzchenkuhle war für die Jungens um die vierzehn sicherlich das, 
          was der erste Teil des „Werner Holt“ für ihre vier Jahre älteren Zeitgenossen 
          bedeutete.
        
          Ein weiteres dickes Lob gebührt dem Autoren: In der kältesten Epoche 
          des kalten Krieges, die Mauer war seit gerade mal vier Jahren geschlossen, 
          verzichtete er in einem perplex machenden Maße auf ideologisierendes 
          Brimborium, dass es an ein Wunder grenzt, wie es die Zensur der Betonkommunisten 
          passieren konnte. Beseler erwähnt sogar das Ministerium für Staatssicherheit 
          (MfS), das jeder kannte aber niemand beim Namen nannte. Damit brach 
          er ein ungeschriebenes Tabu der DDR-Literatur. Verbrecher – auch alte 
          Nazis wurden von der Polizei zur Strecke gebracht – so denn auch in 
          der Käuzchenkuhle. Jedem gedienten DDR-Bürger aber ist sonnenklar, dass 
          das MfS gerade in Sachen Beteiligung aus dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, 
          NSW“ nicht nur involviert gewesen wäre, sondern mit Sicherheit allein 
          gehandelt und sich die Mitwirkung selbst der Kriminalpolizei verbeten 
          hätte. Doch sei’s drum! Beseler zitiert den Kraken „Schwert und Schild 
          der Partei“ zumindest – und das ist schon ein starkes Stück für die 
          damaligen Verhältnisse.
        
          Natürlich ist dieser Jungensroman ein einziges großes Ferienabenteuer, 
          in dem es gehörig zur Sache geht. Das sind keine harmlosen Streiche 
          wie bei Ehm Welks „Heiden von Kummerow“. Man lese ihn und vergleiche 
          das Ganze mit dem Aufwachsen Gleichaltriger im heutigen Deutschland. 
          Diese Jungens sind keine blutleeren, armseligen Mobber und Computerspiel-Zocker, 
          Frühkarrieristen und Dummschwätzer. Sie bewegen sich nicht auf entgrateten, 
          abgepolsterten und weichgespülten, von einer helikopterhaft-grün-wohlmeinenden 
          und behütenden Erwachsenwelt vormanipulierten und konsumorientieren 
          Pfaden. Sie sind kernig, drahtig, zäh und helle. Zupackende Bengels. 
          
         
          Gewiss, auch ein Beseler entkommt den zeittypischen Klischees nicht 
          so recht. Zwar lässt er die LPG-Ingenieurin als taffe junge Frau auftreten, 
          die sich nicht scheut, einem in Selbstmitleid versoffenen Krüppel die 
          Wacht am Rhein anzusagen, aber das Mädchen Linde, die einzige Gefährtin 
          der vier Burschen, ist doch während der Handlung mehr oder weniger außen 
          vor und das ungeschickte Puttelchen, dem man nichts anvertraut und die 
          es aus dieser Unkenntnis heraus am Ende noch beinahe katastrophal vermasselt.
        
          Apropos Rhein – auch das Problem der „Abstimmung mit den Füßen“, während 
          welcher drei Millionen Menschen die Sowjetzone in Richtung bundesrepublikanischer 
          Freiheit verließen, drückt Beseler nicht in den Skat. Besagter Suff-Krüppel 
          war so einer, den es an den Rhein zog, der dort auch in der Tat mehr 
          und besser verdiente, für den aber nach seinem Arbeitsunfall keine Berufsgenossenschaft 
          einspringen wollte – nanu? Der böse, mitleidlose Kapitalismus eben. 
          So ganz ohne ideologische Katzbuckelei wollten oder konnten die Genossen 
          Zensoren diese Frei- und Frechheiten wohl doch nicht passieren lassen. 
          
         
          Also zog es die Figur des gescheiterten und verkrüppelten Abtrünnigen 
          reumütig zurück in den alleinseligmachenden Schoß der besseren, sozialistischen 
          Aufbaugesellschaft, wo er sich erstmal die Birne zuballern musste, ehe 
          er auf den Pfad der sozialistischen Tugend zurückfand. Bla bla bla … 
          Wir kennen das – das war damals nun mal obligatorisch.
        
          Was aber im Gegenzug imponiert, ist, wie unverhohlen Beseler in seinem 
          Buch die Materialknappheit ansprach, unter der die gebeutelte DDR seit 
          der Stunde ihrer Geburt dauerlitt. Wie er die Tauschgeschäfte anspricht 
          – ein acht-Zentner-Stahlträger für den Schulneubau nur bei Abgabe der 
          doppelten Menge an Schrott, wie der Lehrer den Klempnermeister – den 
          Beseler linientreu als raffgierigen, antreibenden Kleinkapitalisten 
          beschreibt – vom eigenen Ersparten bezahlen muss, damit das Werk noch 
          vor den einsetzenden Herbstunwettern geschützt wird. Das hat schon etwas 
          von der Rebellion in der „Spur der Steine“. … und landete doch nicht 
          auf dem Index, sondern wurde vier Jahre später sogar verfilmt.
        
          Der kleine Nachwuchsingenieur „Schraube“ bastelt an einer Vorkriegs-Zündapp. 
          Das mag heute niemandem mehr auffallen. In der Welt der Kommunisten, 
          die alles geflissentlich zu ignorieren pflegte, was vor oder neben ihnen 
          geschah, mutet auch das wie ein Wunder an, dass es sich bei dem Objekt 
          der Begierde des jungen „Schraube“ nicht um einen „Hühnerschreck“ SR2 
          handelte, sondern eben um eine Zündapp.
        
          Beseler lässt die Alten von „den Russen“ reden und nicht von den ruhmreichen 
          Soldaten der Sowjetarmee, die sie zweifelsohne in der Mehrzahl waren, 
          aber von der Bevölkerung nichtsdestotrotz kaum jemals so genannt wurden. 
          Mit einem Wort – Beseler schöpfte aus der Realität und nicht aus dem 
          Gebräu der pseudoroten Ideologen um Kutte Hager.
        
          Wer also daran interessiert ist, wie es auf dem platten Lande der DDR 
          in den Sechzigern wirklich und wahrhaftig zuging – dem sei die „Käuzchenkuhle“ 
          wärmstens empfohlen. Dankenswerterweise hat sie der Eulenspiegel-Kinderbuchverlag 
          2020 in einer sechsten 
          Auflage wieder zur Verfügung gestellt.
        
          Die ISBN 978-3-359-01472-0 
          führt bei einem Einsatz von € 12,90 sicher zu einer spannungsgeladenen 
          und authentischen Lektüre, die den alten Zauseln, die da Zeitgenossen 
          des Helden Jampoll sind, sogar die ein oder andere Träne der Wehmut 
          ins Auge zaubert.
        
          Der Preußische Landbote empfiehlt das Buch und verspricht allen, die 
          es letztmalig als Kinder lasen, völlig neue Aspekte und Kulissen, die 
          sich erst dem gereiften Leser erschließen. Auch diese Vielschichtigkeit 
          ist ein untrügliches Qualitätsmerkmal von Horst Beselers großartigem 
          Beitrag zur DDR-Kinderbuchgeschichte.