Voller Saal und alte Häuser
Ein legendärer Stadtarchäologe geht von Bord
Kotofeij K. Bajun. Brandenburg
an der Havel. So krachend
voll war der Saal des archäologischen Landesmuseums in Brandenburg an
der Havel sicher noch nie gewesen. Dr. Joachim Müller hielt am 05. Februar
2025 einen Vortrag über prominente Bürgerhäuser der Chur-und Hauptstadt,
welcher den Brandenburgern noch lange in Erinnerung bleiben wird. Vielleicht
nicht solange wie das einstige, legendäre Loch auf dem Markt – dafür
aber in weitaus positiverer Konnotation. Die letzten Stuhlreserven mussten
mobilisiert werden und die auf den letzten Drücker kamen, fanden sich
in der ersten Reihe wieder, weil hinten wirklich nichts mehr ging. Dieser
Saal des Pauliklosters verwandelte sich in eine Sardinenbüchse.
Der Landbote musste
gar befürchten, die Redaktionskutsche erst in Schmerzke abstellen zu
können und dann den Fußmarsch von einer Meile entsprechend 7,5 km auf
sich nehmen zu müssen, um zu Müllers Referat zu gelangen. Doch am Temnitz
fand sich noch etwas und das gefürchtete Brandenburger Ordnungsamt hatte
wohl zur späten Stunde auch schon die Zipfelmütze über seine Ohren gezogen.
Nun mag die Frage aufkommen: Woran lag’s? Das Sujet? Der Rhetor? Die
Antwort – rein empirisch gegeben, muss wohl lauten: An beidem! Wobei
die Tendenz ganz klar zu Gunsten des Vortragenden ausschlägt.
Archäologie ist ja sonst nicht als das Fach verschrien, welches die
Leute den Fußball vergessen lässt. Müller jedoch ist eine Koryphäe in
der Mark, an der man einfach nicht vorbeikommt. Der kam nach Brandenburg
an der Havel, als dem Allmächtigen Vater Israels auffiel, dass die Stadt
Brandenburg hinsichtlich ihrer personellen Ausstattung extrem vernachlässigt
worden war – und wenn Du einen schwachen Schellen mit drei Luschen retten
willst, dann schick wenigstens den Eichel-Unter in den Skat.
Und da war er: Der Eichel-Unter der Archäologie! Wer den kann, betrügt!
Doch auch hier bewies der oberste Personalchef im Himmel seinen trockenen
Humor: Einen begnadeten Kunstgeschichtler ließ ER Stadtarchäologe werden
– und was für einen! Den Archäologen aber berief ER in das Amt des Direktors
des Stadtmuseums und ließ ihn dort im Sisyphos-Kampf mit der ihn hassenden
Stadtverwaltung verschleißen.
Müller aber war nicht nur für die buddelnde Zunft der Sechser mit Zusatzzahl.
Nicht nur, dass er einen begnadeten Vertreter seines Fachs abgab, der
es zudem verstand, die Leute mit seinen packenden, hochintelligenten,
sachkundigen und mit einmaligem Humor – der noch trockener war, als
der des vorgenannten Weltenschöpfers – in die Materie zu ziehen, sie
zu begeistern, sie für die Geschichte ihres Gemeinwesens zu interessieren.
Eine Stadt ist kein statisches Etwas. Sie ist vom Augenblick ihrer Gründung
an ein hochdynamisches, organisches, lebendiges Gebilde, ständiger Änderung
unterworfen. Man würde sich wundern, ließe sich die Wells`sche Zeitmaschine
benutzen, wie es aussähe, würde man mit ihr mitten auf dem Neustädtischen
oder Altstädtischen Markte stehen und in der Zeit um einige Jahrhunderte
zurückreisen.
Sicher, man könnte sich orientieren. In der Neustadt stünde die Katharinenkirche,
das Rathaus wäre noch da – und das Abts-, Storbeck’sche- oder Kurfürstenhaus
und das Riedel`sche wären auch noch intakt. … das Riedel`sche, aus dessen
Sippe mütterlicherseits der Mölders stammte, der so gut fliegen konnte,
aber am Ende waren die anderen hartnäckiger und Mamas Butze kaputt.
In der Altstadt gäben das Rathaus und das Ordonnanzhaus Halt und der
Plauer Torturm, hinter dem es jedoch sehr schnell öde würde. Von oben,
vom Harlunger Berge grüßte noch die herrlichste Kirche nördlich der
Alpen – das griechische Kreuz der Marienkirche des Bischofs Gernand.
Das Gotische Haus protzte noch mit prächtigem Giebel zur leidigen Konkurrenz
ans andere Havelufer hinüber, vergessen machend, dass die da drüben
die stinkreichen Bettler von den Hunden des Herrn beherbergen dürfen,
während man selbst nur die zweite, die zisterziensiche Garnitur nebenan
in dem zunehmend verfallenden Johanniskloster seelsorgerisch in Anspruch
nehmen kann.
Die Stadt hat herbe Verluste hinnehmen müssen, und was der Krieg nicht
geschafft hat, das erledigten die Kommunisten. Die hatten große Pläne,
aber Gott sei Dank kein Geld, um sie alle umzusetzen. Um das wertvolle
Alte jedoch zu erhalten, fehlte ihnen auch die Barschaft. So viele eigene
Großmütter oder politische Häftlinge gab es gar nicht in der größten
DDR der ganzen Welt, dass man sie alle hätte gegen Westgeld verticken
können – und wer weiß, ob der Westen die alle hätte haben wollen.
So war’s dann wie im Krieg: Kurz vor umme fiel noch wertvolle Bausubstanz
der Dummheit und der Armut zum Opfer. Nur auf dem Berge ließ sich SED-Pannhausen
seinen Wahnsinn noch etwas kosten. In der Altstadt fiel unter anderem
das wuchtige Haus, an dessen Stelle jetzt das Sorat-Hotel steht. Hübnern
kannte es noch. Aber was achtet schon ein zehnjähriger Gagarinschüler
auf dem Weg zur Russischschule auf ein steinernes Aschenputtel neben
seinem Schulweg! Sorat ist übrigens persisch und heißt „Mais“ und es
ist ja bekannt, wann sich der Bauer für Mais entscheidet. Wenn sein
Boden nämlich so ausgelaugt ist, dass sonst nicht mal mehr Unkraut wachsen
will. Mais tut’s dennoch und ernährt so nebenbei die halbe Welt. Na
ja ...
Zurück zu dem nun pensionierten Stadtarchäologen, der zwar kein Sohn
der Chur- und Hauptstadt ist und seinerzeit seine Dissertation über
elsässische Kirchenbauten abfasste – der aber in seinen Brandenburger
Jahren zu einem solch intimen Kenner der Stadt wurde, dass man schwerlich
eine Handvoll Leute zusammenbekommt, die ihm in diesem Metier noch über
wären. Wie gesagt, der Eichel-Unter … drüber geht nicht.
Doch jede Ära geht einmal zuende. Und zwei Grand-Hand hintereinander
sind selten. Damit also in Brandenburg an der Havel niemand zu übermütig
wird, beruft der Herr den Müller Joachim aus seinem Amte in den Ruhestand
ab, lässt den Altstadt Bahnhof warm sanieren, sämtliche wichtige Brandenburger
Brücken zu buchstäblichen Wackelkandidaten zerbröseln, das Bergschmidt-
und das Quitzowhaus unsaniert vor sich hin gammeln und den Stadtentwickler
nicht wissen, wie viel Tonnage der Stadthafen jährlich umschlägt.
Dann wird schmetternd ein Null angesagt, und da muss der Eichel-Unter
ins Glied zurücktreten, zwischen Zicke und Ober und aus ist es mit der
Herrlichkeit. Beim Null gewinnt Lusch-Sieben!
Na ja, nicht jammern. Uns bleiben ja noch die schönen Erinnerungen,
die Fotos und die Hoffnung, dass die Wells’sche Zeitmaschine doch mal
von den Physikern gebaut wird. Dann steigen wir ein und genießen all
die Müller’schen Vorträge noch mal, besehen uns mit ihm die Brandenburger
Kelleranlagen aus der Zeit der Gründung der Stadt, und das Kurfürstenhaus
und dat Buurmeesterhuus von Karpzown un sin Fruu Cathreineken und den
Söhnen, von denen einer ins Haus Oranien einheiratet und ein anderer
als Spitezn-Jurist die Hexenprozesse apologiert, noch mit dem prächtigen
Portal zur Steinstraße und nicht wie heute verloren am Bischoffshof
zum Kreisgarten hin.
Einstweilen köpfen wir den 57er Schampus aus Reims und singen vor dem
Porträt des Dr. Joachim Müller „Davon geht die Welt nicht unter …“ Die
Stimme nicht halb so rauchig wie bei Leanders Zahra, mehr brüchig und
kratzend, dafür eine Träne im Auge, nur allzugut wissend, dass sie davon
sehr wohl untergeht.
Zumindestens in Brandenburg an der Havel, einer Tripolis, die um ihrer
selbst Willen nichts anderes verdient hätte als Erste Garnitur – also
Leute wir Müllern – und davon immer nur viel zu wenige und viel zu selten
abbekam.