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Rapunzels überlanger Zopf Kotofeij K. Bajun Unwillkürlich assoziiere ich diese Episode, wenn ich mich dabei mache, das neben mir liegenden Büchlein zu besprechen. Das Sujet schrie regelrecht nach einer fachkundigen Bearbeitung und – Eugen Drewermann nahm sich der Aufgabe an. Es geht um die Ausdeutung der Symbolik der Märchen. Kein Zweifel – Herr Drewermann ist genau der richtige Mann dafür. Geballte Kompetenz leuchtet uns aus den Buchstaben entgegen. Schon im Vorwort zieht der Autor alle Register und trifft Wort für Wort ins Schwarze. Jawohl, die Märchen sind in ihrem Ursprung hochverdichtete Kondensate menschlicher Erfahrungen, Abbildungen der komplizierten Soziodynamik, aufgeladen und in eine präsentable, gut verdauliche Form gegossen durch eine zielsichere Symbolik, die jedoch einer kundigen Lesung bedarf, will sie zur Gänze verstanden werden. Die Situation ist vergleichbar mit der "Vor-Champollionischen" Zeit. Die Hieroglyphen waren den Ägyptenbesuchern eine Aneinanderreihung schöner Bildchen: Schilfrohre, Falken, wandernde Füße, Sonnenscheiben und dergleichen mehr. Das war alles ganz schön und gut, man ahnte wohl, dass dort ein Vielfaches an Information verborgen sein müsse – aber welche, das blieb rätselhaft. Ähnlich verhielt es sich mit der christlichen Symbolik, die sich in den Kunstwerken des europäischen Mittelalters so umfangreich findet. Sie adressierte vor allem an die zahlreichen Analphabeten, die jedoch mit der symbolischen Bedeutung der Gesten, Blumen und dergleichen vertraut waren. Heute können viele Leute lesen, und diese Kunst machte das Verstehen einer Symbolik überflüssig. Hätten wir keinen Wilhelm Fraenger, wir wüssten die tiefgründigen Aussagen der genialen Bilder eines Hieronymus Bosch kaum in ihrem enormen erzählerischen Kosmos zu erfassen. Sie blieben schön in ihrer Gestaltung, aber rätselhaft in ihrer Aussage. Sie gähnen? Sie fragen sich, wohin die ganzen Abschweifungen führen sollen? Na wunderbar! Das spart mir mindestens vier DIN-A-4-Seiten langatmiger Erklärungen. Ich bin in medias res meiner Kritik an Herrn Drewermanns ansonsten hochgepriesenem Buche "Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter". Wer Herr Drewermann ist, das ist dem deutschen Bildungsbürger hinlänglich bekannt. Das bedeutet, ich sehe Herrn Drewermann nicht in der Zwangslage, seine fachliche Autorität permanent mit endlosen Zitaten aus dem indianischen oder altägyptischen Kulturkreis zu untermauern. Wenn ich jemandem die Natur eines Quadrates zu erklären suche, dann sage ich ihm, dass eine Linie dreimal gleichsinnig die Richtung um 90° ändert, nachdem sie jedes mal die Länge ihrer Ursprungsgeraden erreicht hat. Erreicht diese Linie ihren Ausgangspunkt wieder, dann ist das Quadrat fertig. Dazu brauche ich keinen Aristoteles, keinen Thales von Milet, keinen Imhotep – ewige Ehre Seinem Andenken – und keinen Archimedes. Ich beschreibe einen Fakt präzise und fertig! Alle Zitate der Alten bewirken im christlichen Abendland nämlich nur das Eine: Sie wecken Misstrauen, weil nämlich die tonangebende Kirche genau auf diese Art und Weise über Jahrhunderte hinweg ihren kruden „theologischen“ Mist zum Dogma erhoben hat. Sei es die Erschaffung der Welt oder die Teilung des Roten Meeres, sei es die virginale Geburt, sei es die Wiederauferstehung und was sonst noch so an Spukgeschichten durch die Heilige Schrift wabert, all das wurde mit Zitaten untermauert, die von irgendwelchen spinnerten Alten stammten und in ihrer Realitätsbezogenheit nichts durch ihr Alter gewannen. Nota bene, wir sprechen Herrn Drewermann absolut davon frei, verwirrte Greise zu beschwören. Was er an Zitaten anbringt, das hat Hand und Fuß und entbehrt keine erprobte Weisheit. Es ist eben nur überflüssig und erzeugt lästige Redundanzen, die eher geeignet sind, über den Weg der Ermüdung den Leser von der kristallinen Essenz der Schlussfolgerungen Herrn Drewermanns wegzuführen, statt zu ihnen hin. Ein weiterer Kritikpunkt besteht daran, dass dem Rezensenten an mehren Stellen der Lektüre der Ausruf entfuhr: „Eugen, nu tritt mal 'n bissken auf die Bremse!“ Manchmal ist weniger einfach mehr. Dass die Alten sehr wohl in der Lage waren, ihre Erfahrungen in eine griffige Symbolik zu verpacken, ist unbestritten. Kaum glaubhaft jedoch ist, dass sie sich in großen Konzilien zusammensetzten und an jedem Worte und an jeder Satzkonstruktion feilten, um ja die implizierte Bedeutung perfekt zu verpacken, damit Herr Drewermann sie dann Jahrhunderte später Stück um Stück wieder entschlüsseln konnte. Genau dieses Eindrucks aber kann man sich bei der Lektüre kaum erwehren. Hätte sich also der namhafte Theologe und Psychoanalytiker an die Aufforderung gehalten, die an den ostdeutschen Telefonzellen omnipräsent war: „Fasse Dich kurz!“ - ihm wäre mutmaßlich eine Art Relativitätstheorie der tiefenpsychologischen Deutung des deutsch-französischen Märchenschatzes gelungen. Insofern ist schlecht vorstellbar, dass Herr Drewermann, bezogen auf die eingangs erwähnte Anekdote, mit Fug und Recht wie Mozart repliziert hätte. Nichtsdestoweniger liegt dem Preußischen Landboten ein Buch aus dem Hause des dtv-Verlages vor, das eine sehr, sehr herzenswarme Empfehlung verdient. "Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter" leistet unglaublich viel für die Aufwertung des auf uns überkommenen Märchenschatzes, weit über die leider zu konstatierende Tendenz hinaus, Märchen zu abstrusen Geschichten für kleine Kinder herabzuwürdigen. Das verdient nicht nur ein gerüttelt Maß an Anerkennung, das verdient vor allem eine breite Leserschaft. Eugen Drewermann |
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012
01.01.2017