Udo und die D…DDR
Herrn Lindenberg zum 75.
Jules-Francois S. Lemarcou
Havelsee. Vierzig Jahre wurde er
alt – der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden.
Die „Nachtigall“ wird am 17. Mai 2021 Fünfundsiebzig! Ein klarer Sieg
nach Punkten. Heute bedarf es keines Sonderzugs mehr, um nach Pankow
zu fahren. Kein verstockter Schrat muss ihm mehr die Erlaubnis erteilen,
eine Rock’n’Roll-Arena in Jena zu füllen. Und das hätte der Barde noch
immer drauf. Übrigens – mit „Nachtigallen“ hatte die DDR ja immer so
ihre Probleme. Die Nachtigall von Wittenberg war ihr ja auch zutiefst
suspekt gewesen. Es ist wie immer: Rebellion und Zivilcourage sind immer
nur dann gefragt, wenn sie diejenigen unterstützen, welche zur Macht
streben und die Wahrheit für sich gepachtet zu haben glauben.
Das war schon eine interessante Sache – das latente Spannungsfeld zwischen
Udo und der DDR.
Dass eine Zuarbeit des Ministeriums für Staatsicherheit Lindenberg als
„mittelmäßigen Schlagersänger aus der BRD“ bezeichnete, war nicht nur
inhaltlich völliger Schwachsinn – Udo hatte seinen Lebtag mit Schlagern
nichts an seinem Markenzeichen-Hut – er war niemals mittelmäßig. Er
war genial! Immer und jederzeit.
Ein Virtuose auf der Klaviatur der deutschen Sprache, deren Finessen
er bespielte wie Paganini seine Geige. Ein Mann des Wortwitzes, der
treffenden Metaphern, ein Meister darin, die Dinge kurz, knackig und
griffig auf den Punkt zu bringen.
Den helleren Köpfen unter den DDR-Funktionären muss exakt das panische
Angst gemacht haben. Denn das Urteil der Stasi sagte mehr über sie selbst
aus als über Lindenberg. Die Mittelmäßigkeit, die Beschränktheit – das
traf sie an ihre hohlen Birnen wie ein Bumerang.
Aber sie wussten auch aus ihrer paranoiden Spitzeltätigkeit, dass die
DDR-Jugend für Udo ein einziger ungeheurer Resonanzboden war. Die rebellische,
die nonkonforme, die aufbegehrende Jugend, die sich gegen den kleinbürgerlich-spießigen,
den verkrusteten Mief der ergrauten Revolutionäre von einst auf ihre
Weise zur Wehr setzte, liebte Udo – mehr als er im Westen je geliebt
werden konnte. Denn verstanden – richtig verstanden, in all seiner Genialität
verstanden wurde er nur hier.
Er verkörperte das, was die FDJ schon in ihrer Namensgebung so gerne
für sich in Anspruch genommen hätte – die Freiheit des Geistes, das
Progressive, nach vorne Gerichtete, das Unabhängige, das freche und
doch so unsagbar kluge Maul. Und er hatte Recht – nicht die Partei,
die das gebetsmühlenhaft von sich behauptete – er, Udo, hatte Recht
und er behielt es auch.
Sie kamen sich sehr schlau vor, die roten Kulturfunktionäre, als sie
Udos Drängen und dem seiner vielen Fans in der DDR scheinbar nachgaben
und ihn in den Palast der Republik ließen. Als sie ihn dann vor einem
Haufen stumpfsinniger, linientreuer, weit vor ihrer Zeit vergreisten
FDJ-Claqueure auftreten ließen, die alle brav das FDJ-Hemd trugen. Gleichzeitig
fingen die bewaffneten Organe die wahren Udo-Fans vor den Toren der
Hauptstadt ab, schickten sie zurück nach Hause oder gleich in polizeilichen
Gewahrsam.
Aber nach außen konnte man Souveränität und Liberalität heucheln, so
wie die einstigen Peiniger der Kommunisten, als sie 1936 die Olympischen
Spiele ausrichteten: Es war eine durch und durch verlogene Fassade.
Dabei stand den Kommunisten das moralische Wasser bis zum Halse! Was
sollten sie denn machen? Lindenberg war bekennender Pazifist und Anti-Kapitalist.
Bei vielen seiner Texte hätte sich der Oktober-Klub in den roten Hintern
beißen können, dass seine Barden nicht selbst darauf gekommen waren.
Aber mit Alublech im Werkstofflager kann man nun mal kein Grünes Gewölbe
ausstatten. Jedenfalls nicht den Inhalt der Vitrinen. Wenn man’s trotzdem
versucht, wird’s lächerlich.
Nein, sie konnten ihn nicht länger aussperren ohne sich selbst die verlogene
Maske der Heuchelei herunterzureißen. Es ging einfach nicht mehr. Also
musste es wie bei Walter „Zicke“ Ulbricht alles „demokratisch“ aussehen
– doch die Funktionäre mühten sich, die Fäden in der Hand zu behalten,
die ihnen doch längst entglitten waren.
Wie das Prinzip Licht und Schatten demaskierte Lindenberg allein durch
seine Präsenz die marode und gestelzte Erstarrung des ersten Bonzenstaates
auf deutschem Boden, das von innen Vermorschte. Denn er war all das,
was sie eben nicht waren. Er war locker – sie waren steif. Vor allem
aber waren sie steif vor Angst, dass alleine seine Anwesenheit ausreichen
würde, in der DDR einen Flächenbrand bei der Jugend auszulösen, die
man einfach nicht mehr in den Griff bekam. Das gelang mit keiner 60/40
Regelung in den Diskotheken – 60 Prozent der gespielten Musik musste
aus der sozialistischen Hemisphäre stammen und vierzig Prozent repräsentierte
die verhasste Konzession an den wahren Geschmack der Disko-Besucher
und kam demzufolge aus dem Westen.
Es gelang schon gar nicht mit den ewig drögen und sinnentleerten Parolen
und dem verheuchelten Propaganda-Geschwafel der FDJ-Natschalniks, von
denen die meisten beim Absondern ihrer pseudokommunistischen Kakophonie
weniger die DDR-Jugend adressierten, als die Obrigkeit, bei der sie
sich mit ihrer Logorrhö für die eigene Karriere empfehlen wollten.
Ein Udo Lindenberg, der quasi der Antipode zu diesen präsenilen Berufs-Jugendlichen
war, vermittelte diese Erkenntnis durch seine bloße Präsenz. So wie
ein kleiner Funke, der sich im Wald rasend schnell ausbreitet und zu
einem vernichtenden Waldbrand führt, in erster Linie darauf hinweist,
dass es lange nicht geregnet hat und der Wald demzufolge knochentrocken
ist, so konnte ein ungefilterter Auftritt Lindenbergs, die DDR-Jungend
in Aufruhr versetzen und für das Westfernsehen unangenehme Bilder produzieren.
Man kannte das noch vom Brandt-Besuch in Erfurt, von Schmidts Besuch
in Güstrow, von den Konzerten am Reichstag. Sicher, man musste der DDR-Jugend
ein bisschen Lagerfeuer genehmigen – aber wenn das schon nicht zur Gänze
vermeidbar war, dann sollte dieses Feuerchen doch wenigstens hermetisch
abgesichert sein und unter der Kontrolle von Regimentern von „Feuerwehrleuten“
vor sich hin krepeln.
DAS war die Urangst der Kommunisten vor Udo Lindenberg, dass er genau
diesen besagten Flächenbrand auslöst. Denn wie ausgedörrt der ideologisch
überdüngte Boden der DDR mittlerweile war, schwante jedem Funktionär,
der wenigstens noch über eine halbe Hirnwindung mehr verfügte als ein
Pantoffeltierchen. Doch was tun? Jemanden zu stigmatisieren, der sich
so sehr für den Frieden einsetzt, heißt ja nachgerade, dass man selbst
trotz aller Lippenbekenntnisse eben nicht auf derselben Seite steht.
Ach ja – die inneren Widersprüche. Dieses Hauptagens gesellschaftlicher
Umbrüche … So sehr, wie man sie herbeisehnt, wenn es einen selbst zur
Macht drängt, so sehr fürchtet man sie, wenn man an der Macht ist …
und diese in den Händen zerbröselt, wie verbranntes Papier.
Vierzig Jahre ist es her, dass der Verfasser dieser Zeilen zum letzten
Mal „Gerhard Gösebrecht, Elli Pirelli, Wotan Wahnwitz, Riki Masorati,
Mit dem Sakko nach Monaco, Sie ist Vierzig, Andrea Doria, Keiner will
sterben, Sonderzug nach Pankow“ und, und, und gehört hat. Und alle Texte
gehen noch immer automatisch von der Zunge, als wär’s erst gestern gewesen.
Das ist Qualität!
Mittelmaß? Ach, ihr armseligen Idioten. Wer selbst nur eine graue Existenz
ist, dem erscheint wahrscheinlich alles grau. Aber die Evolution hat
keinen Platz für graues Mittelmaß. Sie bevorzugt diejenigen, die etwas
Neues schaffen, etwas Unerhörtes, etwas Geniales.
Deswegen wurde Udo Lindenberg heute 75 Jahre alt – und die D…DDR keine
Vierzig!