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Die letzte Bastion ist gefallen

Die Mikrobe der Dummheit erobert die deutschen Hochschulen - Deutschland geht unter

Michael L. Hübner. Havelsee. πάντα pεi – alles fließt, meinte Heraklit. Meistens fließt alles bergab. Der Kreislauf des Lebens, das Werden und Vergehen. Das gilt für Blumen, Menschen, Sterne, Gesellschaften, ganze Völker.

Ja, auch ein Volk hat seine Zeit, in der es jugendlich frisch aufsteht, anpackt, Neues errichtet, durchstartet.

Ist aber die Position am Weltmarkt erst einmal erobert, dann beginnt die Phase der Trägheit. Das Volk richtet sich in der Behaglichkeit ein, vergisst die Plackerei und die Risikofreudigkeit der Aufbaujahre und wird behäbig. Bedenken nehmen überhand. Der Wunsch nach Absicherung des Bestehenden überwiegt den Drang zum Aufbruch zu Neuem. Das einzige, was jetzt noch proliferiert, ist die Dekadenz.

Die Zeit, die zu Beginn in Fleiß und Fortschritt investiert wurde, wird nun genutzt um Regularien zu schaffen, zu vertiefen, endlos zu verfeinern. Der einstige Impetus, Teil eines Ganzen zu sein, degeneriert zu einem spießbürgerlichen Egoismus, dessen geistiger Horizont sich mehr und mehr dem von Gartenzwergen nähert.

Es ist wie bei einem alten Menschen: Die Risikobereitschaft der Jugend erlosch unter dem Eindruck der Erfahrungen vieler Jahre. Rückblickend erkennt man, wie oft man beinahe schlafwandlerisch gefährliche Situationen meisterte, wie nahe man am Abgrund lavierte, wie viel Masel man hatte. Man erkennt, wie oft andere die Lücken des Systems zum eigenen Gewinn und damit in aller Regel zum Schaden der Gemeinschaft ausnutzten und beschäftigt sich mehr und mehr mit dem Stopfen ebenjener Lücken.

Negative Erfahrungen machen vorsichtig. Das deutsche Sprichwort sagt: Gebranntes Kind scheut das Feuer. Aber ohne Feuer wird’s nun mal kalt auf Erden. Die ehemalige Unbefangenheit überlässt einem vorsichtigen Kalkulieren und Abwägen den Platz – das einstige „Frisch gewagt!“ räumt zögerlichen Bedenken, vorsichtiger Risikoberechnung und strategischen Gedankenspielen das Feld.

Jede Unwägbarkeit schreit nun nach präventiver Absicherung, die einst Zehn Gebote des Mose, mit denen ein ganzes Volk auskam, wucherten seither zu gewaltigen Folianten aus, die ganze Bibliotheken füllen und deren Inhalt niemand mehr überblickt. Ein neues Tummelfeld für Gauner, Hasardeure, Glücksritter und Spekulanten. Die Schwelle der Möglichkeiten, dagegen mit Hilfe kodifizierten Rechts anzugehen, wird immer höher, kostspieliger, langwieriger. Man klagt, statt zu arbeiten.

Niemand wagt mehr etwas. Niemand steckt mehr die Nase aus dem Fenster. Ein jeder versucht nur noch krampfhaft, sich und seinen Verantwortungsbereich abzusichern. Da lässt keinen Raum mehr für Innovationen und unternehmerischen Wagemut. Alles schleicht sich angstbehaftet mit dem Rücken an jeder Wand an jedem schriftlich fixierten Führungsseil entlang. Die Frage, wohin dieses Seil führen mag, kommt nicht mehr auf. Es könnte ja jemand kommen und klagen und man könnte diesen Prozess dann ja verlieren – oh Gott, oh Gott, oh Gott! Formulare, nochmals Formulare, und alle paar Monate neue Formulare, die sich von den alten nur durch aberwitzige Bagatellen unterscheiden – das ist die Anakonda, die sich um die Brust des vergreisenden Gesellschaftssystems zu schlingen und ihm die Luft sukzessive abzudrücken beginnt.

Das gesellschaftliche Leben stagniert, es wird eng, dogmatisch, unzählige Gesetze, Richtlinien, betriebsinterne Vorgaben, Anweisungen, Kommentare, Regularien … Die Luft zum Atmen geht aus, die Wirtschaft rettet sich ins Ausland oder geht inländisch pleite. Die Steuern bleiben aus. Um das benötigte Steuervolumen weiterhin einbringen zu können, müssen die zum Bleiben Verdammten stärker belastet werden – die Arithmetik fordert’s. Denn niemand kommt auf die Idee, der Regel-und Gesetzeshydra mit einem Streich alle Köpfe abzuschlagen, um – wenigstens vorübergehend – eine neue Wirtschaft anzustellen.

Das sind also die zuverlässigen Indikatoren für eine senile Gesellschaft, wie die der Deutschen es gegenwärtig ist. Euphemistisch mag man sie als „reife Gesellschaft“ bezeichnen, sollte aber dabei nicht außer Acht lassen, dass Reife der Zustand vor der Fäulnis ist.

Nehmen wir das Beispiel eines Studiosum der Sozialwissenschaften. Einst, um die Wendezeit, studierte er an der Humboldt - und der Freien Universität Berlin Medizin. Die Immatrikulation war denkbar einfach, selbst in der DDR in ihren letzten Tagen: Man schrieb eine Bewerbung um den Studienplatz, legte sein Abiturzeugnis vor und dann wurde man an den Dozententisch gerufen: „Hier, mein Lieber, unterschreiben Sie mal. Hier ist ihr Studienbuch mit ihrer Matrikelnummer, im Hauptgang hängt Ihr Vorlesungsplan, herzlich Willkommen, Tschüss!“

Nun sehen wir uns eine ähnliche Situation im Deutschland der Zwanziger Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Derselbe Studiosus bewirbt sich um einen Fernstudienplatz in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Rhein-Main, mit dem Ziel, den Mastergrad zu erwerben.

Natürlich ist das Bewerbungsverfahren nur noch online zu absolvieren. Online geht alles besser – das haltlose Versprechen des papierlosen Büros – Sie erinnern sich? Die Seite der Hochschule ähnelt in ihrer Übersichtlichkeit dem Dschungel des Kongo. Es gibt sogar mehrere Plattformen – unübersichtlich sind sie alle. Natürlich strotzen sie vor Informationen. Ein Meer von Informationen – und was tut man mitten im Meer? Richtig – man ersäuft! Man verirrt sich. Man meint sich um das Amt eines europäischen Kommissars zu bewerben und die Hochschule entblödet sich sogar nicht, eine lückenlose Hochschulbiografie nachgewiesen haben zu wollen – ohne die dreiunddreißig Jahre alten Berliner Exmatrikulationsbescheinigungen dreht sich kein Rad, gibt es ums Verrecken keine Immatrikulation.

Klopfte man all diese Informationen, die auf den Seiten dieser Hochschule angeboten werden, auf ihr Gehalt, auf ihre reelle Bedeutung, auf ihre Notwendigkeit ab, so käme man bei nüchterner Analyse und klarem Verstand sehr schnell zu der Erkenntnis, dass gefühlte fünfundneunzig Prozent davon Onanie und Bockmist sind, wie sich Friedrich Wolf in seinem „Mamlock“ so schön ausdrückte. Es ist einfach nur überzüchteter, überflüssiger Datenquatsch, der die stete Verkomplizierung modernen Lebens nur unkritisch mitmacht.

Die Semestergebühr beträgt über 300 Euro, viel Geld für einen armen Studiosus. Man staune, zwei Drittel davon gehen für ein Semesterverbundticket des Verkehrsverbundes rund um Wiesbaden drauf, welches für den Aspiranten, der im Berliner Raum wohnhaft ist, so überflüssig ist, wie ein Kropf. Zumal der Studiosus über ein 49-Euro-Deutschlandticket verfügt, das ihm die Nutzung des Wiesbadener Regionalverkehrs ohnehin gestattet. Der Irrsinn schlägt Purzelbäume. Im Übrigen – wofür? Für eine Präsenzveranstaltung an zwei Tagen im Monat? Das, vor allem aber die anscheinend fehlende Möglichkeit, diesen Irrsinn abzuwählen, grenzt schon an märkisches Raubrittertum.

Um an dieser Stelle adäquat reagieren zu können, wäre eine von Zwängen und Regularien befreite Intelligenz vonnöten. Man sollte jedoch vernünftigerweise eher die Suche nach Atlantis oder El Dorado aufnehmen, als einen solchen Verstand an deutschen Hochschulen ausgraben zu wollen.

Das quengelt aus den Hochschulbüros: „Das ist nun mal so – da können wir gar nichts machen!“ Merken Sie auf diesen Satz! Wenn Sie den hören, dann wissen Sie, mit dieser Gesellschaft geht es nunmehr unweigerlich dem Ende entgegen. „Hinab in den Maelström“, wie Edgar Allen Poe es so treffend formulierte. Man hat den Eindruck, die Verwaltung deutscher Hochschulen befände sich bereits hinter dem Ereignishorizont der schwarzen Löcher, die jeglichen Verstand aus dem Universum des Rationalen absaugen.

Damit ist es klar: Eine Gesellschaft, die sich solche Bildungseinrichtungen leistet, hat ihren Zenit überschritten, die hat sogar schon die Tag-und Nachtgleiche ihrer Existenz hinter sich gelassen. In einer jugendlich-aufstrebenden Gesellschaft findet sich immer ein von Vernunft getragener Weg, selbst, ja gerade, wenn er mit allen Konventionen bricht. Das eben ist das Markenzeichen juvenil-agiler Völker. Da zählt Effizienz und nicht der Wunsch, das Verrotten des vor sich hin gammelnden Bestandes noch über den Tag hinaus konservieren zu wollen.

Dieser Studiosus bestellt sich also acht Wochen im Voraus seine Platzkarten 1. Klasse für den ICE nach Wiesbaden. Vier mal Umsteigen. Sechs Stunden Fahrzeit. Laut seinem Reichsbahn-Kursbuch von 1935 hätt’s damals auch nicht länger gedauert. Das Bestellen – natürlich online, wie sonst – klappt erst beim vierten Versuch. Immer wieder meldet die Seite beim Drücken des letzten Knopfes nach Eingabe unendlich vieler Daten: „Systemfehler“.

Dann hat es geklappt und pünktlich drei Wochen vor Antritt der Fahrt bekommt der Studente – natürlich online – eine Mitteilung der Deutschen Bahn, dass seine beiden Relationen ersatzlos gekappt wurden. Wenigstens kann er die Billetts für jede andere Verbindung nutzen. Ade reservierter Platz. Fünf Stunden erster Klasse stehen im ICE ist doch auch ganz schön. Denn man wird doch nicht glauben, dass zu diesem Zeitpunkt noch Reservierungen für andere Züge möglich gewesen wären.

Die obligaten Verspätungen von einer Stunde und mehr, sowie der Umstand, dass der Fahrer des ICE auf der Strecke von Frankfurt am Main nach Berlin seines Fahrplans verlustig ging und den erst per App auf sein Mobilfunkgerät zugespielt bekommen musste, rundet die Geschichte bestenfalls ab.

Angekommen im Berliner Hauptbahnhof /Lehrter Bahnhof fallen erst mal zwei Züge der ODEG in Richtung Magdeburg aus, Bauarbeiten etc., der dann kommt, gemahnt aufgrund der sich unterdessen versammelten Menge an Reisenden mehr an eine Sardinenbüchse, denn an einen Schnellzug.

Doch kehren wir zurück zu unserem Studenten nach Wiesbaden. Der steht kurz vor 21.00 Uhr an der Rezeption seines Hotels. „Hübner? Nein, tut mir leid, haben wir nicht im System.“ Ja, das System, das ist alles sehr systemisch ... – dysfunktional. „Aber hier sehen Sie meine Reservierungs- und meine Buchungsnummer vom 20. Januar. Ihre Bestätigung – hier!“ „Leider, das nutzt uns nichts!“ „Was? Ihnen nutzt Ihre eigene Buchungsreservierung nichts?“ Dem Studiosum wird es blümerant vor den Augen. Ist das gesamte Reich jetzt bereits ein einziges Irrenhaus?

Auflösung: Große Buchungsportale nehmen die Hotels in die Pflicht, lassen sich die Vermittlung kräftig bezahlen und geben im Gegenzuge mal spaßeshalber die Reservierung nicht weiter. Natürlich hilft das Hotel – die Vierbetten-Suite ist ja noch frei. Leider nicht für die gebuchten 60 Euro pro Nacht. Jetzt sind es 120 Euro für eine Übernachtung. Ist ja nicht unser Geld. Das Buchungsportal entschuldigt sich und will sich mit irgendwelchen Agoda-Talern aus der Affäre ziehen. Das Hotel gibt dem entsetzten Gast eine Visitenkarte mit Telefonnummer der Herberge mit: „Nächstes Mal rufen Sie uns direkt an!“ Es gibt kein nächstes Mal.

Das alles ist schon degoutant genug. Die Narrenkrone aber setzt dem Ganzen wie gesagt die Hochschule auf – gleich am Morgen des nächsten Tages. Man stellt fest, dass der Supplikant für den online-Studienplatz in einen Präsenzstudiengang der Sozialen Arbeit eingeschrieben ist. Am Montag, wenn er in Berlin seine Brötchen verdienen muss, hat er Vorlesung und Seminar.

„Was, können Sie nicht? Tja, dumm gelaufen … Wechseln geht nicht - wie stellen Sie sich das vor? Sie können sich ja zum nächsten Kurs wieder bewerben. Und überhaupt – schuld sind Sie selbst. Sie haben sich im Immatrikulationsbewerbungsverfahren um den Präsenzstudiengang beworben. Sie hätten sich besser informieren müssen. Können Sie denn nicht die nicht existierenden Hinweistafeln oder die mit den Hieroglyphen vom Diskos von Phaistos nicht lesen? Das ist nicht unsere Schuld!“

Ja, wessen denn sonst? Wer hat sich denn diesen geistlosen Unfug ausgedacht? Warum genügt eine formlose Bewerbung und die Vorlage des letzten Hochschulabgangszeugnisses nicht mehr?

„Ach übrigens – die Erstattungsfrist für ihre Semestergebühren ist seit vorgestern abgelaufen. Pech gehabt!“ Eiskalt, emotionslos, widerlich! Würden diese Leute auch so reden und handeln, wenn es die Ihren beträfe. Nein, dann würden Sie den Teufel aus der Hölle fluchen und Barrikaden errichten!

Als die Kommunisten in den fünfziger Jahren vom stinkenden, verfaulenden Sumpf des Kapitalismus predigten, lachte alle Welt über dieses Gefasel. Die sich täglich mehr füllenden Schaufenster Westdeutschlands sprachen zu deutlich das Gegenteil. Niemand war damals in der Lage, die Weitsicht der Roten zu erkennen.

Heute sehen wir diese These mit ernsteren Augen. Ein Blick auf die Bundesbahn, ein Blick auf den Kollaps der deutschen Wirtschaft, wie er sich unter der grünen Rigide von schwachsinnigen Hasardeuren vollzieht, ein Blick in das Studienbüro der Hochschule Rhein-Main – und wir beginnen die Kommunisten als das zu begreifen, was sie hinsichtlich der Kritik des Kapitalismus wirklich waren – als weitsichtige Propheten. Dass sie bezüglich der Kritik an ihrem eigenen System gründlich versagten, tut in dieser Angelegenheit nichts zur Sache. Das mindert den Wahrheitsgehalt ihrer hier zitierten Aussagen um kein Jota.

Leider wird der zu erwartende Zusammenbruch des Gesamtsystems nicht ins Arbeiter- und Bauernparadies führen. Eher in ein Chaos unbeschreiblicher Auflösung und Gewalt. Danach wird es sich so gestalten, wie einst die Existenz der paar Überlebenden des Imperium Romanum auf den romantisierenden Gemälden des der Morbidität zugewandten Barock dargestellt wurde, welche kläglich zwischen den Ruinen einstiger imperialer Macht ihr bisschen ärmliches Leben fristeten.

Die Deutsche Bahn, das Hotel, die Wiesbadener Hochschule Rhein-Main aber rufen uns die Weissagung des großen Jesaja ins Gedächtnis zurück, die aus seinen Versen (Jes. 13.6-22) spricht:

6 Heulet, denn des HERRN Tag ist nahe; er kommt wie eine Verwüstung vom Allmächtigen.

7 Darum werden alle Hände schlaff, und aller Menschen Herz wird feige sein.

...

19 So soll Babel, das schönste unter den Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, zerstört werden von Gott wie Sodom und Gomorra,

20 dass man hinfort nicht mehr da wohne noch jemand da bleibe für und für, dass auch Araber dort keine Zelte aufschlagen noch Hirten ihre Herden lagern lassen,

21 sondern Wüstentiere werden sich da lagern, und ihre Häuser werden voll Eulen sein; Strauße werden da wohnen, und Bocksgeister werden da hüpfen,

22 und wilde Hunde werden in ihren Palästen heulen und Schakale in den Schlössern der Lust. Ihre Zeit wird bald kommen, und ihre Tage lassen nicht auf sich warten. Amen

Der große Prophet hat alles gesagt. Es ist alles so gekommen. Die Menschheit aber wäre nicht die Menschheit, wenn sie jemals aus der Geschichte lernen würde. Also – fahrt getrost zur Hölle, wo ihr Schwachköpfe selbst dem Teufel ein Ärgernis seid!

29. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003
04.05.2024