|
Der blinde Fleck des Verstandes
Don M.Barbagrigia. Havelsee. Haben Sie das auch schon bemerkt, wenn Sie versuchen, rückwärts aus Ihrer Parklücke vor dem Supermarkt oder auf dem Bahnhofsvorplatz auszuparken: Abrupt müssen Sie auf die Bremse treten, weil ein paar geistlose Hirnis hinter Ihrem Heck bedenkenlos entlang watscheln, als ob es kein Morgen gäbe. Dieselben Leute würden selbstredend stehenbleiben und Sie passieren lassen, wenn Sie Ihren Wagen vorwärts auf Sie zu bewegen. Das wurde zumindest der älteren Generation von Kindesbeinen an eingeimpft. Für uns ist das völlig jenseits von Gut und Böse. Das höhnt jeder Rationalität: Fahren Sie auf die Leute zu, dann ist doch sonnenklar, dass sie gesehen, dass sie wahrgenommen werden. Das Risiko, vor den langsam fahrenden Wagen zu laufen, wäre überschaubar. Das aber ist im Entferntesten nicht gegeben, wenn diese Leute hinter Ihrem Wagen umher spazieren, womöglich jenseits aller Möglichkeiten, vom Fahrer gesehen zu werden. Was geht in den Köpfen dieser geistigen Rasenlatscher vor? Gedankenlosigkeit ist das eine, aber ein derart irrationales Verhalten, das allen Überlebensinstinkten höhnt, bedarf wohl eines genaueren Hinsehens. Wir stecken nicht tief genug in der Materie der menschlichen Psychologie, um schlüssige Erklärungen anbieten zu können. Der banale Verweis auf die Mikrobe der menschlichen Dummheit würde an dieser Stelle zu kurz greifen. Doch dieses Phänomen setzt ein Ausrufezeichen. Es ist nur eine Hypothese. Aber lässt sich dieses irrsinnige Verhalten weiterdenken? Bedient es dasselbe Schema, das just dieser Irrationalität zugrunde liegt, mit der ein ganzes Volk trotz gegenteiliger Erfahrungen und tief in sein Genom eingravierten Prägungen immer und immer wieder Leute in Regierungsgewalt bugsiert, die hernach den Souverän einer Demokratie vorhersehbar entmündigen und dann in sein Unglück führen? Es ist doch ein treffendes Bild: Einer Gefahr, der man buchstäblich ins Auge blickt, stellt man sich. Das war wohl schon in der Savanne so. Der Löwe, der vor einem steht und einen anblickt – macht einem die Todesgefahr schlagartig bewusst. Kehrt einem der Löwe den Schwanz zu – dann sieht die Sache schon entspannter aus. Wer hätte denn je einen Löwen im Rückwärtsgang auf seine Beute zustürmen sehen! Das widerspricht dem Erfahrungshorizont des kollektiven Bewusstseins. Natürlich kann ein Löwe rückwärts laufen. Das wird er aber nur selten und in Ausnahmefällen tun. Ein Automobil aber kann auf einen Rückwärtsgang nicht verzichten. Täglich wird dieser gebraucht. Da das instinktive Verhalten aber sicher vom Archenzephalon gesteuert wird und nur selten einen Umweg über die graue Hirnrinde macht, wird der rückwärtsfahrende Löwe „Automobil“ nicht für voll genommen. Das manifestiert sich in dem Augenblick, in welchem der Fahrer auf die Hupe drückt. Tut er das beim Vorwärtsfahren, dann wird der Hupton als lebensrettende Warnung des bevorrechtigten Automobils wahrgenommen und meist in einer Mischung aus Dankbarkeit und Schuldbewusstsein des Fußgängers quittiert. Tut der Fahrer aber dasselbe für die Schlafwandler hinter seinem Heck, dann erntet er in aller Regel wüste Beschimpfungen. Warum? Weil er für Kurzschlüsse im Resthirn der Passanten sorgt. Der nach rückwärts bedrohende Löwe ist widernatürlich. Der Verstand akzeptiert das nicht. Auch der Umstand, dass der Löwe nunmehr in der blechernen Verkleidung eines Automobils einher kommt, ändert daran gar nichts. Darin also mag eine der Strategien begründet liegen, mit der Diktatoren und Autokraten aller Art eine Volksmasse von Stumpfsinnigen einseifen – ganz egal, wie oft diese Volksmassen bereits den bitteren Kelch der Not, des Elends und des Verderbens, von jenen dargereicht, bis auf den Grund zu leeren hatte. Sie schauen den Leuten mit ihren offiziellen Programmen selten direkt in die Augen, sie kommen nicht mit geöffnetem Visier auf sie zu. Sie nähern sich ihnen quasi im Rückwärtsgang, ganz harmlos – aber nichtsdestotrotz von ebensolcher Tödlichkeit. Natürlich ist uns bewusst, dass man mit dem Einzelnen oftmals reden und berechtigt auf eine intelligente Resonanz hoffen kann. Seit Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ wissen wir aber, dass die Masse immer doof ist, egal wie intelligent die individuellen Entitäten sein mögen, aus denen diese Masse besteht. Der Einzelne mag also hinsichtlich des rückwärtsfahrenden Autos oder des „rückwärts“ avancierenden Autokraten erfolgreich zu beschulen sein – die Masse ist der Gefahr hilflos ausgeliefert, man predige, was man wolle! Tucholsky muss das irgendwann verstanden haben. Spätestens im Jahre 1935, als er resignierend schrieb: Sprechen – Schreiben – Schweigen. Es gibt also wenig rationale Gründe für einen überbordenden Optimismus, sollte dieser auf die Etablierung einer dauerhaft friedlichen Gesellschaftsordnung abzielen. Da aber keine Volksmassen hinter dem Steuer eines Automobils sitzen, sondern Einzelindividuen, so besteht wenigstens noch Hoffnung, dass durch die mitdenkende Aufmerksamkeit routinierter Kraftfahrer so manches Leben eines Hans-guck-in-die Luft zu bewahren ist. Das wäre schon begrüßenswert: Denn wenn der Schöpfer aller Dinge sich bei der Zuteilung von Verstand bei diesen Kreaturen nicht gerade als freigiebig erwies, so bleibt doch deren Organismus in all seiner physiologischen Funktionalität ein solch geniales Meisterwerk, dass sich schon aus Respekt vor dieser göttlichen Leistung dessen Bewahrung rechtfertigen lässt. |
29.
Volumen |
©
B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2003 08.12.2024 |