Dornröschen und das Regelwerk
wie Normen, Vorgaben und der stetige Drang
zur Uniformität Organisationen lähmen
Kotofeij. K. Bajun. Werder (Havel). Das
Redaktionskollegium des Preußischen Landboten wuchs in der DDR auf und
wurde in ihr sozialisiert. Nun war die DDR nicht bekannt dafür, ein
Hort unumschränkter Freiheit zu sein. Es gab nicht nur massive Reisebeschränkungen,
sondern auch eine diktaturimmanente Wortwahl, deren Morphologie bereits
von dem hervorragenden Victor Klemperer in seinem bahnbrechenden Büchlein
LTI – Lingua Tertii Imperii seziert, analysiert und beschrieben wurde.
Da sprachen unter anderem offiziell vom Antifaschistischen Schutzwall.
Jedes Kind grinste darüber. Gemeint war natürlich die Demarkationslinie
zu Westdeutschland und die Mauer rund um Westberlin. Dass man sich dessen
bis in die sprichwörtlich tonangebenden Kreise bewusst war, beweist
Ete Honeckers beschwörender Ausruf von 1989, welchen er in den blauen
Äther fistelte: „Die Mauer wird auch noch in 100 Jahren bestehen bleiben,
wenn die Gründe für ihre Erbauung nicht weggefallen sind.“ Na ja – wie
das so ist mit den Halbwertszeiten Tausendjähriger Reiche, ewiger Sowjetuinionen
und 128 jähriger Mauern. Dahin, dahin … Zumindest den Tausendjährigen
und den 128ern wollen wir keine Träne nachweinen.
Als die Mauer dann fiel, strömte die Freiheit gleich einem Tsunami rauschend
über die Elbe, jagte über Oder, Bug, Wolga und Ural sowie über die unermessliche
Taiga hinweg und spülte alles Autoritäre in den Stillen Ozean. Dachte
man … Nein, dachten nur die Narren, Spinner, Phantasten und Hohlköpfe.
… und jene, die das westdeutsche Werbefernsehen für ein apokryphes Evangelium,
lauter, wahr und rein, hielten.
Was zugegebenermaßen auch wir, die wir damals zu jenen Hohlköpfen zählten,
nicht ahnten, war, dass man im Westen nur solange den Popanz vom freien
und mündigen Bürger gleich einer Monstranz vor sich her trug, als es
galt, dem kommunistischen Konkurrenzsystem jenseits des Eisernen Vorhangs
einen attraktiven und verlockenden Reklamestrohwisch hinter dem Zaum
zu postieren. Na ja, so ähnlich, nur halt reziprok, wie die Propagandabeschallung
der Chinesischen Volksbefreiungsarmee vor den Küsten der abtrünnigen
Chiang Kai-shek-Insel Formosa, die auch Taiwan genannt wird.
Die von den Roten Geknechteten sollten eben wissen, wofür sie Kopf und
Kragen riskieren, um ihren Bonzen Paroli und dem Westen die ersehnte
Reconquista bieten zu können.
Als das Etappenziel des freien Westens erreicht und das Brandenburger
Tor offen war, da hatte es sich auch schon mit dem freien und mündigen
Bürger. Aus die Maus! Natürlich wurden alle die Freiheitsbeschränkungen
nur schrittchenweise umgesetzt. Wer wollte schon gleich bei den von
Freiheit und Ungezwungenheit Verwöhnten mit der Tür ins Haus fallen.
Dass da ein finsterer Masterplan dahintergesteckt hätte, meinen Sie?
Ach i wo! Masterpläne solchen Ausmaßes passen doch unter keinen Aluhut!
Das ist ein ganz natürlicher und soziologisch zu beschreibender Prozess.
Dieser Drang zum Geordneten, diese Freude an Uniformität und Gleichschritt
… So wie die Genossen paradierenden Soldaten, die im knallenden Stechschritt
an der Partei- und Staatsführung in Berlin, Hauptstadt der DDR, anlässlich
des Internationalen Feiertags der Arbeiterklasse vorbeidröhnten – nur
ein paar Jahre und zehn Kalendertage vorher donnerten sie im Tiergarten
selben Schritts am GRÖFAZ vorüber, um dessen Geburtstag zu begehen.
Auch die Uniformen waren auf dem ersten Blick nicht zu unterscheiden
– und die Stahlhelme der NVA waren die letzten Stahlhelme der Wehrmacht.
Im Gleichschritt und in gleiche Uniformen gewandete Massen radieren
die störende und verstörende Individualität des Einzelnen aus.
Dessen ist man sich sogar in Gottes eigenem Lande – den USA bewusst,
wo es bereits bei den Kindern in der Grundschule bezüglich der Fahnenappelle
nicht anders zugeht als im verruchten einstigen Ostblock.
Wer fragt nach den Ideen, der Kreativität und den Alleinstellungsmerkmalen
eines Einzelnen? Masse erzeugt Wucht! Wohl gibt es viele Probleme, die
sich mit Kreativität nicht lösen lassen, aber es gibt doch wohl keine
Herausforderung, welche der Gewalt auf Dauer widerstünde – so jedenfalls
die scheinbar ubiquitäre Auffassung jedes Autokraten. Uniforme und homogene
Massen lassen sich auch viel leichter dirigieren als heterogene und
auf ihre Individualität erpichte Entitäten. Jene wollen doch nur revoluzzen
und am Ende immer alles über den Haufen werfen und das Unterste zuoberst
kehren.
Pfui Teufel!
Daher also kommt in jeglicher menschlicher und menschengeführter Organisation
der Drang zur Vereinheitlichung der Arbeitsweise, der Sprech- und Bezeichnungsweise.
Allgemeingültige Standardisierung entfalten die Anziehungskraft eines
Sindbad’schen Magnetberges. Nur den erwiesenen Genies, die allerdings
zu dämlich sind, mit den Grundanforderungen des Selbstständigen-Alltags
zurecht zu kommen und die sich daher lohnabhängig bei Google, Microsoft
und Apple verdingen müssen, gewährt man Kreativität und Individualismus
im Übermaß. Die sollen ja schließlich im wahrsten Sinne des Wortes reichlichen
Profit und ihren Brötchengebern eine Vormachtstellung auf dem Weltmarkt
einspielen.
Das aber sind vernachlässigbare Ausnahmen. Die graue Masse hat ihre
Individualität im neofeudalen Alltag der Gegenwart gefälligst auf ihre
paar Stunden Freizeit zu beschränken. Der Brötchengeber schreibt Dir
vor, welches Wams du zu tragen, welches Dokument du zu benutzen, welcher
Wortwahl du dich zu befleißigen und vor allem, wem und wem nicht gegenüber,
und welche Ausdrucksformen deines „einzigartigen“ Ichs du für dich zu
behalten hast. Und wehe dem, du hältst dich nicht an diese Vorgaben!
In der DDR war’s der ganze Staat – in der gegenwärtigen Bundesrepublik
ist jede Firma, jede Organisation ein kleiner Staat, sozusagen in der
legitimen Nachfolge der deutschen Duodezfürstentümer, in welchem jeder
Fürst Schrägstrich Geschäftsführer ein kleiner König von Gottes unerfindlichen
Gnaden war und ist. Vielleicht geht’s auch nicht anders. Der Nackte
Affe ist ein Herdentier – Lorenz und Morris haben’s nachgewiesen. Herden
verlangen nach Regeln, welche der Einzelgänger nicht zu kennen oder
zu beachten braucht.
Regeln provozieren Regelverstöße. Regelverstöße gefährden die Funktionalität
des Gesamtsystems. Jeder geglückte Regelverstoß zieht also eine Sublimierung
des Regelkanons nach sich. Die dynamische Evolutionsspirale von Regel
und Regelverletzung beginnt sich zu drehen, schneller und schneller
– bis alles in einem einzigen Chaos endet, in einem paralytischen Erstickungsprozess,
in welchem kein Aas mehr durchsieht und jeder macht, was er will, weil
er sich sicher sein kann, dass die Chance gering ist, auf denjenigen
zu treffen, der die in diesem speziellen Falle sanktionierende Regel
kennt.
Das Regelwerk beginnt sich um die Organisation zu schlingen, wie die
Rosenhecke um das Schloss des Dornröschens. Darinnen versinkt nicht
alles in einen hundertjährigen Schlaf, wie es in der verunglückten Metaphorik
des Märchens heißt – darinnen wagt sich nur niemand mehr, einen Fuß
vor den anderen zu setzen oder eine Hand zu rühren – es könnte ja gegen
eine Regel, Vorgabe, Betriebsanweisung, Gesetz, Verordnung, Verbot,
… verstoßen. Das Leben kommt zum Erliegen – das hat mit Schlaf nichts
zu tun. Schlaf ist eine physiologische Notwendigkeit, welche die Hardware
des Körpers zur Ruhe kommen lässt, um die Software zu reorganisieren
und ihre Effizienz wiederherzustellen. Dergleichen passiert nicht im
Dornröschenschloss. Dort herrscht Stillstand, Stagnation, Lähmung.
Sodann erhebt sich regelmäßig der Chor der nach Entbürokratisierung
Brüllenden. Die Prinzen und andere Gesellschaftsreformatoren reißen
ihre gewaltigen Bihänder aus den Scheiden und stürmen gegen das Gestrüpp
an und – bleiben ebenso regelmäßig früher oder später stecken. Wenn
sie clever sind, richten sie sich in ihren Hecken ein und fristen dort
die einst eifrige und eifernde Existenz bis ans lustlose Ende ihrer
Tage. Einer der Redakteure des Preußischen Landboten schrieb sogar einmal
seine Bakkalaureus-Arbeit zu diesem Thema: Überregulierung und ausufernder
Datenschutz als Effektivitätsinhibitor bei größeren und großen sozialen
Organisationen - Versuch einer phänomenologischen Deskription.
Ein wohlmeinender Professor klopfte ihm auf die Schultern und sagte:
„Willst ein Märtyrer werden, was, Jungchen? Auf’m Scheiterhaufen willste
brennen, wie Hus und Bruno, was? Mach dir vorher noch ‘n Namen, sonst
brennst’te gänzlich umsonst!“ … und ein anderer meinte: „Solange noch
eine Windmühle auf dieser Welt ihre Flügel dreht, solange findet sich
auch noch ein Don Quichotte, der dagegen anrennen muss. Mein Gott, Walter!
Ich denke, du bist so ein Gebildeter, Belesener! Schillers „Bürgschaft“!
Na, klingelt da was? „Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr!“ Ach,
mach doch, was de willst!“
Der Redakteur machte, was er wollte, gab sein Elaborat ab, verteidigte
es … und siehe, da sie nicht versprach, breitenwirksam und damit gesellschaftsgefährdend
zu werden, wurde die Arbeit mit einer 1,2 bewertet und verschwand im
Hochschularchiv.
Ja, auch wir machen noch, was wir wollen. Noch. Und wir erinnern uns
der herrlichen Karikatur aus dem Eulenspiegel … sie stammte aus der
Feder des genialen Reiner Schwalme. Da stand ein Mann im Trenchcoat
und mit Aktentasche vor einem Straßenpenner mit offenem Geigenkasten
und sprach diesen freundlich an: „Doll, Schulze, wie sie dem Chef die
Meinung gegeigt haben!“
Das glauben wir gerne, dass man sich dessen in der Firma Schulzens immer
noch gerne erinnert: drinnen, im Warmen, Trockenen, mit dem Bild der
Lieben auf dem Schreibtisch und der Aussicht auf den nächsten Lohnzettel.
Wer regelkonform vor sich hin opportunisiert, der mag hoffen, abseits
von Brückenbogen und Konzentrationslager ein warmes Plätzchen hinterm
geheizten Ofen behaupten zu dürfen, bis dass sich die letzten Zähne
aus seinem Munde verabschieden und er friedlich und qualvoll das gottgegebene
Leben verröchelt.
Dornröschen und die graue Masse aber bleiben unerlöst und wenn sie nicht
gestorben sind, dann vegetieren sie noch heute untot vor sich hin.