Die Mauer ist weg!
Eine Utopie im Osten verschwand mit ihrem Bau
am 13. August 1961
B. St. Fjøllfross. Pritzerbe.
Jetzt ist es ein Lebensalter her. Leute, die an diesem Tage geboren
wurden, bereiten sich nun auf das Rentenalter vor oder genießen bereits
die Früchte ihres Arbeitslebens. Oder sie sind schon tot. Wie die DDR.
Sie wurde keine vierzig Jahre alt. Sie war mit einer schweren Behinderung
geboren worden und solche Leben währen eben in aller Regel nicht sehr
lange.
Die Sowjetunion brachte es immerhin auf dreiundsiebzig Jahre. Ein weiß
Gott mörderisches Experiment. Aber es war durchaus notwendig in der
Geschichte um zu beweisen, dass diese Utopie von der Gleichheit aller
Menschen eben nicht funktionieren kann. Kim Yong Un interessiert das
nicht – diesen Anspruch hat er sowieso realiter längst aufgegeben. Und
seine chinesischen Nachbarn nennen sich nur noch aus liebgewonnener
Gewohnheit Kommunisten. Sie haben den Drachenthron längst wieder installiert
– nach dem alten und bewährten Erfolgskonzept. Das Sein bestimmt eben
nicht das Bewusstsein, sondern die Gier, die Fress- und Sexsucht und
der unwiderstehliche Trieb, dem Nächsten um des eigenen Wohlergehens
Willen in die Tasche zu fassen.
Nicht, dass wir falsch verstanden werden: Der Preußische Landbote wird
die Sowjetunion immer in seinem Herzen bewahren. Hier liegt sie begraben.
Und er trauert tief und aufrichtig um sie. Um die Sowjetunion. Um Hammer
und Sichel. Und führt beides auf seiner Titelseite. Ganz unten und doch
– ganz oben! Weniger trauert er um die DDR …
… obwohl einige der Redakteurs des Preußischen Landboten auch ihr viel
zu verdanken haben. Gar keine Frage. Nur war eben das, was die DDR ihren
Bewohnern an Annehmlichkeiten zu bieten versuchte, um sie einigermaßen
mit ihrem Schicksal als Staatsgefangene zu versöhnen, auf Dauer nicht
zu bezahlen. Doch die Leute waren nicht zu beschnullern. Wie der erzgescheite
Gregor Gysi es am heutigen Tage im Deutschlandfunk formulierte: „Die
Leute denken an das, was sie nicht haben, nicht an das, was sie haben!“
Das ist die Dummheit der Leute – und die wollte die DDR eben nicht auf
dem rechthaberischen Radar haben.
Nun weiß ja jedes Kind, dass ein Gefängnis viel Geld kostet. Warum?
Weil es die darin Eingekerkerten eben mit aller Macht nach draußen zieht,
in das, was sie unter ihrer Freiheit verstehen. Egal, ob sie wissen,
was sie da draußen wirklich erwartet oder eben nicht. Wieder wäre das
Zitat des Großen und nur der Konfektionsgröße nach kleinen Gysi angebracht.
Das, was die rohstoffarme DDR in ihren Erhalt, das heißt in die Verhinderung
der Flucht ihrer Bürger investierte, war – aus ökonomischer Sicht gesehen
– vielleicht der entscheidende Sargnagel zu ihrem Untergang. Das elend
teure Grenzregime, das 100.000-Mann zählende, stehende Heer, das junge
Männer im besten arbeitsfähigen Alter fraß wie ein Moloch und sie mit
sinnlosen, ebenfalls sauteuren Spielchen beschäftigte, belastete die
Volkswirtschaft von Jahr zu Jahr mehr.
Die offiziellen Organe der DDR mussten täglich mehr zu gewöhnlichen
Kriminellen und Strauchdieben degenerieren, um der DDR noch die nötigen
Devisen wenigstens ansatzweise zu beschaffen. Die Greise von Wandlitz
verstanden die Welt nicht mehr. Sie waren geistig in der der Zeit ihres
Kampfes gegen die Weimarer Republik und den Faschismus hängen geblieben.
Sie begriffen nicht, dass eine andere Zeit andere Erfordernisse mit
sich brachte. Sie begriffen nicht, dass der Kalte Krieg nach anderen
Strategien ausgefochten wurde als ihr Untergrundkampf gegen den Raubtierkapitalismus
Weimars und die braune Bestie.
Sie, die den Schülern der Polytechnischen Oberschulen das Buch von Anna
Seghers „Das Siebte Kreuz“ zur Pflichtlektüre bestimmten, verstanden
nicht, dass die Quintessenz dieses Buches, nämlich, dass ein einziger
erfolgreich Geflohener auch den geistigen, moralischen und vitalen Bankrott
ihres eigenen Systems mit tödlicher Präzision attestierte. Sie glaubten
allen Ernstes, die von ihnen auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse
übertragenen Naturgesetze gälten nur für die anderen, die Verlierer
der linear-progressiven Entwicklungslinie. Für sie konnte das nicht
zutreffen. Sie verkörperten ja die Zukunft.
War die Mauer wichtig?
Das ist eine zutiefst dialektische Frage. Für die Welt war sie wichtig.
Für den Augenblick verhinderte sie in der Tat eine Eskalation des Kalten
Krieges. Denn in einem Punkte hatten die Bolschewisten ja absolut recht:
Auf den Knochen der ostdeutschen Arbeiter und Bauern, die selbst kaum
was zu fressen oder ein Dach über dem Kopf hatten, ließen sich viele
junge Leute zu exzellenten Ärzten und Ingenieuren ausbilden und dann
türmten diese ehrvergessenen Schweinehunde in den Westen, um ihre Kunst
dort für hartes Westgeld feilzubieten und ihren westdeutschen Landsleuten
unablässig vorzujammern, wie sehr sie von den Kommunisten geschurigelt
wurde.
Auch hier resümierte Gysi, einer der letzten lebenden Beweise, welch
furchtbares, selbstmörderisches Verbrechen die Nazis mit der Vernichtung
des jüdischen Gehirns des deutschen Volkes begangen hatten, völlig zu
Recht, dass die Westdeutschen diesen Zustrom an Intelligenz dankbar
aufnahmen. Zumal auch in Westdeutschland der Aderlass an Intelligenz
furchtbar war: Auch die westdeutschen Juden waren tot oder vertrieben,
die Naziwissenschaftler von den Yankees vereinnahmt – und wie dankbar
sie vor allem über den Umstand waren, deren Ausbildung nicht bezahlt
haben zu müssen.
Für die „Freie Welt“, die nur solange frei war, wie sie dem Ostblock
ein alternatives Gesicht entgegenzusetzen gezwungen war, war die Mauer
ein Hauptgewinn. Siehe Anna Seghers. Einen besseren, einen augenfälligeren
Beweis, der selbst dem letzten Hirni einleuchten musste, dass ein System
in jeder Hinsicht erledigt war, wenn es seine Bürger mit der Bedrohung
des Todes an der Flucht hindern musste, konnte es gar nicht geben. Keine
westdeutsche Propaganda hätte besseres Material liefern können als es
die Kommunisten mit einer irrsinnigen Tonnage an Beton, Stacheldraht,
Menschen, Kötern und Sprengstoff selbst taten. Ihre hilflosen Versuche,
die Mauer heroisch und als antifaschistisches Bollwerk gegen den Westen
umzustilisieren, waren derart lächerlich und durchschaubar, dass bereits
Schulkinder darüber lachten. Denn jedem Idioten war klar, für was diese
Mauer gebaut wurde und gegen wen sie gerichtet war. Westdeutsche, die
nach Ostdeutschland einzudringen versuchten – ja, so ein paar Spinner
gab es tatsächlich – wurden höflich gefangen genommen. Man wusste ja
nie, ob man sie nicht vielleicht noch als Kronzeugen für die Unmenschlichkeit
des vermodernden, untergehenden Kapitalismus brauchen könnte.
Ach – welche an die Endtage des Zweiten Weltkriegs unwohlig erinnernde
Wortwahl! Nur dass Goebbels damals die gewaltige Rote Armee mit diesen
hanebüchenen Attributen zu diffamieren suchte. Hier tun sich – um mit
Jutta Maron zu sprechen – unselige Traditionslinien auf.
Wie dem auch sei: Scharf geschossen wurde auf die, welche vom Osten
in den Westen wollten. Und das war eindeutig. Jeder Verwandtenbesuch
aus dem Westen, jedes Care-Paket aus dem Westen war ein Schlag ins Gesicht
der alten Garde des Proletariats. Egon Bahr wusste das. Willy Brandt
wusste das. Nur die stockkonservativen, naturblöden Wessis aus der Provinz,
die sich am Wahlsonntag vom Pfarrer von der Kanzel aus sagen ließen,
wo sie ihr Kreuzerl zu machen hätten, die begriffen wieder mal gar nichts.
Doch Brandt und Bahr behielten Recht und Kohl bekam zum Undank die Regierung.
Sechzig Jahre … Brandt und Bahr sind tot. Der Große Gysi wurde aus Altersgründen
in der Realpolitik kaltgestellt, die DDR ist tot, die sozialistische
Utopie ist tot – das einzige, was vital ist und sich ausbreitet wie
ein Schimmelgeflecht auf der Menschheit, ist der gnadenlose Neoliberalismus
– also mit anderen Worten der Raubtierkapitalismus. Und was auch überlebt
und was noch Billionen mal tödlicher ist, als ein verquastes Corona-Virus
– ist die Mikrobe der Menschlichen Dummheit. Sie wird ihren Wirt so
sicher umbringen wie das Amen in der Kirche und damit sich selbst, so
wie sie auch achtundzwanzig Jahre nach ihrer Errichtung Gott sei Dank
die Berliner Mauer verschwinden ließ.
Am 9. November 1989
fiel die Mauer ... und mit ihr die bürgerliche Freiheit im Westen. Das
glaubt ihr nicht? Die Neue Zürcher brachte es dieser Tage in einem ihrer
hochintelligenten Kommentare auf den Punkt: Der Osten hat seine Erfahrungen
mit sechsundfünfzig Jahren Diktatur. Das schult.
Der amnestische Westen
hat die zwölf Jahre braune Diktatur sauber in den Skat gedrückt. Jetzt
müssen sie ihre Lektion aufs Neue lernen. Die Gutmenschen der neuen
grünen Protodiktatur werden es ihnen beibringen - im Namen einer besseren
Welt - wie einst die Nazis, die Gottesstaatler, die Kommunisten, die
Katholiken ... Und wir wissen, wie das immer und immer enden muss: Denn
jeder, der den Himmel auf die Erde zu bringen versprach, brachte ihr
in Wahrheit die Hölle. Aber die Menschen lernen nie aus der Vergangenheit;
nicht dauerhaft. Und so basteln die besserwisserischen Weltverbesserer
von heute an einer neuen Mauer. Wieder terrorisieren sie wie die Jakobiner
alle anders Denkenden im Namen ihres Rechts und der Zukunft. Nein, sie
schleppen ihre Opfer nicht mehr auf die Place de Greve. Noch nicht.
Sie, die großen Inklusionisten, grenzen aus, lassen ihre Gegner am steifen
Arm verrecken - und fühlen sich gut dabei. Diesmal errichten sie ihre
mörderische Mauer unsichtbar und mitten durch die Gesellschaft - und
wieder ist sie ein Eingeständnis des totalen Versagens eines Gesellschaftsmodells.
Anscheinend kommt Deutschland
nicht ohne seine Mauern aus. Deutschland fürchtet keine Mauern und keine
Mauertoten. Deutschland fürchtet nur eines: Den Tag, an dem es sich
unrettbar eingestehen muss, dass es als Nation nun endlich mal erwachsen
werden sollte.