Diktatur oder Demokratie
Zu Lenins 151. Geburtstag
Don M. Barbagrigia
Havelsee. 22.
April – Lenins Geburtstag. Er war der Vater der in die Praxis übersetzten
Diktatur des Proletariats. Sein wohl sehnlichster Traum, dass sich sein
Diktaturmodell über die ganzen Welt ausbreitet, ging mit dem Ende der
Sowjetunion krachend unter. Solange aber kommunistische Diktaturen relevant
existierten, hörten die Elogen des Westens auf die unschätzbaren Vorzüge
ihrer Demokratien nimmer auf. Freiheit, Freiheit – persönliche Freiheit
des Individuums – das war das heilige, gebetsmühlenhaft wiedergekäute
Mantra des Westens.
Ach, wie sie sich echauffierten, amüsierten, wie sie hetzten und höhnten
über die armen Bürger der DDR, die nie äußern durften, was sie wollten,
die aberwitzige Wortungetüme wie „Jahresendfiguren“ für Weihnachtsengel
oder „Winkelemente“ für Fähnchen zu sagen hatten.
Solange die in der DDR sozialisierten Redakteure und Mitarbeiter des
Preußischen Landboten in dem ersten Arbeiter-, Bauern- und Bonzenstaat
auf deutschem Boden lebten, hat nie jemand von ihnen auch nur ansatzweise
diese Termini gebraucht, noch von ihnen gehört.
Im Gegenteil – dass es so gewesen sein soll, erfuhr man erst in der
Nachwendezeit. Irgendwelche Landsleute aus dem Westen hatten mutmaßlich
in technischen Unterlagen von Volkseigenen Betrieben herumgewühlt, die
mit der Herstellung dieser Produkte befasst waren und sind dann wohl
über diese verbalen Ausgeburten von gespreizten Bürotechnokraten gestolpert,
die aber nie den Weg zur Masse fanden.
Aber es ließ sich so herrlich ausschlachten. Ja, im Westen schreibt
dir niemand vor, wie dir der Schnabel gewachsen zu sein hat. Freiheit,
Freiheit … , die ja nach Frau Dr. Rosa Luxemburg unabdingbar auch immer
die Freiheit des Andersdenkenden ist.
Das mag so gewesen sein, bis die Mauer fiel, bis die Kommunisten die
weiße Fahne aufzogen und die Festungsschlüssel und den NVA-Offiziersdegen
übergaben. Dann war das Konkurrenzmodell Geschichte, und die freiheitliche
Fassade begann nach und nach abzubröckeln. Zunächst. Es dauerte eine
Weile, bis man aktiv wurde und die Reste dieser Freiheitsfassade mit
dem Vorschlaghammer beseitigte.
Es fing an, dass man Wilhelm Buschs „Fipps, der Affe“ umzuschreiben
begann: "Dem Neger wurd‘ das Herze bang, die Seele kurz, die Nase
lang …“ Was für ein Rassismus! Dann ging es den politisch unkorrekten
Märchenbüchern an den Kragen. Es setzte sich mit der Genderei fort und
je mehr das Volk nachgab, desto kühner wurden die Vergewaltiger der
Sprache unter dem hehren Vorwand, eine bessere Neue Welt zu schaffen.
Doch die Sprachregelung war nur der Versuchsballon, der Türöffner, der
Indikator dafür, wie weit man Zipfelmützenmichels freiheitliche Grundrechte
bescheniden könnte, ohne auf nenneswerten Widerstand zu stoßen. Und
siehe - als sich Widerstand zu regen begann, hatten diesen schon längst
die antidemokratischen Knallbonbons für sich entdeckt und okkupiert
und wer immer in dasselbe Horn zu tuten begann, fand sich schnell in
die braune Jauchekute katapultiert - und zwar von den Gralshütern der
Demokratie. ... die sich auch tatsächlich dafür halten: Die beseelten
Dummköpfe bemerken dabei nicht einmal, wie sehr sie plötzlich in den
Spuren der verhassten kommunistischen Diktatoren wandeln, wie unglaublich
ähnlich sie mittlerweile den von ihnen Verfemten wurden. Wie die Kinder,
die – unter ihren Eltern leidend – Stein und Bein schwören, dass sie
so nie sein würden. Und dann, Jahre später, wenn sie
plötzlich Worte von ihren eigenen Kindern an den Kopf geballert bekommen,
die ihnen so seltsam bekannt erscheinen …
Nein, schreien die modernen Suppressoren darauf angesprochen entrüstet!
Die Kommunisten haben die Leute eingesperrt! Das tun wir nicht! Stimmt.
Wenngleich auch die Kommunisten zumindest in der Spätzeit nur dann zugriffen,
wenn ihnen die Quengelei ernsthaft lästig wurde. Ihr Modus Vivendi erinnerte
an die Spätzeit der katholischen Kirche, die sich mit dem Karneval zu
arrangieren wusste. Was dann kam, war die Reformation, die in sich in
ihrem eifernden Toben, ihrer puritanischen Manier und ihrer lebensfeindlichen
Strenge schlimmer gab als die katholischen Asketen zuvor.
Nein, im Westen wird man nicht wegen Nonkonformismus eingesperrt. Noch
nicht. Hier kennt man sublimere Methoden, den Unangepassten, den Quertreiber,
den Nonkonformisten aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen –
still und leise. Exklusion par exellance! Denn das gesellschaftliche
Leben ist an einen Verdienst gekoppelt – und wenn man jemanden rausschmeißt,
weil er sich an gewisse Regeln und Übereinkünfte nicht halten will,
zieht man ihm oder ihr ebenfalls den Boden unter den Füßen weg. Und
dann, wenn der Mann oder die Frau keinen Fuß mehr in die Türe bekommt,
kann er oder sie sich auch selbst umbringen oder leise vor sich hin
verrecken – ganz wie’s beliebt.
Gleichzeitig tönen die Totengräber der Demokratie, welche sich infamer
Weise als deren Verteidiger aufspielen, Demokratie bedeute, dass man
gegensätzliche Meinungen aushalten muss. Die Rote Linie sei erst überschritten,
wenn die Menschenwürde attackiert wird.
Genau darum geht es: Wer entscheidet, wann die Menschenwürde verletzt
wird? Wer? Wer zieht die Kreise des „Erlaubten“ immer enger? Wer arbeitet
auf die berühmte Ironie hin: „In meinem Reiche herrscht Freiheit, brüllt
der Löwe: Bei mir kann jeder sagen, was ICH will!“
Ist das ein von der Regierung ausgeheckter, perfider Plan, wie die Verschwörungstheoretiker
behaupten? Blödsinn! Wenn überhaupt, dann duldet der Machtapparat dieses
Treiben mit stillschweigender Zustimmung. So, wie Wandlitz einst dafür
sorgte, dass in den leeren Kaufhallen bei allem Mangel jedoch immer
viel Fusel vorhanden war und es ab und zu irgendwo irgendetwas zu kaufen
gab, so dass die Leute aus dem Anstehen nicht mehr herauskamen.
Wer auf so banalen Nebenkriegsschauplätzen gebunden ist, wie den der
Ansteherei, der politischen Korrektheit, Genderei oder der Wörterstürmerei,
letztere geerbt von den Yankees – von allein wäre wohl in Deutschland
niemand auf diesen Unfug gekommen – der hat keine Ressourcen mehr, sich
um die wirklich anstehenden Probleme zu kümmern und dabei mitreden zu
wollen.
Im Übrigen zeigt sich die gesamte Bigotterie dieser Wörterinquisitoren
in dem klaffenden Gegensatz zur Realität: Im Heimatland dieses Schwachsinns
will man die Menschen dunkler Hautfarbe durch Vermeidung des Wortes
„Neger“ nicht mehr kränken. Statt dessen werden sie im Dutzend von der
Polizei über den Haufen geschossen, 13jährige Jungens, die sich ergeben,
16jährige Mädchen – egal, Hauptsache, man sagt nicht „Neger“ zu ihnen,
was etwas grundsätzlich anderes ist als „Nigger“. Gib ihnen keine gute
Ausbildung, keinen Job, keine Perspektive, keine Gelichbehandlung im
Alltag, lass sie in ihren Slums verelenden und verrecken, gleich neben
den Indinanern und den Eskimos, denen die Yankees Land und Leben stahlen!
Mach, mach, mach - aber kränke sie nicht mit dem N*-Wort! Das könnte
ihnen weh tun. Es ist zum irrsinnig werden!
Aber das dumme Volk schluckt alles, wenn es nur in homöopathischen Dosen
appliziert wird. Eine Prise Angstmache vor irgendwelchen Pappmaché-Wölfen,
dazu ein gerüttelt Pfund pauschale Diffamierung von Andersdenkenden
und schwupps – schon rennt die blökende Masse wieder begeistert in die
Hürde, welche wohlmeinende Hirten ihnen bauten. Und einmal drinnen,
wird es schon weitaus schwieriger, die einstige Freiheit zurückzuerlangen.
Eine Demokratie muss wehrhaft sein und ihren geschworenen Feinden die
Wacht am Rhein ansagen! Ihren geschworenen Feinden! Darauf liegt die
Betonung. Und auch diejenigen sind dazuzuzählen, welche demokratische
Freiheit unter fadenscheinigen Vorwänden einzuengen versuchen.
Evelyn Beatrice Hall soll Voltaire die Wort zugeschrieben haben: Ich
verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie
sagen dürfen. Ob Voltaire das nun so geäußert hat oder nicht – in diesem
Satz liegt das Wesen einer jeden Demokratie. Und dieses Wesen gilt es
wachsamer zu beschützen als Fafnr den Schatz der Nibelungen.
Dieses schreibt der Preußische Landbote zu Lenins Geburtstag und zu
seinem Gedenken – Lenin, der auch mit einer blutigen Utopie und noch
viel blutigeren Methoden versuchte, den Ausgebeuteten dieser Welt zu
ihrem Recht zu verhelfen und dessen Truppen die zu Erlösenden in deren
eigenen Namen zu Millionen umbrachten, quälten und in brutalen Gulags
zu Tode schunden.
Übrigens: Wenn die Kommunisten damals schon von der Diktatur des Kapitals
sprachen und damit größtenteils Recht hatten – denn ihre Kapitalismuskritik
war unschlagbar – dann verfing das nur deshalb nicht, weil das Konkurrenzmodell
das einfache Volk mit materiellem Wohlstand zu korrumpieren verstand,
der erwirtschaftet werden konnte, weil die Kräfte der freien Konkurrenz
nun einmal potenter sind, als eine durchreglementierte Planwirtschaft
es je sein könnte und – weil sich die Kommunisten durch ihre eigene
Jasager- und Abnickbude, genannt Volkskammer, zu sehr selbst desavouiert
hatten. Sie machten sich selbst so unbeliebt, so unglaubwürdig, dass
man schon eines besonders kühlen, analytischen Verstandes bedurfte,
die Botschaft vom Überbringer zu trennen und dabei zu begreifen, dass
die Roten absolut Recht hatten. Wer da glaubt, dass im Bundestag Politik
gemacht wird und dort die Strippen gezogen werden, der glaubt auch in
einem Nicolas-Cage-Schinken die lebendige Realität zu erleben. Ein Blick
ins Lexikon unter dem Stichwort „Lobby“ könnte erhellend wirken.
Das ist es, was die Demokratie wirklich gefährdet! Den Leuten, die tatsächlich
in der Lage sind, die Geschicke des Landes zu lenken, ist das Gendersternchen
vermutlich überwiegend scheißegal. Sie benutzen es höchstens, um nicht
aufzufallen. Politik ist keine Angelegenheit der Bühne – sondern des
Schnürbodens. Doch damit niemand dort hinblickt, ist er sorgsam vor
dem Parkett und den Rängen verborgen – das ästhetische Moment spielt
dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Kulisse ist dafür um so bunter,
und lauter und greller. Wie es schon beim großen Brecht heißt: "…
die im Dunkeln sieht man nicht."
Dass die Demokratie noch intakt ist, werden Sie vielleicht sagen, wird
schon dadurch bewiesen, dass kein Gestapoauto morgens um fünf Uhr vor
der Redaktion des Landboten hält um seine Mitarbeiter nach Sachsenhausen
zu deportieren. Ja, richtig! Erstens: NOCH! Und Zweitens: Der Landbote
ist zu unwichtig, seine Stimme zu leise, als dass es die Mühe verlohnte,
ihn zum Schweigen zu bringen. Im Gegenteil. Eine solche Aktion würde
ihm möglicherweise die Aufmerksamkeit verschaffen, die er in den neunzehn
Jahren seines Bestehens nie hatte. Märtyrer auf der Gegenseite braucht
nun wirklich niemand, der noch bei Verstand ist. Es ist billiger, den
Landboten umhertoben zu lassen, wie ein bockiges Kind in seinem Laufgitter.
Dem Landboten fehlt es an Fanatismus – daher ist er ungefährlich. Wie
Sie schon sagten – lässt man ihn bellen, so führt man sein Gebell augenscheinlich
schon allein dadurch ad absurdum. Auch die Sympathisanten von Diktaturen
sind nicht samt und sonders Idioten.
Man kann uns später immer noch im Wald von Baruth "auf der Flucht"
entsorgen, gleich neben der Demokratie, wenn diese so tot ist, wie wir
ein paar Tage später und wenn’s keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockt
und sich die Höckes und Kabelitzes in ihren Tagebüchern schier totlachen
über die Torheit der letzten Demokraten – ganz so – wie es schon einmal
einer getan hat. Nur – wie schon Mörder Mielke an jenem denkwürdigen
Tage 1989 zu seinen Genossen sagte: „ … diesmal helfen uns die Russen
nicht!“