Schrankenburg am Sabotagebalken
Michael
L. Hübner
Es gab mal eine Zeit, da wucherten die Geleise der Deutschen
Reichsbahn wie Nervengeflechte oder Blutbahnen eines werdenden
Organismus durch die deutschen Gaue. Das Stahlroß war
ein Indikator für das Wirtschaftswachstum. Das Kursbuch
vom Sommer 1935, das unter den wichtigen Nachschlagewerken seinen
Platz unmittelbar neben dem Redaktionsschreibtisch einnimmt,
gibt über die Gesamtsituation lebhaft Auskunft. Der Individualverkehr
begann sich erst sehr zaghaft zu entwickeln. „Die Drei
von der Tankstelle“ konnten weiß Gott jubeln, wenn
mal ein Automobil oder ein Motorrad vorbeituckelte. Große
Konkurrenz allerdings brauchten sie auch nicht zu fürchten.
Wer von A nach B wollte, der nahm halt die Bahn. Selbst das
Nebenstreckennetz war dermaßen ausgebaut, daß im
Prinzip kaum eine Kuhbläke weiter als drei Stunden zu Fuß
entfernt vom nächsten Haltepunkt lag. Bedeutende Industriemetropolen
waren denn auch naturgemäß Knotenpunkte für
den Eisenbahnverkehr. Doch die Schienenwege verknoteten sich
auch mit den Straßen des Reiches. Über- und Unterführungen
waren selten. Wozu auch? An den Bahnübergängen schrubbten
Bahnbeamte als Schrankenwärter ihren verantwortungsvollen
Dienst. Das Streckentelephon klingelte. Eine gewichtige Amtsperson
mit gezwirbeltem Schnauzer verließ das Bahnhäuschen
und kurbelte beide Schranken herunter. Die wenigen Kraftfahrzeuge
hielten inne. Tuff, tuff, tuff, ein Personen- oder Güterzug,
gezogen von einer guten alten BR 52, schnaufte, quietschte und
stampfte vorüber. Der Schnauzbärtige kurbelte erneut.
Die rot-weißen Balken hoben sich. Der Chauffeur kurbelte
seinerseits am Motor seines DKW’s – der Motorradfahrer
trat die Maschine an, seine Frau im Beiwagen schob sich die
Motorrad-Brille über die Nase und weiter ging’s!
Wochenend und Sonnenschein…
Dann aber nahte die Epoche in einem der beiden Rumpfstaaten
des Deutschen Reiches, im Arbeiter- und Bauern-Paradies nämlich,
da der Individualverkehr rasant zunahm – muß so
in den Sechzigern und Siebzigern des letzten Jahrhunderts gewesen
sein. Die Deutsche Reichsbahn war noch immer ein so gewaltiges
Unternehmen, daß man getrost von einer parallelen Macht
in der DDR sprechen konnte. Auch die weitläufige Demontage
von Geleisen durch die Russen nach dem verlorenen Krieg und
erste Streckenstillegungen, beginnend in den frühen Sechzigern,
taten dieser Macht kaum Abbruch. Das Schienennetz blieb immens,
die bedienten Strecken gewaltig und der Personen- und Güterverkehr
stand der Vorkriegssituation kaum nach. Wenn sich die Bosse
des geflügelten Rades in irgendeiner Frage quer legten,
dann japste selbst das allmächtige Politbüro der SED.
Verhandlungsführer von Bezirks- und Kreisebenen bekamen
nicht selten graue Haare, wenn sie sich mit der Reichsbahn zu
arrangieren hatten.
Für Brandenburg an der Havel begann sich Ende der Sechziger
die Situation unerträglich zuzuspitzen. Man kam praktisch
von keiner Seite in die Stadt, ohne Geleise zu kreuzen. Nur
der Weg nach Nordosten, nach Klein Kreuz, verlief zunächst
parallel der Krakower Trasse und im Norden wurde man erst in
Pritzerbe auf der F 102 sanft ausgebremst.
Daneben gab es noch kleinere Bahnbetreiber unter dem Dache der
Reichsbahn, die sowohl die Krakower-, so auch die Belziger und
Rathenower Strecke befuhren, Nachfolger der Städtebahn
und der Westhavelländischen Kreisbahn. Hafen- und Industriebahnen
ergänzten das Spektrum. Der Individualverkehr stöhnte.
Wartezeiten an Schranken, die unter anderem wegen des lebhaften
Rangierbetriebes geschlossen wurden, so in der Potsdamer und
der Magdeburger Landstraße, zogen sich schon mal locker
über eine Stunde und mehr hin. In diesen kummervollen Tagen
nannte der Volksmund die Chur- und Hauptstadt despektierlich
„Schrankenburg am Sabotagebalken“.
Ende der Sechziger bis Mitte der Siebziger krempelte die Arbeiter-
und Bauernmacht dann die Ärmel hoch und überbrückte
die beiden nervtötendsten Kreuzungspunkte von Schiene und
Chaussee sowohl an der Potsdamer Straße als auch am Altstädtischen
Bahnhof. Auch am Quenz überflog die Magdeburger Landstraße
lästige Stahlwerksgeleise und ließ stadteinwärts
die alte Reichsstraße 1 im wahrsten Sinne des Wortes links
liegen.
Nun kam man wenigstens zur Autobahn und nach Genthin, ohne eine
Notfallverpflegung mit sich führen zu müssen.
Wer aber nach Ziesar (Zicken-Tirol), nach Göttin oder,
was weitaus schlimmer war, nach Potsdam über die F 1 wollte,
der war weiterhin verraten und verkauft. Und ist es bis heute.
Zwar gab es an den dortigen Schranken noch nie Rangierbetrieb,
aber selbst der sehr ausgedünnte Personenverkehr und der
noch spärlichere Güterverkehr sowie moderne ferngesteuerte
„Schnellschlußschranken“ sorgen an den besagten
Berührungspunkten von Eisen und Asphalt noch immer für
mannigfaltige Gelegenheiten zur Meditation. Zugegeben, es geht
nicht mehr um Stunden – mit etwas Glück ist man zur
Stoßzeit auch in Wust innerhalb einer Viertelstunde über
den Damm – aber will man das Einkaufszentrum besuchen,
so hat man gute Chancen, auf dem Rückweg zu einer Zwangspause
von gleicher Länge zu kommen. Gollwitz, Wust, Göttiner
Schranken, Gördenschranken, die am ehemaligen Schlachthof
und die am Gasthaus an der Plane lassen Nostalgiker noch immer
reichhaltig auf ihre Kosten kommen.
Nun müssen wir aber auch ehrlich gestehen, die Herausforderungen,
all diese neuralgischen Punkte zu überbrücken oder
zu untertunneln sind enorm. Mütterchen Havel spricht da
ein entscheidendes Wörtchen mit. Sie versumpft und destabilisiert
den Baugrund dermaßen, daß jedes verkehrsentlastende
Bauwerk rund um Brandenburg an der Havel mindestens dreimal
teurer wird als ein gewöhnliches dieser Art in baufreundlicherer
Gegend.
Nun kam man aber nicht jede Schuld der Mutter aller märkischen
Wässer ins feuchte Strombett schieben: Was die bettelarme
DDR zuwege brachte, ist der stinkreichen Bundesrepublik nicht
möglich? Welch ein Armutszeugnis! Im 18. Jahr der deutschen
Nachwende-Einheit rühren sich die Spaten erstmals in Gollwitz.
Die geplante Entlastung des Horror-Übergangs Wust wird
trassiert und trassiert und die Inangriffnahme Jahr für
Jahr wahlweise auf Pflaumenpfingsten bzw. St. Nimmerlein verschoben.
Das Wirtshaus an der Plane, seit Jahren fest in chinesischer
Hand, wird irgendwann todsicher seine Speisekarte um eine exotische
Spezialität bereichern können – Radfahrer am
Spieß, oder gegrillt, mit Glasnudeln, Morcheln und Bambussprossen
– lecker, lecker! Anlieferung frei Haus – denn der
Kreuzungspunkt zwischen Radweg, Chaussee und Schienenfernweg
von Berlin nach Magdeburg liegt genau vor der Hoftüre.
Nur wenige Velozipedisten steigen ab – die meisten lassen
sich auf das Kamikazewagnis ein, sich zwischen dem gleichgerichteten
und dem Gegenverkehr waghalsig hindurchzufädeln. Für
alle Ortsunkundigen: just auf diesem Bahnübergang wechselt
der Radweg die Straßenseite und das in einer Schienenbedingten
S-Kurve. Drunter durch fließt das Flüßchen
Plane dem Mütterchen Havel zu und ist wahrscheinlich heilfroh,
wenn es dieses Nadelöhr unbeschadet hinter sich gelassen
hat.
Diese Freude teilen viele Brandenburger mit ihrer Plane, wenn
sie sich wohlbehalten auf der anderen Seite wiederfinden. Es
ist ein bißchen wie Potsdamer Platz in Berlin in den späten
Zwanzigern… Ach Gott, was gäben sie für eine
zeitgemäße Lösung des Problems!
Was aber eine zentrale Planwirtschaft zu leisten vermochte,
ist einer dezentralen Marktwirtschaft scheinbar unmöglich.
Wer soll’s zahlen? Bund, Land, Gemeinde oder gar die Europäische
Union? Oder alle zusammen und wenn so, wer dann wieviel? Und
wer hat die Planungshoheit? Wer macht die Ausschreibung und
darf sie wie „anpassen“, daß welcher Favorit
das Angebot auch ganz sicher nach Hause bringt? Schließlich
geht es eventuell, wie in der Bananenrepublik Deutschland mittlerweile
gang und gäbe, um Millionen an steuerfreien Schmiergeldern.
Bei all diesen Unwägbarkeiten stehen nur einige wenige
Variablen wirklich fest: Erstens, die EU verlagert so peu a
peu ihre Prioritäten nach Osten und Südosten; Zweitens,
Bund und Land geben sich pleite und Drittens: die Kommune ist
es wirklich.
Doch als zonegeborener Dialektiker bemüht man sich natürlich
auch um die positive Seite des Ganzen. Die Insuffizienz einer
der leistungsstärksten Nationalökonomien der Welt
führt in diesem Falle zu einer zwangsweisen Entschleunigung
des Lebens, welche dankenswerter Weise dem, der sie zu nutzen
versteht, einigen Spielraum für Kreativität und Gestaltungskraft
beschert. Ein guter Teil dieses Beitrages wurde ersonnen und
geschrieben auf einem IBM-T42-Thinkpad an den Schranken von
Wust und der Göttiner Vorstadt, bevor nach endlos langen
Warteminuten Regionalexpreß, Ferkeltaxe, HanJin-Waggons
und Railion-Loks vorüberstoben...da-damm, da-damm, da-damm,
da-damm…