Missbildungen der Bildung
J.-F. S. Lemarcou
Das deutsche (Un-) Bildungssystem
zerfällt in eine Primarstufe, eine Sekundarstufe I, eine
Sekundarstufe II, einen Tertiärbereich, einen Quartärbereich
und am Ende zerfällt die ganze Bildung. Auf die Grundschule
gehen die Schüler noch gemeinsam. Dann wandern einige auf
eine Gesamtschule, andere werden in die Sonderschule delegiert,
manche zieht es auf die Hauptschule, das Gymnasium nimmt Geeignete
wie Ungeeignete auf und schlussendlich finden sich manche auf
der Realschule wieder. Alle lernen sie etwas anderes, oder von
diesem soviel und von jenem soviel und rauskommen sie aus dieser
Bildungsmühle als ein großes Kollektiv von Ahnungslosen.
Wo Polen ist und wie die Hauptstadt des Senegal heißt
– keine Ahnung. Wer Bach war und wer Ulbricht, und dass
es überhaupt einen Dreißigjährigen Krieg in
Europa gab, in dem Magdeburg magdeburgisiert wurde – was
zum Teufel ist Magdeburg? – keine Ahnung.
Verstehen Sie uns nicht falsch – Margot Honecker ist für
uns der lebendige Beweis, dass die Theorie von Heinrich Kramer,
materialisiert im Malleus Maleficarum, doch nicht jeder Grundlage
entbehrte. Das Schulsystem der DDR aber hatte einiges für
sich: Man ging zehn Jahre gemeinsam auf eine Polytechnische
Oberschule (POS), mitunter auch auf eine Spezialschule, wie
eine Schule mit erweitertem Russischunterricht, einer Sport-
oder Musikschule. Aber der überwiegende Teil der Kinder
– und das war die Hauptsache – blieb ein entscheidendes
Jahrzehnt beieinander. Sie lernten gemeinsam. Und was sie lernten,
entsprach einer absolut soliden Grundausbildung. Die war so
gut, dass ein durchschnittlicher POS-Absolvent aus dem Jahre
1980 einer Gymnasiastin, die stolz an ihrem zum bestandenen
Abitur von Oma und Opa geschenkten Golf die Heckscheibenaufschrift
„ABI 2008“ zu prangen hat, locker bei Jauch die
Show stehlen würde. Da könnten die Löckchen noch
so blond und der Ausschnitt noch so unergründlich tief
sein…
Aber die Zone erstickte an ihrem eigenen Selbstbetrugswahn.
Sie wurde von den „Alten Bundesländern“ geschluckt,
von denen keines auch nur annähernd so alt ist wie Brandenburg
oder Thüringen. Aber auch das – geschenkt. Fakt ist,
dass man nunmehr das Kind mit dem Bade ausschüttete, was
mindestens so töricht war, wie man die Kommunisten landläufig
einschätzte. Deren allgemeinbildende Oberschule hatte dem
westlichen Bildungssystem viel voraus, auch wenn dem pluralistischen
Westen schon aus gesellschaftspolitischen Gründen diese
Art von Vereinheitlichung zutiefst widerstrebte. Man wusste
alles besser. Und was von den Roten kam, konnte nur Blödsinn
sein! Irrtum. Jetzt entdeckt die gute alte Arbeitertante SPD
in Berlin die Vorteile einer Schule für sich, die Klassengemeinschaften
eben nicht alle paar Jahre auseinander reißt. Manche Bundesländer
exerzieren das nämlich schon eine Weile mit einigem Erfolg.
Wenigstens sieben Jahre sollen die Kinder beieinander bleiben.
Man ist schon versucht zu sagen: Besser spät als nie! Aber
achtzehn Jahre nach der Wende! Himmelherrgott. Lag das an der
liberalen westdeutschen Schulbildung, dass man achtzehn Jahre
lang nicht in der Lage war auch nur darüber nachzudenken,
welche Vorteile es mit sich bringt, wenn man klugerweise die
Botschaft vom Überbringer trennt und Inhaltsbezogen operiert?
Der Verdacht liegt nahe. Im Übrigen schwächt dieses
gut gemeinte, aber dennoch in sich zerrissene Bildungssystem
auch den späteren sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft
nachhaltig. Klassenkollektive blieben sich oftmals über
Jahrzehnte verbunden, weil sie in einer das Individuum prägenden
Zeit zueinander fanden. Kinder, die von „Kurs“ zu
„Kurs“ hetzen, immer wieder andere Gesichter sehen
– werden kaum in der Lage sein, solch intakte soziologische
Gefüge aufzubauen und zu gestalten. Aber das ist ja in
einer Gesellschaft offensichtlich auch nicht gewollt, welche
die Individualität der Persönlichkeit mindestens in
so pathologischem Maße betont, wie die Bolschewiken einst
deren Vergesellschaftung.
Und was soll das überhaupt: Kurse abwählen können?
Neigungsbezogene Pädagogik? Das Individuum gezielt in seinen
Stärken fördern und seine Schwächen zeitsparend
ignorieren. Der Ansatz ist nicht schlecht, zugegeben. Aber das
funktioniert nicht im gewünschten Umfang! Leider nicht.
Hinten raus kommen keine universal denkenden Menschen sondern
zumeist Fachidioten und Subsubspezialisten. Überspezialisierung
aber ist der natürliche Feind der Flexibilität. Das
ist schon den Sauriern zum Verhängnis geworden. Wenn jedoch
derselben Dynamik folgend der Saurus scholae teutonici occidentali
ins Wanken käme, das wäre schon ein positiv synergetischer
Effekt.