Das Gedächtnis
der Stadt
Anke Richter ist die Chefin des Stadtarchivs
Michael L. Hübner
„Über mich
gibt es nicht viel zu berichten“, wehrt die junge, blonde
Anfangsvierzigerin bescheiden ab. Diese Aussage wird die einzige
bleiben, die aus ihrem Munde unglaubhaft klingt. Anke Richter
ist die Hüterin des Gedächtnisses der Stadt Brandenburg
und das schon seit 2002. Im Sprachgebrauch der Stadtverwaltung
klingt das natürlich weniger blumig, offiziell ist sie
die Leiterin des Brandenburger Stadtarchivs. Stadtarchiv…,
ist das nicht so ein finsteres Gewölbe, voller Staub und
Spinnweben und endlosen Bergen von vergilbtem Papier, in dem
ein uraltes Männchen umher wuselt, welches seit Jahrhunderten
kein Sonnenlicht mehr sah? Sitzen da nicht zwischen den Regalen
ebensolche weltvergessenen Greise, die sich Historiker nennen
und an Folianten schreiben, die niemanden interessieren und
nur den einen Zweck haben, in jenen Regalen zu verschwinden?
So weit das Klischee. Anke Richter aber ist die Frau, die buchstäblich
jedes Klischee zertrümmert, was man unvorsichtigerweise
mit ihr in Verbindung bringt. Blond? Anke Richter ist hellwach
und hochgebildet - Verwaltungsbeamtin im gehobenen Dienst. Weltabgeschiedene
Archivarin? Nichts da mit dunklen Gemäuern. Anke Richter
hatte das große Privileg, ein kommunales Archiv neu aufzubauen,
das verstreute Material aus acht verschiedenen Standorten in
den Räumen der Brennabor -Werke zusammenzuführen und
„ihr“ Archiv zu einem hochmodernen kommunalen Dienstleister
zu entwickeln. Das der Oberbürgermeisterin direkt unterstehende
Haupt-, Personal- und Bürgeramt hatte beizeiten erkannt,
wie wichtig ein funktionierendes Gedächtnis für eine
Stadt ist und dem Archiv die neuen Räume über der
Agentur für Arbeit zur Verfügung gestellt. Mit Anke
Richter wurde dann die Stelle der Archivleiterin optimal besetzt.
In Brandenburg-Nord aufgewachsen, später mit den Eltern
nach Hohenstücken gezogen, blieb Anke Richter stets eng
mit der Heimatstadt verbunden. Nach dem Schulabschluss erlernte
sie den Beruf eines Zerspanungsfacharbeiters mit Abitur. Für
sie war das der einzige Weg, an einen der begehrten Abiturplätze
zu kommen. Der Vater war zwar Stahlwerker, jedoch kein Vertreter
der Arbeiterklasse. Für Kinder der Intelligenz war der
Weg zur Erweiterten Oberschule nicht eben mit Rosen gepflastert.
Nach dem Abitur wusste Anke: „Getriebewerk, Zerspanerei
– das war‘s! Nie wieder! Nichts wie weg.“
In der „Jungen Welt“, der damaligen Jugendtageszeitung,
las sie ein Inserat, das auf eine Ausbildung zum Archivar hinwies.
Sie bewarb sich und hatte unverschämtes Glück: 30
Ausbildungsplätze gab es in der DDR nur pro Jahr. 150 junge
Leute hoben den Finger –Anke zählte zu den Glücklichen.
Drei Jahre studierte sie in Potsdam und schwärmt noch heute
von ihrem Internatszimmer, einer ehemaligen Dienstmädchenwohnung
in der Babelsberger Villa des UFA-Stars Brigitte Horney. Unter
demselben Dach hatte die Diva einst den von den Nazis verfolgten
Erich Kästner versteckt.
Mit der Option eines erfolgreichen Abschlusses sicherte ihr
der damalige Rat der Stadt eine Stelle als stellvertretende
Archivdirektorin zu, die sie dann auch 1987 an der Seite von
Dr. Heß antrat. „Als stellvertretender Chef weißt
du immer, was du besser machen könntest. Hast du dann aber
selbst den Hut auf, dann musst du’s auch unter Beweis
stellen“, sagt Anke Richter. 2002 wurde sie dann die Nummer
1, nachdem sich Dr. Heß in den Ruhestand verabschiedet
hatte. In der Zwischenzeit absolvierte sie einen 600stündigen
Beamtenanpassungskurs, publizierte fleißig für die
Fachpresse und wirkte auch am Brandenburger Standardwerk „Stahl
und Brennabor“ mit einem selbständigen Kapitel mit.
Mittlerweile ist Anke Richter im Vorstand des Landesverbandes
der Archivare tätig, sowie in der staatlichen Prüfungskommission
für den relativ neuen Ausbildungsberuf der Fachangestellten
für Medien- und Informationsdienste. Eine Frau hatte sich
in eine Männerdomäne hineingekämpft und dort
souverän profiliert.
Ihre Hauptarbeit besteht in der sehr arbeitsintensiven Pflege
ihrer verschiedenen Archive, allein 500 laufende Meter (lfm)
Archivmaterial kommen jährlich hinzu. Da gibt es das Zwischenarchiv,
Endarchiv, das medizinische Archiv… und die unvermeidliche
Verwaltungstätigkeit. Nebenher arbeitet sie mit Hochdruck
an einer modernen Repräsentationsform des Stadtarchivs,
organisiert Tage des offenen Archivs, Führungen, Buchvorstellungen,
historische Bildungsarbeit, hilft Benutzern bei der Recherche,
ordnet, bewertet, kassiert alte Bestände und, und, und.
Anke Richter hat sich als Chefin erfolgreich profiliert. Sie
konnte ihre Ideen weitestgehend umsetzen. Der Beruf macht große
Freude – aber ein wenig Kompensation braucht man doch
in der Freizeit. Also läuft sie, bereitet sich auf Halbmarathon
und Marathon vor, mal eben von Plaue nach Kade und zurück
– also, die dreißig Kilometer möchten schon
in weniger als zwei Stunden geschafft sein. Uff. Der Drahtesel
wird geschunden, Yoga betrieben. Und wenn jetzt einer an die
ganz fanatischen Körper- und Geistorientierten denken sollte
– auch dieses Klischee wischt Anke Richter vom Tisch.
„Alles in Maßen…“, lacht sie und beißt
herzhaft in den selbstgebackenen Kuchen. Da der Sohn jetzt zum
Studium nach Hannover ist, haben ihr Mann und sie jetzt auf
einmal viel Freizeit! Beruf, Laufen und Fahrradfahren sind ja
schließlich nicht alles. Das eigene Haus steht, die beiden
Schildkröten-Herren, an denen Anke Richters Herz hängt,
giften sich einträchtig über ihren kleinen Zaun hinweg
an – also wohin mit dem Rest des Tages? So haben sich
Anke Richter und ihr Mann, der gleichzeitig ihr Lauftrainer
ist, ein Segelboot gekauft und durchpflügen die Havelgewässer
rund um Plaue. Ach, das Leben kann schön sein. Und so ausgefüllt,
wenn man etwas damit anzufangen weiß. „Wie der Herr,
so’s Gescherr“, sagt der Volksmund. Anke Richter
ist eine leistungsstarke und dynamische Tochter der Havelstadt
– ein Garant für ein vitales und lebendiges Stadtgedächtnis.