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Wüste Dörfer, Industrieruinen
- verlassene Gemarkungen im Lande Brandenburg
Don Miquele Barbagrigia
Derrentin, Planow, Bätz, Krakow,
Dangelsdörp, Escholt, Friesdorf, Jaldorf, Brüke, Lesekendorf,
Hatenow, Oberzlow, Schmölln, Beetz, Lüttgendorf, Zernow, Heinsdorf,
Schleesen – alles Dorfnamen aus der näheren und weiteren Umgebung
der Stadt Brandenburg an der Havel. Ein paar von vielen. Warum wir sie
aufzählen? Weil Sie diese Dörfer wahrscheinlich auf keiner Landkarte
der Region mehr finden können. Es sei denn, Sie verfügen über
ähnlich gutes und altes Kartenmaterial wie wir. Und wenn doch, dann
sind sie meist durch drei rote oder schwarze Punkte gekennzeichnet, die
ein optisches Dreieck bilden.
Leider ist es aus der Mode gekommen, Wüstungen in Atlanten und modernen
Straßenkarten mit aufzuführen. Eigentlich schade. Denn wir
haben einige dieser aufgelassenen Dorfstellen besucht. Viel ist meist
nicht mehr zu sehen von den einstigen Gemeindesiedlungen. Oft nämlich
sind sie schon vor weit über einem halben Jahrtausend verlassen worden.
Zu der Zeit aber, als die letzten Bewohner ihre Habseligkeiten packten
und das Dorf ihrer Voreltern verließen, da blieben Lehmhütten
zurück und überdachte Erdlöcher und das Einzige, was massiv
war und dem unerbittlichen Zahn der Zeit etwas hartnäckiger trotzte,
war, wenn überhaupt, die Dorfkirche. Das Gotteshaus, das wichtigste
Gebäude der christlichen Gemeinde ist aus mehreren Gründen schon
in der Frühzeit der christlichen Besiedelung der Mark in Stein aufgeführt
worden: Es bot beispielsweise Schutz vor marodierenden Freischärlern,
oder vor benachbarten Feudalherren, die mit dem eigenen Grundherren in
Fehde lagen und diese im Allgemeinen nicht in einem fairen Faustkampf
oder Tjost mit ihrem direkten Gegner – sondern viel lieber auf dem
Rücken von dessen Bauern und Sassen austrugen. Und so ragt heute
an diversen Stätten ein einsamer Westgiebel zwischen den Bäumen
dichter Wälder empor und man weiß, hier stand die Kirche, deren
Mauern noch im Umriß erkennbar sind. Hier muß der Kirchhof
gewesen sein und so oder so wird sich das Dörfchen um sein Gotteshaus
gruppiert haben.
Ruine der Dorfkirche der Wüstung Schleesen
Manchmal geht dann die
Phantasie mit dem Betrachter durch und er stellt sich vor, wie mag das
wohl gewesen sein – ein paar Kinder in Leinenkitteln und barfuß
jagen einander spielend über den staubigen Anger, vorbei an den Kreuz-
und steinlosen Grabhügeln rings um die noch intakte Kirche, ein durchreisender
Händler zieht seinen mit Krügen und Stoffen beladenen Esel über
die Dorfstraße, ein paar Alte sitzen vor den Lehmhütten mit
Handarbeit befaßt, während die jüngeren versuchen, dem
kargen Boden der Umgebung mühsam ein wenig Korn und Feldfrüchte
abzutrotzen. Hühner und borstige Schweine gakeln und grunzen und
picken und wühlen auf der Suche nach Freßbarem, die paar Kühe
und Schafe werden vom Hirten beaufsichtigt und zusammengehalten. So oder
so ähnlich wird sich der Alltag in diesen Dörfern abgespielt
haben. Genau wie in den anderen, die noch heute existieren, die ihren
Ortskern vielleicht im Laufe der Zeit etwas verschoben haben, oder den
Namen geringfügig verändert – aber eben noch immer bewohnt
werden, und noch immer verzeichnet sind auf den Straßenkarten des
Reiches, und eine eigene Postleitzahl besitzen.
Warum aber sind die einen noch bewohnbar und die anderen weitestgehend
dem Gedächtnis selbst der ansässigen Bevölkerung entschwunden?
Weil Dörfer früher und gerade zu Zeiten ihrer Gründung
Wirtschaftseinheiten waren. Klingt martialisch, nicht wahr? Es trifft
aber den Kern der Sache. Städte waren zu dieser Zeit die Ausnahme.
Dörfer die Regel. Und in diesen Dörfern wurden Lebensmittel
produziert. Lebensmittel, die zum einen den Produzenten ernähren
mußten und darüber hinaus noch einige andere Menschen mehr:
Den Kaiser und den Bischof, den Richter und den Grundherren, dessen Gesinde
und die Soldaten, die Kaufleute und die Handwerker. Alle wollten Brot
und Bier, Käse und Fleisch. Konnten es aber aufgrund anderer Verbindlichkeiten
nicht selbst produzieren. Das lag in der Verantwortlichkeit des Nährstandes
– die Bauern, die Knechte und Tagelöhner, die Mägde und
Kossäten und Hüfner, die mußten ran! Das war die Landbevölkerung,
von derer Hände Arbeit das Reich lebte.
Nun waren die Ausgangsbedingungen für dörfliche Neugründungen
während der Kolonisationsperiode nie dieselben. Das eine Dorf entstand
in der Nähe eines Sees. Eine Handelstraße führte hindurch
oder verlief nahebei. Die Böden in der Umgebung waren fett. Wald
und damit Holz waren im Überfluß vorhanden. Andere hingegen
hatten es nicht so gut: karge Sandböden machten den Anbau von Getreide,
Kohl oder Rüben zur Hölle. Für frisches Wasser mußte
man lange laufen. Durchreisende verirrten sich selten in den abgelegenen
Weiler. Wollte man Selbstgetöpfertes verkaufen, dann mußten
lange Wege in Kauf genommen werden. Man hatte beim Monopoly schon gleich
zu Beginn ein paar ganz miese Würfe getan! Doch das wollte noch nicht
allzuviel besagen.
Vielleicht war es auch irgendwann einmal ganz gut und von großem
Vorteil, daß sich im Dorfe keine Handelswege und Fernverbindungen
kreuzten. Wer weiß, war es nicht der Scherenschleifer, der letzten
Monat durchreiste, der die Pest mitbrachte zum reichen Nachbarn? Und für
den zornigen Ritter Kuno von Oldensleben* brachte es wenig, das arme Dorf
Wendow* zu überfallen, um seinem Nachbarn Dietrich von Holzogen*
eins auszuwischen. Dieses Dorf, das wußte Herr Kuno, brachte seinem
Herrn eh nichts als Ärger ein. Die Abgaben waren vernachlässigbar.
Und schlecht zu erreichen war es ohnehin. Das lohnte nicht. Groß-Buckow*
– das war doch mal ein fetter Happen! Die Bauern hatten gewiß
so manchen Batzen unter den Dielen des Hauses versteckt, die Schafe und
Kühe waren fett, der Dorfkrug war schon imposant, der Krüger
so feist wie der Schulze und der Pfarrer. Und so ging in einer furchtbaren
Winternacht Groß-Buckow in Flammen auf, so daß man den hellen
Nachthimmel bis nach Wendow sah. Männer und Alte wurden erschlagen,
junge Frauen, derer die Strauchritter habhaft werden konnten, wurden vergewaltigt
oder entführt und Kinder dem Hunger überlassen. Das Dorf verödete.
Ritter Kuno hatte ganze Arbeit geleistet. Wendow blieb eine arme Kuhbläke
durch die Jahrhunderte – aber es blieb! Bis zu dem Tag, als irgendein
findiger Kopf in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts
herausfand, daß sich die Gegend hervorragend eignete, um als Luftkurort
Lungenkranke zu heilen. Bis zum Fluß sind es mit dem Auto nur zehn
Minuten, bis zur Hauptstadt dank der fünfzehn Kilometer entfernten
Autobahn nur eine Stunde. Und wenn der Reisende eine gute Karte besitzt,
dann findet er dort, wo die Autobahn über den Fluß führt,
drei rote Punkte, die ein Dreieck bilden: Großbuckow steht dahinter.
„Schau mal, Jürgen, hier muß mal ein Dorf gewesen sein.“
„Ich kann jetzt nicht, ich muß auf den Verkehr achten. Der
Lasterfahrer da vorne muß doch wohl pennen…“ Sic transiet
gloria mundi!
Auch hier spielten also viel Zufälle und unvorhersehbare Ereignisse
eine Rolle.
Wir haben eingangs nicht umsonst betont, daß es sich bei diesen
Dörfern um organische Wirtschaftseinheiten handelte. Im Prinzip nichts
anderes, als heutige Fabriken oder Produktionsstätten. Denn das ist
der Hintergrund dieser Abhandlung.
Ein Betriebsausflug führte uns jüngst durch das verlassene Industriegelände
von K. Es war eine eigentümliche Romantik, die von den leerstehenden
Produktions- und Verwaltungsgebäuden ausging. Dem nüchternen
Betrachter aber erzählten sie dieselbe Geschichte wie beim Anblick
der kniehohen, aus Feldsteinen gemauerten Wandreste der Kirche zu Schleesen
vor dem Hintergrund ihres traurig in den Himmel ragenden Westwerkstumpfes.
Hier eine halbverfallene Zisterne, einige Gruben, die den Standort unterkellerter(!)
Hütten anzeigten, dort ein halb verfallenes Toilettenhaus und ein
paar leergefegte Hallen, in deren Betonfußböden noch die abgefederten
Fundamente gewaltiger Maschinen erkennbar waren. Keine Schleesener Dorfjugend
mehr, die sich kreischend um die Zisterne jagt, keine schwatzenden Mägde,
brüllenden Ochsen; keine Arbeiter; Meister, Ingenieure mehr, kein
Lärm stampfender Maschinen.
verlassene Industriehallen
Auch in K. rentierte sich irgendwann einmal die Arbeit nicht mehr, konnte
das hergestellte Material nicht mehr verkauft werden. Die Stätten
wurden stillgelegt. Sie verödeten, eingeschlagene Fenster, im Wind
knarrende Türen, ein paar zerknautschte Bierbüchsen in ausgestorbenen
Räumen als Hinterlassenschaft abenteuerlustiger Jugendlicher –
das alles gibt uns Zeugnis vom einstigen Treiben. Es lehrt uns andächtig
sein vor dem Zeitenwandel. Es zeigt uns die Vergänglichkeit alles
Seienden. „Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht!“,
lehrt uns Goethe. Hier sehen wir es, hier können wir es fühlen
und begreifen. Nichts ist von Dauer, nichts hat Bestand. Die Karawane
zieht weiter, immer weiter. Sie tat es im vierzehnten Jahrhundert, als
sich die Überlebenden von Groß Buckow schweren Herzens entschlossen,
der Heimat für immer den Rücken zu kehren. Sie tat es 1990,
als ein Arbeiter des K.’schen Werkes von der letzen Schicht nach
Hause kam und seiner Frau erklärte: „Nu, Edith, nu is Vaddern
arbeitslos! Und det nach dreißich Jahren. Sone jottvafluchte Scheiße.
Watt soll denn nu wern?!“ Und Edith ein paar Tränen die Wangen
herabrannen, als sie den Kaffe aufsetzte, gerad so wie ihrer Buckower
Urahne, als diese das nun vaterlose Gör an der Hand und die Zicke
am Strick von der Brandstätte hinwegführte, die einmal ihr Haus
gewesen war.
Die Flur von Groß-Buckow ging später in andere Besitzungen
über, der König nahm sich etwas, als das Geschlecht derer von
Holzogen kurze Zeit später ausstarb. Ritter Kuno ging nach einem
Vergleich auch nicht leer aus; ja selbst die bettelarmen Vettern aus Wendow
bekamen ein paar Weidegründe. Auch das verödete Industriegelände
wurde neu parzelliert. Ein paar kleine Unternehmer siedelten an. Die Altlasten,
die überwucherten Schienen der Werksbahn, das alles von Grund auf
neu aufzurichten, es war ein Wagnis.
Aber dieses Wagnis muß eingegangen werden. Hier und jetzt! Denn
heutzutage zieht die Karawane sehr schnell sehr viel weiter. So weit,
daß ihr die meisten ansässigen Menschen nicht zu folgen vermögen.
Das ist die hauptsächlichste Lehre, die uns die verlassenen Mauern
mitgeben: So, wie Groß-Bukow, das einst bedeutende Dorf, auf dem
Weg zur Stadt, mit einem Male in der Bedeutungslosigkeit verschwand, so
könnte es binnen kurzem geschehen, daß auch der Name Deutschland
eines Tages nur noch in alten Chroniken zu finden sein wird. Was dagegen
getan werden kann, das sollte getan waren – ohne zu zögern
und mit großem Enthusiasmus. Anderenfalls wird die unbarmherzige
Geschichte den Fortgang der Dinge mit eisernem Griffel festschreiben.
Und es wird wenig Platz sein für die, die sich ihres übervoll
gedeckten Tisches heut noch sorglos sicher sind.
*Diese Personen- und Ortsnamen
sind fiktiv und stehen stellvertretend für die vielen, tatsächlichen
Ereignisse, von denen uns die alten Chroniken berichten. Das Dorf Schmerzke
beispielsweise wurde im 15. Jahrhundert gar von einem Magdeburger Erzbischof(!)
am Weihnachtsabend(!!!) überfallen und niedergebrannt. Es hat diesen
mörderischen Anschlag jedoch glücklicherweise bis heute überlebt
und erweitert seine Bevölkerungszahl seit Jahren durch großzügige
Neubebauung erheblich.
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