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S. M. Druckepennig
Ziemlich gedrückt kam
der Chef letzten Donnerstag von der Beisetzung einer Freundin heim, mit
der zusammen er vor zwanzig Jahren das Abitur gemacht hat. Eine Seele
von Mensch sei sie gewesen; die Alten würden sagen: zu gut für
diese Welt. Sie, aufopfernde Mutter von zwei Kindern und lebendiger Mittelpunkt
eines kleinen Hauses, ging vor ihrer Zeit. Aus freiem Entschluß,
wie es hieß. Aber um genau diesen Punkt entfachte sich die Diskussion.
Man erinnere sich des Artikels "Wider den Selbstmord" aus dem
ersten Volumen, in dem ich, der Herr Druckepennig, scharf gegen die Option
des sogenannten Freitods zu Felde zog. Der Chef, selbst ein von seinem
nächsten Umfeld mehrfach diesbezüglich gequälter Mann,
nickte ihn seinerzeit ab. Doch in unserer Radikalität, die diesen
unwiderruflichen Schritt in Grund und Boden verdammte, ignorierten wir
- oder wollten wir es vergessen? - welche innere Not einen Menschen bewegt,
sein einziges, gottgewolltes Leben vorzeitig zu beenden.
Im Allgemeinen hebt unter den leidtragenden Zurückgebliebenen die
Frage an: Was um Himmels willen haben wir falsch gemacht und/ oder versäumt?
Warum ist sie nicht zu uns gekommen? Bei uns fand sie doch ein offenes
Haus und ein offenes Ohr?
Und diese Fragen verdienen wirklich eine nähere Betrachtung.
Ja, warum eigentlich? Was bewog einen Menschen in einer existentiellen
Krisis, unfähig diese noch mit eigenen Kräften zu bewältigen,
lieber einsam in die Finsternis des Todes zu gehen, als selbst die Nächsten
aufzusuchen, die Eltern, die Geschwister, die engsten Freunde? Natürlich
vorausgesetzt, er besaß einen solchen Personenkreis.
Angst vor einer Blöße, vor dem Eingestehen eines Versagens?
Hie und da mag das zutreffen. Wenn aber beispielsweise einer liebenden
Mutter oder einer besten Freundin hinterher die Zweifel zusetzen, was
man verkehrt gemacht hätte, warum die vertraute Seele sich in ihrer
Not nicht an sie gewandt habe, bevor sie sich zu jenem letzten, fatalen
Schritte entschloß, so glauben wir, daß solche Fragen wenig
hilfreich sind.
Wir haben nicht vor, an dieser Stelle mit wissenschaftlichen Studien zu
argumentieren, die belegen, daß ein aus welchem Grunde auch immer
fest zum Tode entschlossener Mensch kurz vor seinem Lebensende oft auf
seine Umwelt noch einen völlig normalen und entspannten Eindruck
macht. Innerlich jedoch, und das scheint uns nach unserer Kenntnis der
Materie gesichert, stehen diese Menschen einer für sie ausweglosen
Situation gegenüber, gleichsam wie mit dieser bedrohlichen Lage in
einer hohen Arena eingemauert, nach ihrem Empfinden isoliert selbst von
denen, die uns als potentieller Hort erscheinen.
Alle tröstenden Allgemeinposten versagen an dieser Stelle naturgemäß.
Das wissen die Freitodkandidaten. Sie erlebten sicher in ähnlichen
Augenblicken davor, als sie sich eventuell noch hilfeheischend an ihr
Umfeld richteten, eben jene Machtlosigkeit, die sich auf Phrasen erstreckt,
wie: "Wird schon wieder.", "Der Mann, respektive die Frau
ist es doch nicht wert, daß man. da warten ja schon hundert andere.",
Komm erst mal da raus, bau dir etwas neues auf, wir unterstützen
dich."
Nein, das wollen diese Gequälten oftmals eben nicht hören! Sie
wollen, daß die Dinge wieder so werden, wie sie sie in glücklichen
Tagen einst erlebten. Sie wollen den status quo ante zurückgewinnen.
Und keine Veränderung! Die könnten sie im Augenblick gar nicht
bewältigen, denn sie liegen am Boden und vor ihnen ist alles dunkel.
Und Schuldzuweisungen, wie sie von dem nahestehenden Umfeld aus eigener
erlebter Hilflosigkeit dann an den vermeintlich für die Misere verantwortlichen
Partner gerichtet werden, treffen am Verlangen des seelisch Daniederliegenden
völlig vorbei. Oftmals sind es regelrechte Rohkrepierer, die die
Situation eher verschärfen als entspannen.
Während nun die begütigend auf sie Einredenden noch ihre hilflose
Liebe über den zukünftigen Selbsttöter ausschütten,
registriert dieser folgerichtig: "Wenn diese mir schon nicht zu helfen
vermögen - dann kann es niemand!"
Ganz nebenbei - eine Flucht ist selten noch dazu angetan, an den grundlegenden
Problemen etwas zu ändern.
So sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß Vorwürfe an
sich selbst oder andere wegen unterlassener Hilfe müßig und
oft ungerechtfertigt sind. Denn selbst bei bestem Willen sind Freitodkandidaten,
sobald einmal der feste Entschluß gefaßt ist, kaum noch aufzuhalten.
Zumindest nicht auf Dauer. Wenn die Sekte der Psychologen da etwas anderes
behauptet, so mag das bestenfalls vereinzelt stimmen. Wie könnten
sie aber auch von der Sinnlosigkeit einer Einflußnahme ausgehen!
Schließlich bildet diese ja einen Teil ihres Verdienstes.
Doch zurück zu jenen, die das Wunder des Lebens hinter sich lassen,
weil sie sich seinen Forderungen nicht mehr gewachsen fühlen.
Für sich selbst mögen diese Leute nun die Ruhe haben, die sie
suchten. Die aber, die sie zurücklassen, fallen in ein tiefes Loch
der Ohnmacht, Trauer und Verzweiflung.
Das ist ein natürlicher Prozeß, der in der Verhaltensbiologie
wurzelt. Ihn übergehen oder gar wegreden zu wollen, wäre realitätsverneinende
Narretei. Wenn es möglich ist, sollte man aber denen, die diesen
Prozeß zu durchleiden haben, eine Stütze sein und ein Hort
der Zuversicht.
Mehr ist oft kaum drin. Nichts beschönigen! Keine hohlen Phrasen,
keine Kopf-hoch-Parolen! Das wollen, das können die Trauernden in
diesem Moment nicht verarbeiten.
Da sind Erinnerungen schon besser, denn wie Antoine de Saint-Exupery sagte:
Erinnerung ist ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Man muß dem Alltag Zeit geben, wieder gemach und Schritt um Schritt
Platz zu greifen und letztendlich das Regiment zum Wohle der Lebenden
zu übernehmen. Narben und schmerzende Wunden werden bleiben. Auch
das muß klar sein. Es kommt nun darauf an, wie man das eigene Leben
mit dieser Verletzung in Einklang bringt.
Diese Zeilen aber wenden sich nicht nur an Hinterbliebene solcher menschlichen
Tragödien, sie wenden sich vor allem auch an jene, die einen Freitod-Entschluß
bereits erwogen oder gefaßt haben. Sie sollen sehen, solange sie
noch zu sehen vermögen, welches Trümmerfeld, welchen Schmerz
sie hinterlassen, welche Verantwortung sie auf ihre Seelen laden. Die
Last, die sie nach ihrer Meinung nicht mehr zu tragen vermögen, laden
sie ab auf andere Schultern - nach mir die Sintflut! Ein solcher Schritt
aber ist eine Hypothek, an der eventuell Genetrationen später noch
zu zahlen haben. Das bedenke man oder flechte es zumindest in fatale Gedankengänge
ein.
"Solange man lebt, ist Hoffnung", ließ einmal ein Autor
seine Figur Taroo-san sagen, einen Kamikaze-Flieger der japanischen kaiserlichen
Luftwaffe, der auf der Suche nach seiner Freundin die von der Atombombe
ausradierte Stadt Hiroschima durchstreifte. Ein Neuanfang, ein Weiterleben
an dieser Stätte des Grauens schien unmöglich. Das Leben jedoch,
vertreten oft durch ganz einfache Leute, war anderer Ansicht. Die Menschen
dort wollten leben - und sie fanden einen Weg: an einem Orte, der zu einem
Vorhof der Hölle umgepflügt worden war.
Dieses Beispiel möge jedem dienen, der da meint, hinter dem Horizont
seines schmalen Blickfeldes würde die Welt abstürzen ins Bodenlose.
Es gilt gleichermaßen für die Selbstmörder, wie für
die von ihnen geschaffenen Hinterbliebenen.
Leben ist etwas Einzigartiges. Wir haben es weder geschaffen, noch seine
unbarmherzigen Spielregeln kreiert; wir haben nur in der uns geliehenen
Zeit alles dafür zu geben, daß wir uns und denen, die uns nahe
sind, ein paar schöne Tage bereiten. Und dem Rest so wenig als möglich
zur Last fallen. Darin besteht schon der ganze Sinn des Lebens, soweit
er uns betrifft.
Dieser knappgefaßte Sinn aber lohnt jede Mühe - es ist die
erwähnte Einmaligkeit, die das Leben so kostbar macht.
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