Das Gold der Bundesrepublik
und die Aufweichung des Stabilitätspaktes
Betrachtungen zum wirtschaftlichen Niedergang
B. St. Fjøllfross
Es ist gut tausend Jahre her,
da begannen sich, von Norditalien ausgehend, in Europa gewaltige soziale
und ökonomische Umwälzungsprozesse abzuzeichnen.
Feudalherren, deren Machtanspruch sich auf die summarische Größe
ihrer Ländereien gründete, mußten erkennen, wie vormals
geringgeachtete Bürger aus den Handwerks- und Finanzschichten der
immer größer werdenden Kommunen Verwaltungsaufgaben übernahmen
und nach und nach so viele Gewalten, Rechte und Befugnisse übernahmen,
daß den traditionellen Vertretern der Herrscherkaste plötzlich
gleichrangige Gegenspieler erwuchsen.
Ein schmerzlicher Prozeß für die alten Großkopferten.
Denn „wat dem eenen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall!“
Und umgekehrt.
Auf der Strecke blieben während dieses Prozesses wirtschaftlicher
Neuorientierung meist die Vertreter des kleinen Landadels. Ihre agrarischen
Produktions- und Ausbeutungsformen konnten längst nicht mehr Schritt
halten mit der rasanten Entwicklung der Produktions- und Handelszentren
innerhalb der befestigten Mauern großer Städte.
Was taten sie? Nun, zuerst verkauften sie das Tafelsilber, dann die
Ländereien, denen sie ihr „von“ zu verdanken hatten.
Und wenn alles bis auf die Stammburg verschachert war – dann gingen
sie auf Raub und Erpressung aus. Die Gattung der Raubritter verbreitete
sich im spätmittelalterlichen Europa wie eine Seuche.
Welche Schlußfolgerungen sind für uns Nachgeborene zu ziehen?
Die Bundesrepublik Deutschland gründete ihre wirtschaftliche Macht
einst auf ein ererbtes Leistungs- und Innovationsethos, auf ein gewaltiges
Know-how und – speziell nach dem letzten Kriege – auf das
Bedürfnis, sich in den wirtschaftlichen Aufbau zu stürzen.
Man wollte die Nemesis der zwölf vergangenen unheilvollen Jahre
vergessen, durch harte Arbeit in sich abtöten, von der Erinnerung
und der sich daraus ergebenden Verantwortung ablenken und endlich Urlaub
machen von Bespitzelung, Verachtung und allgemeiner Not.
Diese Ära ging Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
zu Ende. Doch niemand reagiert ernsthaft auf die sich abzeichnende Drohung
von Verfall und Regression.
Noch lief es wunderbar und Politiker, denen das Ruder in die Hand gegeben
war, wollten auch in der nächsten Legislaturperiode wiedergewählt
werden. Sie hüteten sich also vor „unbegründeter Panikmache“
und überhaupt vor daraus resultierenden Konsequenzen. Wer Augen
im Kopf hatte, wußte, daß erbarmungslos über die Verhältnisse
gelebt wurde. Anleihen auf die Zukunft wurden aufgenommen. Wie die Enkel
das abtragen sollten, war zunächst einmal scheißegal. „Wir
leben heute! Und die Enkel werden schon über einen solchen Fortschritt
verfügen, daß sich die Tilgung unserer Schulden von selbst
erledigen wird!“ Das war die verbreitete Haltung.
Jetzt ist es soweit. Die Ökonomie der Bundesrepublik kollabiert
vor unseren Augen. Das Tafelsilber ist lange verschachert. Post, Lufthansa
und Bahn sind privatisiert. Die halbe Armee wird schon von externen,
privaten Dienstleistern am Leben gehalten. Staatliche Industrien sind
nirgendwo mehr auszumachen. Trotzdem, die Staatsschulden sind gigantisch,
valuieren im Billionenbereich. Es ist abzusehen, daß nicht einmal
mehr der Schuldendienst seinen Verpflichtungen wird nachkommen können
Jetzt soll es an die letzte Reserve gehen, den Ärar. Was früher
den Wert der Währung bestimmte, die letzten Ersparnisse, der Familienschmuck
– das Gold der Bundesrepublik Deutschland soll jetzt Stück
um Stück verhökert werden. Um die laufenden Kosten zu decken
und ein paar verzweifelte Neuinvestitionen zu tätigen. Was ist
geschehen?
Die ökonomische Umwälzung, die der zu Beginn der Renaissance
entspricht, wird heute von der rasant zunehmenden Globalisierung bestimmt.
Die Nationalökonomien, die durch ihre Zollgrenzen wie in einem
Kokon geschützt waren, lösen sich nebelartig auf. Das Kapital
sucht sich weltweit die günstigsten Standorte. Das bedeutet, es
sucht sich Produktionsstätten, an denen es am brutalsten ausbeuten
kann und hängt dem idiotischen Irrtum an, es könne einerseits
in der „Dritten Welt“ billig produzieren, andererseits in
der „Ersten Welt“ teuer verkaufen. Durch die Abwanderung
der Produktionsstätten aber verliert die Bevölkerungen der
„Ersten Welt“ Arbeit und damit Einkommen und ergo Konsumkraft.
Sie werden über kurz oder lang selbst zur „Dritten Welt“.
Das alles wäre noch hinnehmbar, wenn es den Menschen an den neuen
Produktionsstandorten auf die Beine hülfe. Tut es aber nicht. Denn
da der Preis für die Arbeit bei denen auf ein Minimum reduziert
ist, (sonst wäre das Kapital ja nicht zu ihnen gekommen) gewinnen
sie nichts Wesentliches an Kaufkraft. Das Kapital wird wieder einmal
händeringend nach Absatzmärkten suchen und feststellen, daß
ihre Billiarden Profitdollar Papiertiger sind, die keinen reellen Wert
mehr verkörpern. Dann, ja dann fängt alles wieder von vorne
an. Nach einem großen Knall, nach viel Rabatz und unendlichem
menschlichen Leid.
Und die bundesrepublikanische Bevölkerung? Sie ist schon lange
nicht mehr in der Lage, adäquat und zeitgerecht zu reagieren. Wie
auch?
Es hat sich ein Lebensstandard entwickelt, von dem Abstand zu nehmen
ungeheuer schwer fällt. Das aber ist die unvermeidliche Konsequenz,
wie wir oben dargelegt haben. Kippe einen Becher Wasser in einen See,
so wird dein Becher leer sein und der Pegel des Gewässers wird
sich um einen kaum mehr denkbaren Wert anheben. In etwa so wird es sich
mit der globalen Güter- und Wohlstandsverteilung der kommenden
Jahre und Jahrzehnte verhalten.
Und das, genau das ist die brutale Wahrheit, um die sich deutsche Politiker
von Wahlkampf zu Wahlkampf herummogeln. Wie sie anfangen zu stottern,
herumzueiern und verlogene Dementis abzugeben, sobald die Sprache auf
diese Entwicklung kommt!
Das entsprechende Menetekel steht schon in prangenden Lettern an der
Wand: Die Bundesrepublik, die sich noch vor Jahresfrist kraft ihrer
Wassersuppe gegen den Blauen Brief aus Brüssel verwahrte, was keinem
kleinen Mitgliedsland der EU gelungen wäre, versucht jetzt schon
im Schulterschluß mit der anderen Achsemacht Frankreich, die noch
vor einem halben Jahrzehnt selbst formulierten Stabilitätskriterien
aufzuweichen. Wohl wissend, daß diese Stabilitätskriterien
einen bestimmten Zweck erfüllen. Nämlich die Wirtschaft der
EU am Laufen zu halten und vor Zusammenbruch und Inflation zu bewahren.
Jetzt ist viel von „Flexibilität“ die Rede. Ein artverwandtes
Wort wäre die gute alte „Frontbegradigung“ aus den
Wehrmachtsberichten der letzten Kriegstage. Vertröstungen auf eine
bessere Zukunft folgen, gekoppelt mit überschwenglichen Prognosen,
die immerfort nach unten korrigiert werden, je näher man dem Vorhersagezeitpunkt
rückt.
Die Frage, die sich erhebt, ist: Wie sähe ein suffizientes Korrektiv
aus? Um das herauszufinden, muß erst geklärt sein, auf welche
Weise sich das langsam aber sicher in die vierte Dimension erhebende
Kapital noch gebannt und zu irgend etwas gezwungen werden kann. Denn
in seinen Globalisierungsbestrebungen ist es seinen Gegnern um Längen
voraus.
In den alten Nationalökonomien konnte ein Generalstreik zu einer
wirksamen Waffe im Arbeitskampf werden. Aber wie zum Teufel ließe
sich ein Globalstreik organisieren? Die Antwort, die das Kapital lächeln
läßt, lautet: Gar nicht! Oder besser: Noch lange nicht! Denn
das Wohlstandsgefälle, die Mentalitätsunterschiede auf der
Welt sind noch so gewaltig, daß ein Brückenschlag über
diese Abgründe zum Zweck eines konzertierten Handelns leider noch
undenkbar ist.
Und so erleben wir die Renaissance des Feudalismus. Klingt gewagt? Trifft
aber den Kern. Befestigte Burgen und Städte wurden abgelöst
durch die multinationalen Konzerne, die ihre operativen Schwerpunkte
nach Belieben verlegen können. Deren Vorstandsprecher und Magnaten
sind die Fürsten von einst. Wem es gelingt, seinen Wohnsitz noch
innerhalb dieser Mauern zu etablieren, der hat eine noch relativ gefestigte
Stellung erfochten. (Keine unbedingt sichere, wie das Beispiel „Philipp
Holzmann“ und „Neue Heimat“ zeigt. Aber auch im Mittelalter
wurde schon mal die eine oder andere Burg oder Stadt erstürmt,
geschleift und geplündert.) Vor den Mauern aber beginnt die allgemeine
Verelendung. Und das in rasantem Tempo.
Die Regierungen der Nationalstaaten werden zu bloßen Verwaltungseinheiten
degeneriert, die nach der Pfeife der Multis zu tanzen haben. Sonst gibt’s
von denen einen Blauen Brief, wie dem Herr Bundeskanzler Schröder
aus seinen ersten hundert Tagen Amtszeit noch erinnerlich sein dürfte.
(Daß die Kapitalgewaltigen in den U.S.A. schon immer den Präsidenten
und damit die Administration stellen, dürfte selbst Lieschen Müller
bekannt sein.) Fortwährende Abwanderungsdrohungen haben sich als
probates Mittel erwiesen, der Bevölkerung den Brotkorb Stück
um Stück höher zu hängen. Und der „Staat“?
Zieht sich mehr und mehr zurück. Aus allem. Aus seinen Verpflichtungen
den Bürgern gegenüber, aus seiner Verantwortung, aus seiner
Beteiligung am gesellschaftlichen Miteinander. Ist ja schließlich
alles nicht mehr finanzierbar. Und irgendwann wird er den letzten Schritt
tun und sich nahtlos eingliedern in die Verwaltungsstruktur eines globalen
Multis. Da hätten wir dann das weltumspannende Imperium, von dem
die Cäsaren, Alexander und Dschingis Khan träumten. Doch,
wie wir aus der Geschichte gelernt haben: Ein Weltreich läßt
sich aus dem Sattel erobern – nicht aber auf Dauer aus dem Sattel
regieren.
Insofern wäre es für die Menschheit von Vorteil, wenn in das
dumpfe und tumbe Agens, das die Konzerne jetzt schon in einem erbarmungslosen
lautlosen Krieg gegeneinander treibt, in seiner Dynamik endlich einmal
nachhaltig gestört würde vermittels einer feindlichen Übernahme
durch die menschliche Vernunft.