Hungaeeeh
Jules-Francois S. Lemarcou
Die Berliner S-Bahn rattert durch
Charlottenburg. Es ist turbulent, vor mir sitzt eine Mutter mit zwei
Kindern und ich bin nicht recht fähig, mich auf meine Arbeit zu
konzentrieren. Die Mutter strahlt eine gesunde, pausbäckige Primitivität
aus - die Dame Stultitia in Person. Zu dieser Pausbäckigkeit kontrastiert
ihre hagere Erscheinung, doch die ihr gegenübersitzende, ewig an
etwas herumkauende, feiste und rothaarige etwa 12jährige Tochter
bringt das Bild wieder ins Lot. Der dritte im Bunde, der etwa acht Jahre
alte Bruder sitzt eingeklemmt zwischen den beiden am Fenster. Für
das aber, was die stets wechselnde Aussicht zu bieten hat, zeigt er
kein Interesse. Er sitzt am Fenster, weil Kinder einfach am Fenster
sitzen müssen. Ihn interessiert anderes. Unentwegt quengelt er
die Stereotype: "Hungäee!" Mama! Ich hab Hungaäee!"
Da schwinden sie hin, die kinderfreundlichen Maximen der Herren Fröbel,
Rousseau und Pestalozzi. Vor meinen Ohren lösen sie sich in Nebel
auf und geben einer gespannten Gereiztheit Raum.
Mangels anderer verfügbarer Nahrungsmittel nunmehr an ihrem roten
Haarschopf kauend und die Reaktionen der Mutter belauernd, beäugt
die fette Schwester genüßlich das Geschehen. Denn sie ahnt,
daß sich über dem Bruder ein Unwetter zusammenbraut. In schadenfroher
Erwartung flackern die kleinen Schweinsäuglein zwischen der nervöser
werdenden Mutter und dem unbekümmert seine "Hungäea"
- Parolen widerkäuenden Bruder hin und her. Mitunter bleibt ihr
unsteter Blick an mir hängen, und unruhig konstatierend, daß
sie nicht der einzige Beobachter der Szenerie sei, läßt sie
ein weiteres Büschel Haare in ihrem nimmersatten Mundloch verschwinden,
während ihre Unterkiefer zu mahlen beginnen.
Die Mutter, obgleich mit hoher Wahrscheinlichkeit der englischen Sprache
nicht mächtig, gibt mit unterdessen einen lebhaften und plastischen
Anschauungsunterricht von dem, was die Engländer meinen, wenn sie
von jemandem sagen: "She turns ballistic!", oder "She
goes monkey!" Wie sieht das aus, wenn ein Mensch "ballistisch"
wird, oder gar zum Affen?
So sieht das aus, just so, wie es mir diese Frau mittleren Alters gerade
vorführt: Das Gesicht wird rot bis purpurn unter dem schwarzen
Wrubbel, die Halsvenen beginnen sich darzustellen und die Stimme nimmt
einen giftigen Klang an, während auch sie ewig die selbe Satzfolge
intoniert: "Hör jetze auf. Ich hab nichts bei. Das is immer
dasselbe mit dir. Mit dir tut man sich bloß immer nur blamieren.
Unmöglich bist du!"
Letzteres hat ihr gescholtener Thronfolger übrigens mit dem mütterlichen
Ausdruck gemein und ich beginne die Macht der Abstammung zu erahnen.
Ein Urbild, ja nachgerade ein lebendes Denkmal des Masochismus, denkt
der Junior nicht im Entferntesten daran, die etwas einseitige und um
ein und dasselbe Thema kreisende Unterhaltung zu beenden. In völliger
Verkennung seiner Situation oder aber in krankhafter Ersehnung der unvermeidlichen
Folgen insistiert der anstrengende Knabe seine Forderung nach Fütterung.
Standhaft lehnt die Mutter ab und vor mir steigen Bilder aus dem Gedächtnis
von äthiopischen Kindern, die, mit einem von Hungerödemen
geschwollenen Bauch und Rippen gleich einer Klaviatur, kraftlos im Wüstensand
liegen, zu schwach, sich die Fliegen aus den Augenwinkeln zu wischen.
Und dann diese Blage hier, keine zwei Schritt vor mir.
Auch mir steigt langsam die Hitze ins Gesicht und ich fühle, wie
mein Blut heftig unter den Schläfen zu pulsieren beginnt.
Doch die Mutter wehrt die Impertinenz des aus den Fugen geratenden Sprößlings
wacker ab. Ich beginne sie mit stillen Gebeten zu unterstützen.
Dann aber, völlig unerwartet erscheint über der Brüstung
des mütterlichen Walls die weiße Fahne und in ihrer Handtasche
kramend fingert sie ein paar verpackte Würste hervor, deren Anblick
die Augen der gefräßigen Schwester auf beinahe Untertassengröße
anschwellen lassen. Doch vorerst werden die Wiener ihrem greinenden
Bruder dediziert, was natürlich den lebhaften Protest der Miterbin
herausfordert: "Ej, ich will auch welche!" Ja doch, sie bekommt
welche. Den armen Würsten bleibt in der Hand der Schwester nicht
einmal die Zeit für ein letztes Vaterunser - dann hat der bodenlose
Schlund des kleinen Ungeheuers seinen Beitrag zur Erweiterung des ohnehin
schon unästhetischen Leibesumfanges getan.
Nicht so bei ihrem Bruder. Dessen eine Wurst ist entschieden glücklicher
und kann, während sie zwischen den schmuddeligen Händen des
Buben hin und her wandert, beruhigt einer hohen Lebenserwartung entgegensehen.
Denn der Quengelknabe denkt nicht im Entferntesten daran, auch nur einmal
hineinzubeißen und seinem so nervenaufreibend geäußerten
Bedürfnis nach Stillung seines Hungers zu entsprechen. "Nee,
so was will ich nicht!" Schon klar, worauf seine Wünsche gerichtet
waren: Ein Glas mit Schokoladencreme hätte die Mutter rausholen
müssen. Das wäre ein Friedensangebot an den Filius gewesen
- aber so was Profanes wie Würste. Menschenskind, Mutti! Kann doch
nicht jeder so eine völlig schmerzfreie und indifferente Nahrungsmittelvernichtungsmaschine
sein, wie Deine Große! Ein bißchen mehr Einfühlungsvermögen
in die unterschiedlichen Charaktere Deiner Sprößlinge, wenn's
geht! "Du ißt das jetzt, oder Du kriegst eine geknallt, Freundchen!
Ich habe langsam die Nase echt voll mit Dir! Immer wieder dasselbe mit
Dir. Man blamiert sich ja nur noch mit Dir! Ich sage Dir, Du fängst
eine, sage ich Dir!" Für einen Augenblick steht das schwesterliche
Mahlwerk still. In froher Erwartung fixieren die Schweinsäuglein
die gewitterschwere Szene: Gleich, gleich - na, das wird doch ein innerer
Vorbeimarsch, was!!!
"Nö, Mann-oooh, das will ich nicht!", deklamiert der
retardierte Sohn versonnen vor sich hin. Seine Wurstfinger lassen die
Wiener jetzt regelrecht tanzen, die Augen irren unstet in einem Raum
zwischen Mutter und Schwester hin und her - nein, die Situation beginnt
ihm unheimlich zu werden. So richtig eine fangen will er auch nicht.
Provozierende Blicke vermeidet er. Doch standhaft wie der kleine Zinnsoldat
beharrt er auf seiner Position - die Wurst beginnt sich mittlerweile
in passierte Kost zu verwandeln.
Und jetzt dreht die geplagte Mutter vollends durch: Sie fängt freundlich
an zu lachen - ei, hat doch der kleine Racker wieder einmal für
einen Hauptspaß gesorgt.
Die tückische Schwester hingegen sieht sich um ihr Vergnügen
geprellt, mit ansehen zu dürfen, wie dem ungeliebten kleineren
Bruder so richtig herzhaft eine getachtelt wird. Wahrscheinlich ist
sonst sie es, die Große, die Verantwortliche, die herhalten muß.
Der Tag der Abrechnung war nahe. Verheißungsvoll nahe. Aber wieder
nichts. Verflucht! Doch gilt es Haltung zu bewahren und so lacht sie
gequält, aber pflichtschuldig einige Takte mit.
Ich hingegen beobachte angestrengt meine Hände. Denn da sich meine
Nackenhaare aufzurichten beginnen, erwarte ich die unvermeidliche Transsubstanziierung
zum Werwolf, der sich aus dem Affekt heraus auf diese unheilige Dreieinigkeit
samt ihren Würsten stürzt um sie alle roh zu fressen. Denn
sie haben mir diese S-Bahnfahrt zu einer Dantesken Hölle gemacht,
sie haben mich geplagt und geschunden und mir die Tränen in die
Augen getrieben. Mein theologisches Weltbild haben sie zum Wanken gebracht,
denn - ist es möglich, daß der HERR der Welt die drei da
nach seinem Abbild geschaffen hat? Sieht so also der Gott aus, der Eisen
wachsen ließ. Oder ist das nur wieder ein weiterer Pfusch aus
göttlicher Hand?
Wie dem auch sei, mein Schöpfer erahnt wohl meine Seelenpein und
läßt aus dem S-Bahnlautsprecher die Stimme der Erlösung
erklingen: "Berlin Zoologischer Garten, Umsteigemöglichkeiten
zu den U-Bahn Linien U2 und U9 und zum Fernverkehr .."
Ich bin schon draußen. Ein blauer Himmel begrüßt mich
und anderthalb Stunden später, als ich endlich in der Redaktion
eintreffe, habe ich mich einigermaßen erholt.
Normale Kinder, normale Szenen? Möglich. Will ich nicht in Abrede
stellen. Aber es ist so entsetzlich unerquicklich!
Ich will auch keine kleinen, dressierten Erwachsenen, keine altklugen
Rotznasen, die mit einer zur Schau getragenen Würde von eigenen
Gnaden einherstolzieren, die sie sich durch nichts in ihrem eigenen
bisherigen Leben verdient haben. Aber das hier, das ist einfach nur
abstoßend: eine kleine Horde nackter Affen in all ihrer egomanischen,
korrupten, und hilflosen Häßlichkeit.
Aber halt! Sollte mir der Vater aller Dinge einen Spiegel vorgehalten
haben, der mich Jahrzehnte in die eigene Biographie zurückblicken
ließ? Es schaudert mich bei dem Gedanken.
Aber will ich nicht der dümmsten aller Dummheiten erliegen, dem
Selbstbetrug nämlich, so werde ich diesen Schrecken wohl aushalten,
ja, der mit seiner Wurst jonglierenden Rotzgöre mannhaft ins Auge
blicken müssen. Und so rückt mein theologisches Weltgefüge
wieder an seinen angestammten Platz. In wahrhaft christlicher Demut
bekenne ich: Danke Herr, daß Du mich einen anderen Weg nehmen
ließest - einen Weg der Erkenntnis, einen Weg, weg von diesem
Schrecken eines Bürschleins.
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, unterschrieb Francesco Goya
einst eines seiner berühmtesten Werke. Den Namen Goya sicherlich
noch nie gehört habend, illuminieren diese drei den Sinngehalt
der Aussage des großen Spaniers. Für den aber, der im Gebaren
dieser drei Agnaten zu lesen vermag, sind sie eine Art Leuchtfeuer,
welches die vorüberziehenden Schiffe vor einem gefährlichen
und flachen Gestade warnt. Dankbar für diese Lektion bleibt mir
nur noch, den beiden Heranwachsenden von Herzen zu wünschen, daß
auch sie eines Tages aus diesem "sueño de la racon"
erwachen mögen.
Und daß ihnen dann die Tortur erspart bleibe, die sie mir mit
ihrer unschönen Zirkusnummer am heutigen Tage zugemutet haben.