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Demut vor Schöpfer
und Schöpfung ist die Kraft der wirklich Starken!
Scholcher
M. Druckepennig
Wo zwei Menschen sich begegnen, da stellt sie sich sofort und in der ersten
Hundertstel Sekunde: die Frage der Macht.
Selbst zwischen dem Heiligen Vater und Mutter Theresa.
Man darf diese Aussage nicht dramatisieren. Es geht hier in den allermeisten
Fällen nicht um Leben und Tod, Sein oder Nichtsein. Es geht hier
um die Positionierung innerhalb einer Gemeinschaft Nackter Affen. Eine
solche Gemeinschaft beginnt just dort, wo sich zwei Vertreter dieser Spezies
kommunizierend begegnen. Selbst wenn der sich in dieser hundertstel Sekunde
herausgebildete hierarchische Unterschied nur wenige Mikron betragen sollte
– er manifestiert sich! Egalität, wie sie die französische
Revolution 1789 zum Schlagwort erhob, kann nur als Produkt der Phantasie
existieren. Wessen Meinungsbekundung ist man eher gewillt zu folgen –
der des Gegenübers oder der eigenen?
Wer fordernd eine Frage stellt, hat den Unterschied schon fast zu seinen
Gunsten herausgearbeitet. Wer diese Frage beantwortet, selbst wenn er
sie wissentlich falsch beantwortet, hat damit schon den Kotau vollführt.
Das hört sich vielleicht brutal an, soll aber ein Prinzip klären.
Denn die Frage der Macht als universelle Ausdrucksform der organisierten
Materie, die sich in Hierarchien gliedert, wirkt ubiquitär.
Muß ubiquitär wirken, weil nur so eine eindeutige Standortbestimmung
des einzelnen Rädchens im Großen Getriebe möglich ist.
Sie ist die eigentliche Dunkle Materie, die das Weltall zusammenhält
und vor dem sofortigen Zerbersten bewahrt.
Selbst die ernstgemeintesten Versuche der Gleichmacherei wie in der oben
erwähnten französischen Revolution zum Beispiel, die zum Ziele
hatten, die Macht wenigstens auf so viele Schultern wie möglich gleichmäßig
zu verteilen und damit diktatorischer Willkür vorzubeugen, mußten
früher oder später scheitern. Es gab keinen „Urkommunismus“,
konnte keinen geben. Das antike Sparta war nicht das Utopia des Thomas
Morus, Maos Kulturrevolution schuf nicht den Sonnenstaat Campanellas.
Platos Atlantis, Cyranos Staaten der Sonne – alle diese Modelle
mußten Hirngespinste bleiben, waren nicht einmal ansatzweise zu
realisieren. Sie alle waren deswegen nicht sinnlose Zeitvergeudung! Sie
dienten dem sehr praktischen Zweck, Mißstände in der eigenen
Gesellschaft zunächst einmal auf unterhaltsame Art und Weise aufzuzeigen.
Die entworfenen Modelle waren dabei von sekundärer Bedeutung. Wurde
dennoch der fatale Versuch unternommen, derart krude und der Natur eines
vergesellschaftlichten Wesens widersprechende Gesellschaftsordnungen zu
kreieren, so schlugen diese mit tödlicher Sicherheit alsbald ins
Gegenteil um, arteten in kürzester Frist zu einem einzigen mörderischen
Wahnsinn aus, ohne daß man sich dem eigentlichen Ziel auch nur ansatzweise
genähert hätte. Statt der ersehnten Freiheit kam eine Tyrannis,
die das abgelöste System meist in den Schatten stellte. Wir denken
an das schauerliche Regime des Pol Pot und Yeng Sari im Kambodscha der
späten Siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Wir denken an
die Schrecken der Kulturrevolution im roten China, die außer der
uniform gekleideten Gesellschaft nichts als Elend hervorbrachte. Wir denken
an den Terror, der die Geschichte der Sowjetunion so nachhaltig begleitete.
Die Nazis wollten Deutschland vom Versailler Vertrag, der „Macht
des Weltjudentums“ und der Zinsknechtschaft befreien – das
Ergebnis ist bekannt. General Pinochet und die CIA wollten die Chilenen
von der drohenden Macht des Kommunismus befreien – auch dieses Resultat
bedarf keiner weiteren Diskussion.
Und so denken wir nicht zuletzt an Orwells „Farm der Tiere“:
Alle Tiere sind gleich! – nur manche sind gleicher.
Warum nun haben wir dieses Thema zum Gegenstand einer Besprechung gemacht?
Ganz einfach: Mit kaum einer menschlichen Verhaltensweise wird derart
Verstecken gespielt, wie mit dem Spiel um die zwischenmenschliche Macht.
Das hat einen simplen Grund: Wird sich der potentiell Unterlegene der
Dynamik des Geschehens bewußt, so bedeutet das für den die
Überlegenheit Anstrebenden ein möglicherweise enorm gesteigerten
Aufwand. Und so wird jeder Versuch unternommen, diesen Machtkampf so diskret
als möglich ablaufen zu lassen. Je stärker sich das Gegenüber
zeigt, desto weniger ist es angeraten, ihn unnötig zu provozieren.
Und soviel steht fest: Jemanden in seiner Persönlichkeit zu minimieren
um ihm den eigenen Wille aufobtruieren zu können, gehört zu
den größtmöglichen Provokationen überhaupt. Es sind
derer viele, die gern Häuptling wären – nur wenigen behagt
die Rolle des einfachen Indianers. Um die Masse der Menschen aber in genau
diese Rolle zu drängen, bedarf es eines Druckes. Welcher Intensität
auch immer, in welcher Gestalt auch immer dieser Druck sich zeigen mag
– er muß vermittelt werden. Das kann von der Ausstrahlung
der Persönlichkeit her erfolgen, das kann sich über anerzogenes
Autoritätsempfinden regeln, das kann bis hin zu Vertrag, Kuhhandel
oder gar Erpressung reichen. Die Spielarten sind breit gefächert.
Und keine, wirklich keine Ebene der Gesellschaft – und am wenigsten
die kleinste, innerfamiliäre – ist von den Prozessen der Machtfindung
und –behauptung ausgespart. Es ist ein tägliches Gerangel.
Philemon und Baucis werden diese obligate Auseinandersetzung eventuell
lange hinter sich gelassen haben. Das macht sie zu Ausnahmen, die im Gedächtnis
der Menschen Jahrtausende überdauerten.
Doch sehen wir uns andere der Unterhaltung dienende Erzeugnisse des menschlichen
Geistes an, Literatur oder Filme. Interessant wird es doch für die
meisten eigentlich nur, wenn sich aus dem Machtgerangel, auf das sich
beinahe jede Handlung stützt, ein Spannungsfeld ergibt. Es geht um
dies, es geht um jenes, alle wollen es, einer kann es nur bekommen.
Jede Spielshow ist nach diesem Prinzip aufgebaut. Die Masse der sich beteiligenden
Verlierer wird abgefunden – mit Trostpreisen. Die heißen nicht
umsonst so. Die Zukurzgekommenen empfinden, wie oben beschrieben, ihre
Niederlage als Schmach, die sie oftmals krampfhaft herunterzulächeln
versuchen. Wer lächelt, ist noch nicht am Boden!
Ein Spiel, bei dem alle gleichviel gewinnen, mag einen süßlichen
Geruch verströmen – auf Dauer befriedigen wird es keinen. Denn
es mag eine Reverenz vor dem allgemeinen Harmoniebedürfnis sein –
den Gesetzen der gesamten Natur läuft es zuwider: Es wird als unnatürlich
empfunden.
Am Schönsten ist der ausgelatschte Stiefel, der das kleine, scheinbar
schwache „Gute“ gegen das übermächtige „Böse“
nach hartnäckigem Ringen doch noch gewinnen läßt. Das
„Böse“ ist deutlich durch unverhohlenes Machtbestreben
charakterisiert. Also der deutliche Wille, den anderen unter seinen Willen
zu zwingen, ihn zu demütigen. Das „Gute“ will das natürlich
nicht. Alles, was das „Gute“ will, ist in Freiheit zu leben.
Ja, in was für einer Freiheit denn? Damit sich diese Frage nicht
allzu deutlich in den Vordergrund schiebt, wird der Film abgeblendet,
hört das Buch einfach auf. Denn natürlich entscheidet am Ende
das „Gute“ eine Machtfrage – nämlich die zwischen
ihm und dem „Bösen“. Zumindest sollte es die Option über
diese Entscheidung behalten. Insofern ist Roman Polanskis „Tanz
der Vampire“ eine zwar lustige, aber dennoch absolut seltene Ausnahme.
Und wenn wir sogar die mittelalterlichen Klöster betrachten, die
ja ein Zufluchtsort von gleichgesinnten, christlichen Gesellschaftsexilanten
sein sollten, sozusagen ein Konglomerat von ursprünglichen Eremiten,
eine Bruder- respektive Schwesternschaft, deren Abt bzw. Äbtissin
nur als Primus inter pares gedacht war, dann entdecken wir auch hier sehr
schnell unter der glatten Oberflächlichkeit des mönchischen
Ideals die alten Prinzipien der zwischenmenschlichen Auseinadersetzungen.
Und bald schon, sehr bald setzten sich in diesen „irdischen Vorläufern
des Himmlischen Jerusalem“ die uralten Kräfte der Machtansprüche,
Unterordnungen und Auflehnungen durch.
Völlige Gleichberechtigung kann es in der belebten Natur nur dort
geben, wo die räumliche Entfernung zum anderen Individuum so groß
ist, daß eine Berührung ausgeschlossen werden kann. Und in
diesem Augenblick erübrigt sich allein schon der Begriff „Egalität“.
Er selbst nämlich wird „egal“, belanglos, müßig.
Bei all dem darf man aber nicht außer Acht lassen, daß es
hier im allgemeinen nicht um absolute Macht geht, sondern nur um deren
relative Form. Macht bedeutet ja lediglich, daß ein Individuum mehr
oder weniger freiwillig einem anderen die Kontrolle über sich abtritt,
es zuläßt, daß es für einen Teil seines Daseins
in seiner Eigenbestimmung eingeschränkt wird und einem anderen Willen
zu folgen genötigt ist. Dabei ist es vollkommen unerheblich, ob diese
„Vereinbarung“ von dem Beherrschten freiwillig getroffen wurde,
das heißt, weil er sich von dieser Auslieferung einen persönlichen
Vorteil versprach, oder ob Zwang, Gewalt und Drohung zur Machtübertragung
führten. Wobei man die Vermeidung der Folgen von Gewalt hinwiderum
getrost dem persönlichen Vorteil zurechnen mag. Wir wollen das an
Beispielen erläutern. Mit einem Arbeitsvertrag beispielsweise überträgt
ein Arbeiter seinem Chef die Verfügungsgewalt über ein geregeltes
Zeitkontingent seines Lebens. Innerhalb dieser Zeitspanne verpflichtet
sich der Arbeiter, die Tätigkeiten auszuführen, die ihm sein
Boss aufträgt. Aber auch dieses Tätigkeitsfeld unterliegt festgelegten
Beschränkungen. Wohl kann der Chef den Arbeiter hindern, daß
dieser seiner Laune folgt und an einem schönen Arbeitstag einfach
an den Strand fährt um sich die Sonne auf den Pelz braten zu lassen.
Sollte er seinen Arbeiter jedoch mit der Forderung konfrontieren, während
der Arbeitszeit von einer Brücke zu springen, so wird sprengt er
in aller Regel seine Machtbefugnis. (Es sei denn, er ist der Vortänzer
einer Stuntgruppe, die mit waghalsigen Unternehmungen ihre Brötchen
verdient.) Die Macht dieses Chefs ist also beschränkt, was erstens
den Zeitumfang und zweitens das Tätigkeitsfeld anbelangt. Von absoluter
Macht können wir also nur dann sprechen, wenn ein Mächtiger
einem seiner Macht Anheimgegebenen zu jeder Zeit alles befehlen kann und
diese Befehle dann stantepede umgesetzt werden, selbst um die Preisgabe
des einen und einzigen Lebens. Wenn wir uns an Menschen wie Hussein al
Sabah, den Vater der Assassinen, oder Hermann Göring erinnern, dann
gewinnen wir eine Vorstellung von einer Macht, die diesem Absolutem schon
recht nahe kommt. Wobei wir feststellen, daß der Personenkreis,
auf den sich dieser Machtbereich erstreckte, ein begrenzter gewesen ist.
Also erkennen wir aus dem Gesagten, daß die allermeisten Menschen
gleichzeitig Herrschende sowie Beherrschte sind. Diesbezüglich unterscheiden
sie sich nur in Umfang und Ausdehnung ihres „Machtbereiches“.
Das typische Beispiel dafür ist der Unteroffizier, der gleichzeitig
Befehlsempfänger (von Seiten der Offiziere) wie Befehlsgeber (In
Richtung Mannschaftsdienstgrade) ist. In diesem Falle könnte man
sogar von einer Transmission von Macht sprechen. Anders gelagert ist der
Fall unseres oben erwähnten Arbeiters, der zwar einen Besen zur Hand
nehmen muß um die Straße zu fegen, wenn sein Chef ihm das
während der Arbeitszeit aufträgt – schließlich arbeitet
er bei der Straßenreinigung, der aber zu Hause angekommen hingegen
seinem Sohn beispielsweise den Auftrag geben kann, einzuholen oder das
Automobil zu waschen. Auch der Hund sollte „Platz“ oder „Sitz“
machen, wenn ihm dies befohlen wird. (Nur bei der Katze und beim Hamster,
da wissen alle Beteiligten von Vornherein um die Sinnlosigkeit einer Befehlsvergabe.)
Arbeiter, Sohn und Hund aber sind gut beraten, diesen Aufträgen von
„höherer Stelle“ Folge zu leisten und sich ihrer in gebotener
Qualität zu entledigen, wollen sie größere Sanktionen
und Unannehmlichkeiten verhindern. Daß beide in der Zeit ihres übertragenen
Jobs lieber eigenen Ambitionen folgen würden, wollen wir als gegeben
hinnehmen. Sie stehen also in einem inneren Widerspruch, der sie abwägen
läßt, inwieweit es geraten sei, dem Machtbegehren des Anderen
zu entsprechen. Das ständige, Menschheitsimmanente Gebrüll nach
„Freiheit“ ist nichts anderes als der kollektive Aufschrei
nach Entledigung von Fremdbestimmung. Wie wir nun wissen – ein Blödsinn!
Denn ohne einen natürlichen oder kodifizierten Konsens von Unterordnung
unter die Prinzipien von Macht ist keine Gesellschaft zu organisieren.
Die entscheidende Frage ist allein die nach der Balance, der Ausgewogenheit
der Kräfte. Wieviel Unterordnung ist unbedingt erforderlich? Wo endet
die Zumutbarkeit für den Einzelnen?
Darauf aufbauend wollen wir noch einmal auf die Frage zu sprechen kommen,
warum wir uns mit diesem Thema befassen:
Wir wiederholen: Kein anderes das Sozialverhalten des Menschen berührende
Thema wird im alltäglichen Leben derart bewußt ausgeklammert,
verdrängt und verbrämt. Die kuriosesten Masken werden diesem
Komplex übergestülpt, um seine Brisanz zu entschärfen;
um sich selbst die Möglichkeit zu bewahren, das Gesicht zu bewahren.
Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, auf welcher Seite des allumfassenden
Machtkampfes sich der Einzelne wiederfindet. Es sind derer nur wenige,
die sich meist unter dem gewichtigen Eindruck eigener Dummheit ihrer gewonnenen
Position brüsten. Für diese ward das Sprichwort ersonnen: „Hochmut
kommt vor dem Fall“. Näheres ersehe man in den Sprüchen
Salomos, den Ausführungen der alttestamentarischen Propheten, ja
den gesammelten Weisheiten fast aller Völker des Erdenrundes. Sie
berichten einhellig davon, daß keine Macht auf Erden von Ewigkeit
sei, vom Fall der Mächtigen und der eitlen Illusion von der Perpetuierung
des errungenen Erfolges.
Wir wollen an dieser Stelle nicht den Wanderpredigern des christlichen
Mittelalters das Wort reden, die den Blick des in dieser realen Welt lebenden
Menschen auf ein vages Jenseits zu richten trachteten, und dabei pausenlos
die Vergänglichkeit alles Irdischen bemühten. Das sind lebensfremde,
ja lebensfeindliche Phantastereien. Unser Anliegen besteht im genauen
Gegenteil. Wir wollen den Schleier herunterreißen, von den Kräften
unseres Wesens, die, obzwar uns peinlich, unser Naturell jedoch nicht
minder bestimmen. Wir wollen dazu beitragen, daß wir uns diesen
Kräften bewußt stellen, anstatt sie verschämt totzuschweigen
– ihnen aber dennoch devot und widerstandslos zu gehorchen. Wir
wollen, daß Dinge, die existieren, an- und ausgesprochen, beim Namen
genannt werden. Wir wollen, daß der Mensch uns gegenüber, der
versucht, Macht über uns zu gewinnen, in seinem Bestreben geschwächt
werde. Es sei denn, er spielt mit offenen Karten und überzeugt unseren
Verstand, daß wir selbst günstiger fahren, wenn wir seinen
Ideen folgen, seine Fragen beantworten.
Uns geht es um Symbiose vernunftbegabter Kreaturen. Uns geht es um ein
Alternativmodell zu permanenter Ausbeutung, Übervorteilung und von
Eigennutz getragener Herrschsucht des Menschen über seinesgleichen.
Daß dies nur wieder eine weitere Utopie ist, erkennt unser Verstand
– nicht so unser Herz – an. Denn wir wissen wohl um die Ursprünge
allen Machtstrebens und daß diese tiefer gegründet sind, als
selbst die ältesten Gesteine, di je auf der Erde zu finden waren.
Denn die Frage „du oder ich“ ist die Kardinalfrage allen Lebens.
Sie ist der rote Faden des Lebens überhaupt, der sich von den ersten
Oparin’schen Molekülen bis zum heutigen Tage hindurchzieht.
Das ist das Lebensprinzip überhaupt! Denn dieses „du oder ich“
ist der einzige Garant, mit dem sich das Leben für eine ganze Weile
gegen die allmächtige Mutter Chaos, gegen die unbelebte Natur behaupten,
ja nachgerade raumfordernd verbreiten konnte. Das ist die Lehre Darwins,
der auch wir anhängen. Denn sie ist auf Vernunft gegründet.
Vernunft, die unser philosophischer Vater Baruch Spinoza als den erstrebenswerten
Mittelpunkt allen menschlichen Denkens und Handelns begriff.
Vernunft aber verschweigt nicht, bemäntelt nicht, kaschiert nicht
und redet nichts schön. Vernunft sieht das Reale und das Machbare.
Vernunft beurteilt nüchtern, sachlich. Ihre Wahrheiten mögen
mitunter brennen, aber sie bewahrt vor den Zinsen, die von Selbsttäuschungen
für einen zeitlichen Gewinn an Wohlbefinden eingefordert werden.
Und genau um dieses Ziel ist uns zu tun, wenn wir die ursprünglichste
Quelle aller Selbsttäuschungen, die Täuschung über die
Dynamik und die Spielarten der allgegenwärtigen Machtfrage nachdenken.
Man mag einwenden, daß eine Reduzierung des Lebens auf nüchterne,
ja beinahe mechanistische Betrachtungen diesem dem Chaos trotzenden Wunder
allen Reiz, allen Zauber nähme. Dem widersprechen wir. Eine Tulpe,
eine Kirschblüte erfreut unser Auge nicht minder, nur weil wir um
ihren Namen und ihre Natur wissen. Wem dies widerfährt, der hat beides
nicht verstanden.
Ganz im Gegenteil behaupten wir kühn: nur wer zu sachlicher Betrachtung
fähig ist, kann das Wunderbare der lebendigen Schöpfung wirklich
ermessen und in sich aufnehmen. Der Himmel dieses Menschen braucht der
Götter und Feen nicht zu entbehren – ängstigende Dämonen
jedoch werden sich wortwörtlich in Wohlgefallen auflösen.
Und all dies Gesagte läßt sich deckungsgleich auf die Macht,
ihr Wesen und die Strukturen ihrer Umverteilung, ihres Erwerbes sowohl,
als auch ihres Verlustes anwenden.
Man erkenne nüchtern ihre Existenz an, man hadere nicht mit dieser
Erkenntnis, man träume nicht substanzlose Träume, sondern man
versuche im menschlichen Miteinander jeder für sich unter Leitung
der Vernunft einen gangbaren Weg zu finden, der die Folgen für den
Einzelnen abmildert. Allein damit wird ein gewaltiges Aggressionspotential
verringert, welches nicht zuletzt immer wieder zwischenmenschlichen Frieden
stört – von der Familie bis hin zum Zusammenleben der Völker.
So gilt es, an einer einzigen Stelle um jeden Preis Macht zu erringen:
über den eigenen Inneren Schweinehund. Wer Macht über sich erlangt,
über seine Begierden und sein eigenes Maul, der soll zu denen wahrhaft
Mächtigen dieser Erde gezählt sein. Denn dieses ist der unbestritten
härteste Kampf, den ein Mensch führen kann. Und dieser Kampf
ist essentiell für einen jeden, der in seiner Person Ehre einlegen
will für den Begriff „Mensch“. Gestalt- und charakterlos
aber sind jene, die ihn nicht führen – bewußt oder unbewußt.
Denn nur an dieser einen Front kann der Mensch an sich wachsen und zu
wahrhaftiger Größe emporsteigen, seine behauptete Gottähnlichkeit
unter Beweis stellen. Alles andere sind hirnlose Kindereien, Reviergerangel,
Kampf der Gene, die sich ihrer selbst nicht bewußt sind. In nichts
unterschieden von den Machtkämpfen der Tiere. Das Fatale an diesem
Kampf ist, daß er nur für die wenigsten gewonnen werden kann.
Ihn dennoch zu führen, unentwegt, aller Rückschläge und
Verluste zum Trotz – allein das adelt schon den Kämpfenden,
salbt seine Wunden mit dem Öle Gottes.
Wer aber zu nichts anderem gut ist, als seine Frau, sein Kind, seinen
Hund zu prügeln um ihnen den eigenen Willen zu brechen und sie zum
Gehorsam zu zwingen; wer seinen Geist nur benutzt, um den Nachbarn zu
demütigen, wer seinen Bruder Abel erschlägt, der ist die erbärmlichste
aller Kreaturen. Denn das tut kein Vieh!
Als Quintessenz bleibt uns also, die ständige Präsenz einer
Machtfrage, die aus dieser oder jener Richtung an uns herangetragen wird,
zu akzeptieren und diese Frage dann mit der gebotenen Umsicht zu beantworten.
Als universaler Leitfaden möge zur Hilfestellung dienen das Wort
des alttestamentarischen Propheten Micha (Micha 6.8): Es ist dir gesagt,
Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich: Gottes
Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Amen
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