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Speaker's Corner auf dem Neustadt Markt
Wolfgang Rudolph erinnert sich

Michael L. Hübner
„Die Wende ist kein Thema mehr in den Köpfen der Leute. Sie haben andere Sorgen, andere Probleme.“ Dabei war diese Zeit hochdramatisch. Sie schnitt in Biographien ein, veränderte sie nachhaltig. „Wie nahe ich einer persönlichen Katastrophe war, habe ich erst 1994 erfahren“, sagt der 64 Jahre alte stadtbekannte Puppenspieler Wolfgang Rudolph. Das Stöbern in seiner Stasi-Akte förderte eine kleine Karteikarte mit der Nummer #314 zutage. Man erklärte ihm, diese Karte belege, dass seine Internierung in ein Isolationslager geplant war. Es läuft einem heiß und kalt den Rücken runter. Wer das Ministerium für Staatssicherheit kannte, der wusste genau: die meinten das sehr, sehr ernst. Da stand man am Abgrund und hat es gar nicht gemerkt. Es ist ein bisschen wie mit dem Reiter vom Bodensee.
Die Staatssicherheit hatte nicht umsonst ein Auge auf den damaligen Krankenpfleger geworfen. Der in Brandenburg Aufgewachsene hatte an der EOS sein Abitur abgelegt und schon damals zeigte er nicht allzuviel Bereitschaft mit der neuen Staatsmacht zu kooperieren. Die Wehrpflicht war zwar noch nicht wieder eingeführt, doch bedrängte man die Jugend bereits, wieder unter die Fahne zu eilen. Dabei hatte es noch wenige Jahre zuvor geheißen: Kein Deutscher soll jemals wieder eine Waffe in die Hände nehmen. Wolfgang blieb standhaft bei seinem Nein. Dieses Nein hallte dem Musterungskommando in Köpenick entgegen, als die Wehrpflicht eingeführt war. „Herzlichen Glückwunsch – wir ziehen Sie dann im Herbst!“ raunzten ihn die Offiziere des Arbeiter- und Bauernstaates an. 'Macht doch! Ich gehe nicht.' dachte Rudolph. Es waren trotzdem bange Zeiten. „Vor dem Musterungskommando die große Klappe haben ist eines“, sagt er versonnen. „Wenn's dann aber ernst wird und der Gestellungsbefehl liegt im Briefkasten, was macht man dann?“ Das Gefängnis vor Augen, harrte Rudolph der Dinge, die da kommen sollten. Nichts kam. Rudolph hatte Glück. Das Glück des Mutigen. Theologie wollte er zwar studieren, fing dann aber als Hilfspfleger im Krankenhaus in der Hochstraße an. Im Laufe der Jahre qualifizierte er sich zum Pfleger, gar zum Lehrbeauftragten. „Wer einen eigenen Kopf besitzt, der sollte ihn auch gebrauchen!“ Unter anderem das vermittelte er seinen Lernschwestern. Eine solche Haltung machte ihn bei der Staatsmacht auch nicht gerade beliebter, denn die wollte ja der Kopf für alle sein. 1987 nahm er dann noch beim Olof-Palme-Friedensmarsch teil. Das war ein internationales Projekt. Die friedliebende und unablässig für den Weltfrieden trommelnde Sozialistische Einheitspartei konnte sich einem solchen Engagement schlecht entziehen, wie sehr es sie auch wurmen mochte. 'Die Hand, die du nicht abschlagen kannst, solltest du schütteln', dachte sich die Partei. Also stellte sie auch einen Marschblock, der dann die dreitägige Strecke zwischen den ehemaligen Konzentrationslagern Ravensbrück und Oranienburg-Sachsenhausen mit den Christen gemeinsam zurücklegte. Diese trugen auch Transparente, auf denen sie „Friedenserziehung statt Wehrkunde“ forderten. Das war für die Genossen hart an der Grenze des Erträglichen. Nach dem Abschluss des Marsches wurden die Christen dann auch sehr bestimmt von Erich Mielkes Prätorianern aufgefordert, nunmehr ihre Transparente zu entfernen, die sie lange genug spazieren geführt hätten. Mit Schalk in den Augen erzählt Rudolph, wie sie dann mit der Berliner S-Bahn nach Hause gefahren seien und wie sie die Plakate in die S-Bahn-Fenster gestellt hatten. Durch ganz Ostberlin seien sie damit gekommen. Na siehste!
Zwei Jahre später lag das politische Modell 'DDR' dann am Boden. In Brandenburg an der Havel sprang der Wendefunke erst etwas später über. Rudolph, der schon immer bei allen kirchlichen Aktivitäten rege dabei war, ergriff auch jetzt sein gottgegebenes Bürgerrecht auf Einmischung und schloss sich dem Neuen Forum an. Eine Demonstration hatten sie angemeldet. Die sollte vom Steintorturm durch die Stadt bis auf den Puschkinplatz führen. Die Volkspolizei genehmigte aus verkehrstechnischen Gründen gerade mal die Steinstraße und den Neustadt Markt. 10.000 Demonstranten hatten sich dann auf dem Platz versammelt, der seit Kriegsende leer vor sich hin gähnte. Nun kam Leben in Brandenburgs Herz. Ein Hauch von Speaker's Corner. Von der Ladefläche eines LKW aus durfte jeder, der etwas Substantielles beizutragen hatte, eine Rede an das Volk halten. Rudolph gehörte zu den Moderatoren. Auch der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung, Winfried Mitzlaff, meldete sich zu Wort. Er wollte jetzt mit den Demonstranten gemeinsam die Wende gestalten und palaverte sich in Rage. Unbemerkt von dem verhinderten Tribun krempelten einige Zuhörer bereits die Ärmel hoch. Rudolph sah's und wollte den bereits weit über seine Redezeit agitierenden Funktionär bremsen. Doch der war gerade so schön in Fahrt. Also drehte Rudolph ihm das Mikrophon ab und beugte damit möglicherweise einigen unangenehmen Entwicklungen vor. Der Redner fand es schade: Er hätte doch so gerne mit der finster dreinblickenden Bevölkerung 'die Wende gestaltet'. Diese grandiose Chuzpe ist dem Puppenspieler noch so gegenwärtig, als wäre es gestern gewesen. Rudolph aber beteiligte sich weiterhin an den Arbeitskreisen des Neuen Forums. Man träumte, man wob in beinahe grenzenloser Naivität an schönen Zukunftsperspektiven. „Nein, die Mauer wollten wir vorerst nicht niederreißen“, gesteht er. „Uns schwebte ein neues Modell der DDR vor, das sich wirtschaftlich erholen und dann der Bundesrepublik auf Augenhöhe begegnen sollte. Dann hätte man über Themen wie die Wiedervereinigung reden können. Was waren wir naiv!“ Er schüttelt den Kopf. „Wir hatten ja keine Ahnung, wie schlimm das wirklich alles aussah.“ Was denn mit den ganzen Ideen, Vorschlägen und Gedanken passieren sollte, die in den Arbeitskreisen zusammengetragen wurden. „Die haben wir gesammelt. Und wenn irgendwann einer von uns in eine maßgebliche Position gelangt wäre, na, dann hätte man daran gehen können, sie zu realisieren.“ Rudolph leitete im übrigen den Arbeitskreis für Volksbildung. „Davon hatte ich keine Ahnung. War schließlich kein Pädagoge. Aber die Lehrer, die da mit drin saßen, das war teilweise noch die alte Garde. 'Wir lassen unsere Kinder nicht von euch kaputt machen' tönten die noch. Aber auch das ging vorbei. Die DDR wurde der Bundesrepublik angeschlossen, das neuen Staatssystem bald erfolgreich etabliert. Die schönen, bunten Traumblasen aus der Wendezeit zerplatzten eine nach der anderen. Kurz nach der Wende wollte man den damaligen Mittvierziger noch zur Mitarbeit in einer Wehrdienstverweigerer-Kommission ermuntern. Rudolph lehnte ab. Nicht, dass ihm die Möglichkeit der Verweigerung des Waffendienstes aufgestoßen hätte. Ganz im Gegenteil! Dass man aber aber die spottbillige Arbeitskraft Hunderttausender Zivildienstleistender als Wirtschaftsfaktor schon fest integriert hatte, das ging ihm gegen den Strich. Das war nicht Sinn der Sache. Da blieb er sich treu. So, wie er sich sein ganzes Leben treu geblieben war – der Krankenpfleger und Puppenspieler Wolfgang Rudolph.

13. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
14.01.2009