S’brennt, Brieder, s’brennt
70 Jahre Reichspogromnacht
Michael L. Hübner
„S'brent, Brieder, s'brent!“
rief der große jiddische Poet Mordechaj Gebirtig aus Krakau verzweifelt,
„Brieder, s’Shtetl brennt!“. Vor siebzig Jahren begann
dieser Brand in den Herzen deutscher Städte, in der Mitte der deutschen
Kultur und Zivilisation. Er begann, als von denen, die Andersdenkende
so gerne als „entartet“ bezeichneten, deutsche Synagogen
und jüdische Gemeindehäuser in Flammen aufgingen, Schaufensterscheiben
jüdischer Geschäfte unter den Tritten von SA-Stiefeln zerbrachen,
Juden aus ihren Häusern geschleift und schwer misshandelt wurden.
Die das taten, kamen nicht von einem anderen Stern. Es waren Deutsche.
Und die tatenlos zusahen, waren es auch. Am siebzigsten Jahrestag der
Reichspogromnacht gedachte die jüdische Gemeinde der Stadt Brandenburg
an der Havel gemeinsam mit der Stadt, ihrer Kirchen und Vertretern des
öffentlichen Lebens der gequälten und entrechteten, der beraubten
und vertriebenen und letztendlich der ermordeten Juden.
Ein Gottesdienst im Dom gab den Auftakt: Dass ein Jude, der Vorsitzende
der jüdischen Gemeinde Feliks Byelyenkow, an der Seite eines evangelischen
Pfarrers dem Gottesdienst im Brandenburger Dom beiwohnen und vor den
Christen aus dem Psalter lesen konnte, ist ein ebenso ungewöhnliches
wie großartiges Zeichen. Es zeigt auch, dass bei den Christen
unter der Last der eigenen Verantwortung ein radikales Umdenken stattfand.
So bekannten sich denn auch die christlichen Geistlichen schonungslos
zum Verrat der Kirche an ihren eigenen Glaubensgrundsätzen während
der NS-Diktatur, zum Verrat an ihren jüdischen Brüdern und
Schwestern, was gleichbedeutend ist mit einem Verrat an Jesus Christus,
der ja auch ein Jude war. Es war damals, als hätte die christliche
Kirche ihren Jesus wiederum seinen Peinigern ausgeliefert, denn, mit
den Worten „was ihr dem Geringsten unter euch getan habt, das
habt ihr mir getan…“ wurde Jesus zitiert. Der einzige Unterschied
zwischen Juden und Christen sei, hieß es weiter, dass die einen
an Jesus glauben und die anderen eben wie er.
Das am Nachmittag stattfindende Gedenken auf dem jüdischen Friedhof
mit dem anschließenden Schweigemarsch zum Gemeindehaus in der
Neustadt war im Gegensatz zu den Vorjahren außerordentlich stark
frequentiert. Beinahe die gesamte Stadtregierung zeigte über alle
Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg Präsenz und bekannte sich eindrucksvoll
zu Brandenburgs neuer jüdischer Gemeinde. Der Marsch aber erinnerte
an einen anderen, einst in umgekehrte Richtung führenden traurigen
Zug: Am 13.4.1942 wurden die letzten Brandenburger Juden wie Schwerverbrecher
vom Nikolaiplatz durch die Bauhofstraße und die Große Gartenstraße
zum Hauptbahnhof getrieben, höhnisch fotografiert von Brandenburgs
übelstem Schergen Polizei-Hauptwachtmeister Walter Kriesche. Dass
das Feuer, das die Nazis in jener Novembernacht an jüdische Gotteshäuser
legten, ein paar Jahr später durch die alliierten Bomberverbände
in viele deutsche Städte getragen wurde, haben sie nicht mehr miterlebt.
Ihre Namen stehen nun auf den Gedenktafeln des jüdischen Friedhofes
verzeichnet. Dass nun aber von einem Epitaph dieses Friedhofes noch
immer deutlich die von barbarischen Hohlköpfen aufgesprühten
SS-Runen herüberdrohen, trägt den wohl mahnendsten Symbolcharakter
dieses Tages: Es ist an uns, die Wiederholung der Fehler der Vergangenheit
zu verhindern – denn die brüllende, gewalttätige Dummheit
ist keineswegs mit dem braunen Imperium des Schreckens untergegangen.
Den jüdischen Nachbarn aber sei zugerufen: Blaibt gesint, Brieder,
blaibt gesint!