Oberbürgermeister
Dr. Wilhelm Sievers
Sprechen Schreiben
Schweigen
Dr. Kurt Tucholsky
Alle Namen, bis auf
die von Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Sievers, Gauleiter
Hinrich Lohse (Schleswig-Holstein) und NSDAP-Kreisleiter Ferdinand
Heppner (Brandenburg an der Havel) und einigen anderen stadtbekannten Personen und Persönlichkeiten wurden aus datenrechtlichen
Erwägungen heraus geändert.
Das Quellenmaterial
entstammt größtenteils der Ermittlungsakte gegen
Dr. Wilhelm Sievers.
von
Herrn B. St. Fjøllfross
Im Kontext eines geschichtswissenschaftlichen Projektes, mit
dem sich der Chefredakteur des Preußischen Landboten,
Herr B.St.Fjøllfross, zeitweilig befaßte, rückte
die Person eines Oberbürgermeisters der alten Dreistadt
Brandenburg in den Fokus der Recherchen.
Die Dinge, die dabei ans Tageslicht traten, führten zur
Diskussion, ob diesem Manne, der der Gemeinde zwischen 1938
und 1945 vorstand, im Landboten der Platz für einen Aufsatz
zuzubilligen sei. Es war ein harter Kampf. Wir entschieden uns
für den Artikel. Die Entscheidung fiel während eines
Arbeitsessens vor dem Hause des ehrenwerten Oberbürgermeisters
Simon Karpzow und seiner Frau Anna Limtholtz in der Brandenburger
Steinstraße. Diese bedeutendste West-Ost-Achse der Brandenburger
Neustadt mündete einst in dem wundervollen und gewichtigen
Prospekt des Neustädtischen Rathauses, bevor sie an dem
Bauwerk vorbei ihren Weg nach Spandau fortsetzte. Nun verliert
sie sich in der Leere des unbebauten Platzes und macht deutlich,
wie nachhaltig die geliebte Heimatstadt in den Tagen des letzten
Krieges geschändet und verwundet wurde.
Der Oberbürgermeister Dr. Sievers war ein leitender Beamter
des Staates und Funktionär der Partei, die diesen furchtbaren
Verlust herbeiführte. Als er die Steinstraße, vom
Steintorturm kommend, hinunterlief, konnte er sich des Rathauses,
das auch sein Dienstsitz war, noch erfreuen. Uns Nachgeborenen
aber verwehrte er und seinesgleichen durch verbrecherisches
Tun diese Wohltat. Es ist an der Zeit, diesem Manne den Dank
abzustatten, der ihm zukommt. Es ist an der Zeit, daß
sich ein Brandenburger Blatt, so auflagenschwach es auch sein
mag, dieser Aufgabe annimmt.
Wo ist er geblieben, dieser Oberbürgermeister Dr. Sievers?
Liegt er unter den Trümmern seines Amtsitzes, den er nach
eigenem Bekunden halten oder „mit fliegenden Fahnen“
untergehen wollte? Nein, er liegt auf dem Kieler Nord-Friedhof,
in der Stadt, die ihn nach dem Kriege noch in höchste kommunale
Positionen lancierte.
Doch dazu später.
Wir haben gelobt, der Verantwortung eines jeden reellen Historikers
gerecht zu werden und objektiv zu urteilen. Denn jeder Historiker
ist immer auch ein Richter vor der Geschichte. Er kann sich
dieser schweren Last nicht entziehen, ob er das will oder nicht.
Wer richtet, wer anklagt, ist, wie auch ein Staatsanwalt, verpflichtet,
auch und gerade nach entlastenden Tatsachen für den Beschuldigten
zu suchen. Wer dies nicht tut, offenbart den Lumpenhund nicht
beim Angeklagten, sondern bei sich selbst.
Darum werden wir tunlichst nennen, was zugunsten des OBM Dr.
Sievers anzuführen ist. Der Leser möge sein Bild formen.
Um die Person des OBM Dr. Sievers zu beleuchten, ist es notwendig,
einen Blick auf die Biographie dieses Mannes zu werfen. Dabei
werden wir sogleich einen Punkt berühren, der das Erscheinungsbild
des grundverdorbenen Nazis etwas relativieren wird. Wilhelm
Sievers wurde am 02. Dezember 1896 als Sohn eines Eisenbahnrangiermeisters
in das harte Leben der werktätigen Bevölkerung des
zu spät gekommenen deutschen Kaiserreiches hineingeboren.
Er wuchs in einer völkisch und national vergifteten Atmosphäre
auf, die der über Jahrhunderte hinweg von allen europäischen
Mächten geprügelte Michel ausdünstete, nachdem
er im Zuge der gewonnenen Kriege von 1870/71 seine ungeheuren
Muskeln anspannte, einen wirtschaftlichen Aufschwung von nie
dagewesenem Umfang lostrat und irgendwann feststellte, daß
ihm für diesen Gewaltritt zum Ersten die Rohstoffquellen
und zum Zweiten die internationalen Absatzmärkte fehlten.
Der Haß gegen die Völker, die ihre nationale Einheit
und zentrale und damit effiziente Verwaltung gerade auf Kosten
Deutschlands etablierten und frühzeitig die Weltwirtschaft
untereinander aufteilten, brach sich in hemmungslosem Chauvinismus
Bahn, dem die deutsche Jugend schon von frühesten Kindesbeinen
an ausgesetzt war. Diese anstehenden Verteilungskämpfe
gipfelten dann im Ersten Weltkriege, an dem Sievers seit den
ersten Kriegstagen freiwillig teilnahm. Er scheint kein Dummer
gewesen zu sein. Rasch avancierte er in der militärischen
Hierarchie zum Offizier und war schon zwei Jahre später
mit 19 Jahren jüngster Träger des EK I.
Nach dem Kriege nahm er ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften
in Kiel, Marburg und Königsberg auf, das er erfolgreich
abschloß. 1923 finden wir Sievers schon bei der Rechts-
und Steuerberatung beim Kreislandbund Bremervörde. 1928
wurde er dann aufgrund seiner vorgelegten Dissertation zum Doktor
promoviert.
So weit so gut.
Am 25. Julei 1925 trat er der NSDAP mit der Mitgliedsnummer
12007 bei und scheint von Anfang an kein bloßer Karrierist
gewesen zu sein, da es zu dieser Zeit noch keineswegs erfolgsverheißend
war, sich zu den Nazis zu bekennen. Diese Erfahrung stand Sievers
noch bevor.
Die Ideen, die diese Partei programmatisch verkündete,
zogen den fast Dreißigjährigen magisch an. Zu sehr
hatte er Deutschland nach dem verlorenen Weltkriege in tiefstem
Elend und größter Demütigung erleben müssen
– man kann in ihm einen ehrlichen Idealisten der Anfangsjahre
sehen. Seine NSDAP-Mitgliedschaft brachte ihm dann die Kündigung
seitens des Kreislandbundes. Die erste ernste Inzisur auf dem
Weg nach oben. Doch Sievers war nicht der Mann der Resignation.
Die Macht und die Attraktivität der nationalsozialistischen
Bewegung wuchsen unaufhörlich und so finden wir den Rausgeworfenen
schon 1928 als Bürgermeister von Visselhövede in der
Lüneburger Heide, 1931 als Bürgermeister von Eckernförde
und schließlich nach der Machtübernahme 1933 als
Bürgermeister der als schwierig geltenden Grenzstadt Flensburg.
Obwohl von seinen Vorgesetzten mit reichlichen Vorschußlorbeeren
bedacht – Sievers trug bereits das Goldene Parteiabzeichen
– kam es hier zu den entscheidenden Verwerfungen im Leben
des Wilhelm Sievers.
Es ging um Geld, um was auch sonst! Das waren keine parteipolitischen
Differenzen, keine Abkehr vom Nationalsozialismus, iih –
bewahre!
Der kleine kommunale Beamte Sievers legte sich in Berentungsfragen
für eine gewisse Beamtenschicht, deren Teil ja auch er
selbst war, mit einem der mächtigen Regionalfürsten
der Nazis, mit Gauleiter Lohse an. Ein bißchen Naivität,
ein bißchen Konspiration – der Nackte Affe ist ein
politisches Vieh.
Doch Lohse saß zu fest im Sattel, als daß irgendein
Subalterner, den Sievers vor den eigenen Karren zu spannen versuchte,
darauf ernsthaft eingegangen wäre. Eichen schubst man nur
um, wenn sie innerlich morsch und hohl schon den Geruch der
Fäulnis verströmen. Lohse war in Saft und Kraft. Und
so verrieten die Parteigenossen den Kameraden Sievers reihenweise,
nachdem sie ihm vorher noch auf die Schulter geklopft hatten:
„Anerkennung, lieber Sievers, Donnerwetter! Ein aufrechter,
kreuzbraver und anständiger Nationalsozialist. So was trifft
man selten heutzutage!“ Lohse schlug zurück.
Sievers kämpfte um seine „Ehre“, rief ein Parteigericht
an. Lohse grinste und überrollte den kleinen, lausigen
Querulanten selbst dort mühelos. Ab da war’s erstmal
aus.
Sievers wurde mit sofortiger Wirkung von seinem Bürgermeisterposten
beurlaubt und verdonnert, auf zwei Jahre kein Parteiamt zu bekleiden.
Darüber hinaus nahm man ihm in vorrauseilendem Gehorsam
das Goldene Parteiabzeichen ab, obwohl das nicht einmal Gegenstand
des Spruches des Reichsparteigerichtes gewesen war.
Sievers war gesellschaftlich erledigt. Mit den öffentlichen
Ämtern war es zunächst Essig. Auch die freie Industrie
wollte den dußligen Putschisten nicht auffangen, der es
mit beispielloser Instinktlosigkeit gewagt hatte, den mächtigen
Gauleiter Hinrich Lohse herauszufordern.
Als Sievers dann in Berlin noch zugetragen wurde, daß
wegen des Zwistes mit Lohse schon eventuell die Gestapo in Kiel
auf ihn warte, sondierte der ehemalige Frontsoldat eifrig die
Möglichkeiten, sich nach Dänemark abzusetzen. Das
Land unter dem Dannebrog aber verweigerte dem Nationalsozialisten
die Zuflucht. Wie der potentielle Flüchtling Sievers später
über Menschen dachte, die sich aus brenzligen Situationen
herauszuretten suchten, wird im Folgenden noch Erwähnung
finden.
Ein wenig Erlösung tröpfelte auf den Geschlagenen
zu Hitlers Geburtstag 1937, als er der Segnungen einer Amnestie
teilhaftig werden durfte. Just zu dieser Zeit sägte man
den deutschnationalen und monarchistisch gesinnten Oberbürgermeister
Dr. Kreutz zu Brandenburg an der Havel ab, dem man eine NSDAP-Aufanhmeunwürdigkeit
attestierte. Der oberste Posten der alten Chur- und Hauptstadt
war vakant – siebzig Bewerbungen liefen ein. Sievers gewann
das Rennen.
Und jetzt ging es los. Das gebrannte Kind kam in eine ehemalige
rote Hochburg und hatte sich zu bewähren!
Kaum im Amte, ordnete die Parteispitze das fürchterliche
Judenpogrom vom 09. November 1938 an, das unter dem elenden
und irreführenden Namen „Reichskristallnacht“
in die Geschichte einging. Tags zuvor war der frischgebackene
Oberbürgermeister im Range eines SS-Obersturmbannführers
in Himmlers Schwarzen Orden aufgenommen worden. Himmler als
oberster Polizeichef hatte die Anordnung getroffen, daß
hohe Beamte den paramilitärischen Organisationen der Partei
beizutreten hätten. Wir haben wenig Anlaß zu befürchten,
Sievers hätte sich in der schneidigen Uniform besonders
unwohl gefühlt.
Als ihm die Nachricht vom Brande der neustädtischen Synagoge
in der Großen Münzenstraße überbracht
wurde, eilte er just in dieser Uniform zum Schauplatz. Keine
Zeit gehabt, sich umzuziehen?
Nun äußerte er eigenen Nachkriegs-Bekundungen zufolge
seinen Unmut über das Geschehen und stellte die ihm untergebenen
Polizeikräfte ab, um jüdische Bürger und deren
Eigentum in Brandenburg zu schützen.
Ja genau! Das paßt auch so wunderbar ins Bild eines auf
Bewährung eingesetzten strammen Nazi-Oberbürgermeisters.
Ein Report bezüglich derart unarischen Verhaltens an höhere
Dienststellen hätte ausgereicht und dem Meister Sievers
hätte keine Amnestie mehr über den Berg geholfen!
Die Zeugenaussagen, die allerdings nach dem Kriege von einer
nunmehr roten Stadtregierung zusammengesammelt wurden, sagen
unisono das Gegenteil aus: Alles ging unter der Aufsicht von
Sievers vonstatten, die Polizeibeamten schikanierten die „schutzbefohlenen“
Juden zusätzlich, Kritiker wurden vertrieben.
Nun muß man abschwächend darauf hinweisen, daß
eben diese Aussagen vor dem Hintergrund einer völlig veränderten
politischen Landschaft getroffen wurden. Die Menschen –
anpassungsbedürftig wie sie nun mal sind – werden
ihre Erinnerungen sehr wohl den Bedürfnissen der neuen
Mächtigen angepaßt haben. Zumindest wurden diese
Erinnerungen dann auch noch einmal durch das Sieb der roten
Vorgaben gefiltert. Auch das darf zu Gunsten Sievers nicht verschwiegen
werden.
Dennoch, viele Zeugenaussagen ergeben ein homogenes Bild vom
Ablauf der Ereignisse. Stellt man dieses Bild in den Zusammenhang
mit den Erfahrungen, die uns über Menschen und ihre Handlungsweisen
in gewissen Positionen und unter bestimmten gesellschaftlichen
Bedingungen vorliegen, dann sind wir geneigt, diesen Zeugenaussagen
größere Authentizität beizumessen, als den Sievers’schen
„Memoiren“ vor einem westdeutschen Schwurgericht
in der Nachkriegszeit. Persönliche Ambitionen und Motivationen
sind doch allzusehr gefärbt von den Umständen, in
welcher sich der Betreffende behaupten darf oder eben muß!
Aus der Aussage eines in seiner Person für uns sehr ernstzunehmenden
und seriösen Charakters, des Dr. Ing. Erbs, der lange Zeit
als Stadtbaurat an prominenter Stelle seiner Heimatstadt diente,
wetterleuchtet uns ein unangenehmes Streiflicht entgegen, welches
das Bild des Intellektuellen Sievers sehr bedenklich eintrübt.
Anläßlich einer Sitzung des Stadtrates, in welcher
ein Teilabriß der historischen Stadtmauer zur Debatte
stand, verwahrte sich Erbs entschieden gegen dieses Vorhaben
und verwies auf den Denkmalschutz. Der Gauredner Sievers, dessen
Partei soviel vom Ahnenerbe schwafelte, würgte Erbs ab
und beendete das Thema mit den Worten: “Wenn Sie nicht
in der Lage sind, diese Pissmauer abzureißen, dann werde
ich das mit meinen Magistratskollegen machen.“ Wenn diese
Worte so fielen, dann offenbart sich hier niedrigste Proletengesinnung.
Wurde das schäbige Vorhaben umgesetzt, so hat dieser Stadtbeamte
Sievers schon zur Zeit seiner kaum beschränkten Machtausübung
die Vernichtung von wertvollstem Stadteigentum betrieben, lange
bevor er und seine Spießgesellen die alliierten Truppen
reizten, das barbarische Werk zu vollenden.
Wir wollen an dieser Stelle nicht alle Taten und Untaten dieses
Mannes würdigen. Möglicherweise hat er auch das ein
oder andere für die Industriemetropole Brandenburg getan.
Möglicherweise hat er auch dem einen oder anderen Mütterchen
mal über die Straße geholfen.
Für uns ist er der Oberbürgermeister in Brandenburgs
schwärzester Zeit. Er hatte sich die politische Abteilung
der Kriminalpolizei unterstellt, die mit vehementem Sadismus
gegen Mißliebige und Andersdenkende vorging. Besonders
verkommene Kreaturen wie der Kriminalbezirkssekretär Walter
Kriesche machten unter ihm Karriere. Kriesche war nach Aussage
seines Kollegen von der normalen Kripo und Augenzeugen des Synagogenbrandes,
Kriminalinspektor Davidis*, vormals ein kleiner unbedeutender
Polizeiwachtmeister, ehe er sich zum von Sievers geschätzten
Sadisten und Schläger empor diente.
In diesem Zusammenhang verweisen wir auf das Schicksal der Gynäkologin
Frau Dr. med. Lilli Friesicke, die allein ihrer mosaischen Herkunft
wegen verhaftet und zum Abtransport in den Keller des Neustädtischen
Rathauses verschleppt wurde, wo sie sich im Angesicht des sie
Erwartenden das Leben nahm.
Nicht zu vergessen ist das Zuchthaus Brandenburg, von dessen
grauenvollem Innenleben Sievers nichts gewußt haben will.
Die Tötungs- und Verwertungsorgien durch die Mordärzte
der Landesirrenanstalt Brandenburg/Görden gingen an Sievers’
Aufmerksamkeit zur Gänze vorbei. Ganz im Gegenteil bezeichnet
er den Oberarzt Dr. Bimmler, einen der dynamischen Organisatoren
dieses als Euthanasie getarnten Verbrechens in seiner Eigenschaft
als Chefarzt des Ausländerkrankenhauses (Ausländer
ist hier gleichbedeutend mit Zwangsarbeiter) als vorbildlich.
Dabei stellte sich heraus, daß in jenem „Krankenhaus“
hilflose Zwangsarbeiter bestialisch ermordet wurden.
Bimler war denn auch derjenige, der das Auffangen des Blutes
der im Zuchthaus Brandenburg guillotinierten Menschen anregte
und durchführte, um Blutkonserven zu gewinnen. Dieser unter
dem Mantel des Pragmatismus einhergehende, abartige Schweinehund
benahm die Opfer der Nazis mit dieser barbarischen Handlungsweise
der Menschenverwertung, wie wir sie sonst nur aus Buchenwald
oder Auschwitz kennen, ihrer letzten Würde. Das Blut dieser
Menschen drängt uns, unsere Stimme zu erheben, für
die, die das nicht mehr können.
Um zu einer abschließenden Bewertung des Oberbürgermeisters
Sievers zu kommen, werfen wir noch einmal einen Blick auf die
letzten Kriegsstunden der Stadt Brandenburg. Der Oberbürgermeister,
der sich gegen eine von der Wehrmacht vorgeschlagene Öffnung
der Wehrmachts-Nahrungsmitteldepots am Silokanal verwahrte,
weil dies einem Eingeständnis einer Kapitulation gleichgekommen
wäre, der Oberbürgermeister, der eine Initiative Bürgermeister
Engelbergs boykottierte, die Brandenburg zur „Offenen“
– oder Lazarettstadt erklären sollte, um die Stadt
vor weiteren Kriegseinwirkungen zu schonen, der Oberbürgermeister,
der Tausenden Frauen und Kindern die Evakuierung untersagte,
dieser Oberbürgermeister rannte, als die Rote Armee schon
die Stadtmitte besetzt hielt, in die Infanteriekaserne und drohte
dem Hauptmann Scherer* und dessen in Auflösung befindlicher
Truppe mit dem Tode durch Erschießen wegen Fahnenflucht.
O tapferer Idealist bis zur letzten Stunde! Sehen wir diesen
Aufrechten jetzt mit gezogener Pistole den Rotarmisten entgegenstürmen?
Sehen wir ihn, wie er den Heldentod sucht und findet?
Wir müssen Sie bitter enttäuschen. Seine eigene Familie
war wohlversorgt und evakuiert – aller Symbolik eines
Eingeständnisses des verlorenen Krieges zum Trotze. Und
nachdem Sievers seinen letzten realitätsfernen Mumpitz
schwadroniert hatte, machte er sich selbst auf die flüchtigen
Socken zur vierzig Kilometer entfernten Elbe.
Wollte er sich als feigen Deserteur seinen eigenen Drohungen
zufolge am Ufer der Elbe selbst richten? Vielleicht. Daß
dem EK I – Träger der Mumm fehlte, sich selbst zu
erschießen – nun gut! Nehmen wir zu seinen Gunsten
an, er wollte sich ersäufen und so stürzte er sich
in die frühsommerlichen Fluten.
Die Elbe wollte so etwas wie ihn auch nicht und spuckte ihn
– oh Wunder – am anderen, am amerikanischen Ufer
wieder aus. Dort stellte er sich den Alliierten Truppen, von
denen nicht zu erwarten war, daß sie ihn postwendend nach
Workuta schicken würden.
Die Alliierten brachten ihn für einige Zeit in ein Internierungslager
und ließen ihm von einem westdeutschen Schwurgericht in
Hiddensen/Lippe den Prozeß machen.
Hier nun begann das große Gejammer des Dr. Wilhelm Sievers.
Kläglich ist sie zu lesen, die Verteidigungsschrift des
früheren Potentaten. Ein berühmtes Max-Liebermann-Zitat
schwebt im Raum.
Alles, was er zu seiner Verteidigung und Entlastung aufführt,
wirkt auf den zweiten Blick madig, wurmstichig, hohl, wenig
substantiell.
Hier zählt er auf, wie viele Menschen er vor dem Zugriff
der Gestapo bewahrt habe. Diese Antifaschisten entpuppten sich
dann als gemeine Fahrradschieber, denen die Gestapo wegen Sabotage
auf den Fersen war.
Der Mann, der nach eigenem Bekunden die Juden schützte,
untersagte einem deutschen Unteroffizier die Eröffnung
eines Lebensmittelladens in der Flutstraße mit der Begründung:
…zu große Nähe zum Judentum. Die Schwiegermutter
des Unteroffiziers war Jüdin.
Eine Halbjüdin durfte ihren Posten als Theaterkassiererin
eine Zeitlang behalten, nicht weil Sievers so um die Juden besorgt
war, sondern weil er sich gegen die NSDAP-Kreisleitung durchzusetzen
suchte, die ihm permanent die Macht beschnitt.
Er, Sievers, wollte sogar noch linientreuer sein als diese Kreisleitung
und regte zu einer Zeit, da er nach eigener Nachkriegsaussage
„längst fertig mit Hitler war“, die Verhaftung
eines alten SPDlers an, der sich nichts weiter hatte zuschulden
kommen lassen. Das wurde selbst dem Kreisleiter Heppner zuviel,
der sich diese Maßnahme mit der Bemerkung verbat, ’man
solle doch den Mann endlich in Ruhe lassen, der hätte doch
gar nichts getan.’
Einem verwitweten Antragsteller und Vater eines unmündigen
Knaben bewilligte er noch Ende 1944 die Verlängerung einer
kleinen Rente bis zum März 1945, weil dann der Bursche
volljährig sei und sein Einkommen als „Ostsiedler“
selbst bestreiten könne. Völlig fanatisch, völlig
verblendet oder völlig verrückt? Oder alles zusammen?
Die Rechtfertigungsschrift aus der Internierungshaft des Dr.
Wilhelm Sievers ist das unwürdige, uns millionenfach entgegenplärrende
Gewinsel, das so vielen gestürzten Mächtigen immanent
ist, wenn sie Farbe bekennen müssen. Göring und Konsorten
haben es vor dem Nürnberger Tribunal vorgemacht, Honecker
und Konsorten wiederholten das unwürdige Schauspiel, da
ist der Oberbürgermeister Dr. Sievers nur ein winziges,
ein erbärmliches Rädchen in einem elenden Getriebe.
Wie sie Verantwortung von sich weisen, die früher anderen
martialisch jede Last aufzubürden verstanden! Wie sie nicht
einmal in der Lage sind, mit dem Begriff Verantwortung etwas
anzufangen, da sie sich doch in besseren Tagen vor ihren Mitmenschen
pranzend als Verantwortungsträger aufspielten!
Und diese Leute finden bis auf unsere heutigen Tage Apologeten
für und für. Warum? Weil sie ihren Familien und Freunden
ein anderes Gesicht zeigten als das „Amtliche“?
Weil sich diese Familien und Freunde nur an dieses Gesicht erinnern
wollen?
Das wäre – menschlich gesehen – nachvollziehbar.
Unterstützen können wir solche selbstbetrügerischen
Attitüden nicht. Wir sind Preußen. Wir beurteilen
ohne Ansehen der Person – glasklar, nüchtern und
nach Sachlage!
Verurteilt wurde er zu 13 Monaten Haft wegen Mitgliedschaft
in verbrecherischen Organisationen wie SS und SD. Bei Prozeßende
war er ein freier Mann – die Zeit der Internierung wurde
angerechnet.
Der Stadtschänder Sievers – nun begann seine zweite
Karriere.
Eine Rechtsanwaltskanzlei in Kiel gibt ihm Lohn und Brot. 1951
ist er schon juristischer Berater des Landesverbandes der Inneren
Mission zu Kiel, ab 1949 besitzt er bereits das Parteibuch der
CDU. 1952 ist er schon Vorsitzender der CDU in Kiel, 1951 wird
er in der Ostseestadt an der Förde als Ratsherr vermerkt
und 1955 ist er gar Stadtpräsident.
1959 tritt er vergnatzt aus der CDU aus und legt seine Ämter
nieder, weil man ihn bei einer anstehenden Neuwahl auf hintere
Listenplätze verwiesen hat. Das Leben meinte es halt nicht
gut mit ihm, dem Dr. Wilhelm Sievers.
Wir wollen trotzdem fair mit ihm umgehen, bis zur letzten Zeile.
Am 01. Julei 1966 ist die irdische Existenz des Dr. Wilhelm
Sievers beendet.
Ein Zeitzeuge, der Gerichtsmediziner Dr. med. Meyers* jedenfalls
schloß eine Stellungnahme zur Person des ehemaligen Stadtoberhauptes
mit den Worten: Sievers möge sich vor Gott seiner Taten
verantworten!
Um uns diesem Stoßgebet anzuschließen, fehlt uns
leider der Trost des Glaubens. Es fehlt uns auch der Glaube,
daß die Nachgeborenen je aus den Fehlern der Vergangenheit
lernen werden. Sie färben ihre Uniformen, Kleidungsstücke
und Parteiabzeichen – aber sie bleiben ewig dieselben!
Höhere, gesellschaftsübergreifende Ziele bleiben wenigen
Phantasten und Idealisten vorbehalten, bei denen man sich vorsehen
muß, ob sie ihren Idealismus nicht einst zur scharfen
Waffe schmieden.
Dr. Sievers kann von uns keinen Freispruch erwarten. Sein Gedächtnis
möge in Brandenburg nicht getilgt werden. Es bleibe erhalten
zur Mahnung und Warnung der Nachgeborenen. Auch wenn das wenig
nutzen wird.
Das Material
zu diesem Aufsatz entstammt zum großen Teil der Ermittlungsakte
gegen ihn, die im Stadtarchiv zu Brandenburg an der Havel bewahrt
wird.
*Alle Namen, bis auf
die von Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Sievers, Gauleiter
Hinrich Lohse (Schleswig-Holstein) und NSDAP-Kreisleiter Ferdinand
Heppner (Brandenburg an der Havel) und einigen anderen stadtbekannten Personen und Persönlichkeiten wurden aus datenrechtlichen
Erwägungen heraus geändert.
Das Quellenmaterial
entstammt größtenteils der Ermittlungsakte gegen
Dr. Wilhelm Sievers.