Oberbürgermeister
                  Dr. Wilhelm Sievers
                Sprechen Schreiben 
                  Schweigen
                  Dr. Kurt Tucholsky
                 
                Alle Namen, bis auf 
                  die von Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Sievers, Gauleiter 
                  Hinrich Lohse (Schleswig-Holstein) und NSDAP-Kreisleiter Ferdinand 
                  Heppner (Brandenburg an der Havel) und einigen anderen stadtbekannten Personen und Persönlichkeiten wurden aus datenrechtlichen 
                  Erwägungen heraus geändert.
                Das Quellenmaterial 
                  entstammt größtenteils der Ermittlungsakte gegen 
                  Dr. Wilhelm Sievers.
                von 
                  Herrn B. St. Fjøllfross
                  Im Kontext eines geschichtswissenschaftlichen Projektes, mit 
                  dem sich der Chefredakteur des Preußischen Landboten, 
                  Herr B.St.Fjøllfross, zeitweilig befaßte, rückte 
                  die Person eines Oberbürgermeisters der alten Dreistadt 
                  Brandenburg in den Fokus der Recherchen.
                  
                  Die Dinge, die dabei ans Tageslicht traten, führten zur 
                  Diskussion, ob diesem Manne, der der Gemeinde zwischen 1938 
                  und 1945 vorstand, im Landboten der Platz für einen Aufsatz 
                  zuzubilligen sei. Es war ein harter Kampf. Wir entschieden uns 
                  für den Artikel. Die Entscheidung fiel während eines 
                  Arbeitsessens vor dem Hause des ehrenwerten Oberbürgermeisters 
                  Simon Karpzow und seiner Frau Anna Limtholtz in der Brandenburger 
                  Steinstraße. Diese bedeutendste West-Ost-Achse der Brandenburger 
                  Neustadt mündete einst in dem wundervollen und gewichtigen 
                  Prospekt des Neustädtischen Rathauses, bevor sie an dem 
                  Bauwerk vorbei ihren Weg nach Spandau fortsetzte. Nun verliert 
                  sie sich in der Leere des unbebauten Platzes und macht deutlich, 
                  wie nachhaltig die geliebte Heimatstadt in den Tagen des letzten 
                  Krieges geschändet und verwundet wurde.
                  
                  Der Oberbürgermeister Dr. Sievers war ein leitender Beamter 
                  des Staates und Funktionär der Partei, die diesen furchtbaren 
                  Verlust herbeiführte. Als er die Steinstraße, vom 
                  Steintorturm kommend, hinunterlief, konnte er sich des Rathauses, 
                  das auch sein Dienstsitz war, noch erfreuen. Uns Nachgeborenen 
                  aber verwehrte er und seinesgleichen durch verbrecherisches 
                  Tun diese Wohltat. Es ist an der Zeit, diesem Manne den Dank 
                  abzustatten, der ihm zukommt. Es ist an der Zeit, daß 
                  sich ein Brandenburger Blatt, so auflagenschwach es auch sein 
                  mag, dieser Aufgabe annimmt.
                  
                  Wo ist er geblieben, dieser Oberbürgermeister Dr. Sievers? 
                  Liegt er unter den Trümmern seines Amtsitzes, den er nach 
                  eigenem Bekunden halten oder „mit fliegenden Fahnen“ 
                  untergehen wollte? Nein, er liegt auf dem Kieler Nord-Friedhof, 
                  in der Stadt, die ihn nach dem Kriege noch in höchste kommunale 
                  Positionen lancierte.
                  
                  Doch dazu später.
                  
                  Wir haben gelobt, der Verantwortung eines jeden reellen Historikers 
                  gerecht zu werden und objektiv zu urteilen. Denn jeder Historiker 
                  ist immer auch ein Richter vor der Geschichte. Er kann sich 
                  dieser schweren Last nicht entziehen, ob er das will oder nicht.
                  
                  Wer richtet, wer anklagt, ist, wie auch ein Staatsanwalt, verpflichtet, 
                  auch und gerade nach entlastenden Tatsachen für den Beschuldigten 
                  zu suchen. Wer dies nicht tut, offenbart den Lumpenhund nicht 
                  beim Angeklagten, sondern bei sich selbst.
                  
                  Darum werden wir tunlichst nennen, was zugunsten des OBM Dr. 
                  Sievers anzuführen ist. Der Leser möge sein Bild formen.
                  
                  Um die Person des OBM Dr. Sievers zu beleuchten, ist es notwendig, 
                  einen Blick auf die Biographie dieses Mannes zu werfen. Dabei 
                  werden wir sogleich einen Punkt berühren, der das Erscheinungsbild 
                  des grundverdorbenen Nazis etwas relativieren wird. Wilhelm 
                  Sievers wurde am 02. Dezember 1896 als Sohn eines Eisenbahnrangiermeisters 
                  in das harte Leben der werktätigen Bevölkerung des 
                  zu spät gekommenen deutschen Kaiserreiches hineingeboren. 
                  Er wuchs in einer völkisch und national vergifteten Atmosphäre 
                  auf, die der über Jahrhunderte hinweg von allen europäischen 
                  Mächten geprügelte Michel ausdünstete, nachdem 
                  er im Zuge der gewonnenen Kriege von 1870/71 seine ungeheuren 
                  Muskeln anspannte, einen wirtschaftlichen Aufschwung von nie 
                  dagewesenem Umfang lostrat und irgendwann feststellte, daß 
                  ihm für diesen Gewaltritt zum Ersten die Rohstoffquellen 
                  und zum Zweiten die internationalen Absatzmärkte fehlten. 
                  Der Haß gegen die Völker, die ihre nationale Einheit 
                  und zentrale und damit effiziente Verwaltung gerade auf Kosten 
                  Deutschlands etablierten und frühzeitig die Weltwirtschaft 
                  untereinander aufteilten, brach sich in hemmungslosem Chauvinismus 
                  Bahn, dem die deutsche Jugend schon von frühesten Kindesbeinen 
                  an ausgesetzt war. Diese anstehenden Verteilungskämpfe 
                  gipfelten dann im Ersten Weltkriege, an dem Sievers seit den 
                  ersten Kriegstagen freiwillig teilnahm. Er scheint kein Dummer 
                  gewesen zu sein. Rasch avancierte er in der militärischen 
                  Hierarchie zum Offizier und war schon zwei Jahre später 
                  mit 19 Jahren jüngster Träger des EK I. 
                  
                  Nach dem Kriege nahm er ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften 
                  in Kiel, Marburg und Königsberg auf, das er erfolgreich 
                  abschloß. 1923 finden wir Sievers schon bei der Rechts- 
                  und Steuerberatung beim Kreislandbund Bremervörde. 1928 
                  wurde er dann aufgrund seiner vorgelegten Dissertation zum Doktor 
                  promoviert.
                  
                  So weit so gut.
                  
                  Am 25. Julei 1925 trat er der NSDAP mit der Mitgliedsnummer 
                  12007 bei und scheint von Anfang an kein bloßer Karrierist 
                  gewesen zu sein, da es zu dieser Zeit noch keineswegs erfolgsverheißend 
                  war, sich zu den Nazis zu bekennen. Diese Erfahrung stand Sievers 
                  noch bevor.
                  
                  Die Ideen, die diese Partei programmatisch verkündete, 
                  zogen den fast Dreißigjährigen magisch an. Zu sehr 
                  hatte er Deutschland nach dem verlorenen Weltkriege in tiefstem 
                  Elend und größter Demütigung erleben müssen 
                  – man kann in ihm einen ehrlichen Idealisten der Anfangsjahre 
                  sehen. Seine NSDAP-Mitgliedschaft brachte ihm dann die Kündigung 
                  seitens des Kreislandbundes. Die erste ernste Inzisur auf dem 
                  Weg nach oben. Doch Sievers war nicht der Mann der Resignation.
                  
                  Die Macht und die Attraktivität der nationalsozialistischen 
                  Bewegung wuchsen unaufhörlich und so finden wir den Rausgeworfenen 
                  schon 1928 als Bürgermeister von Visselhövede in der 
                  Lüneburger Heide, 1931 als Bürgermeister von Eckernförde 
                  und schließlich nach der Machtübernahme 1933 als 
                  Bürgermeister der als schwierig geltenden Grenzstadt Flensburg.
                  
                  Obwohl von seinen Vorgesetzten mit reichlichen Vorschußlorbeeren 
                  bedacht – Sievers trug bereits das Goldene Parteiabzeichen 
                  – kam es hier zu den entscheidenden Verwerfungen im Leben 
                  des Wilhelm Sievers.
                  
                  Es ging um Geld, um was auch sonst! Das waren keine parteipolitischen 
                  Differenzen, keine Abkehr vom Nationalsozialismus, iih – 
                  bewahre!
                  
                  Der kleine kommunale Beamte Sievers legte sich in Berentungsfragen 
                  für eine gewisse Beamtenschicht, deren Teil ja auch er 
                  selbst war, mit einem der mächtigen Regionalfürsten 
                  der Nazis, mit Gauleiter Lohse an. Ein bißchen Naivität, 
                  ein bißchen Konspiration – der Nackte Affe ist ein 
                  politisches Vieh.
                  
                  Doch Lohse saß zu fest im Sattel, als daß irgendein 
                  Subalterner, den Sievers vor den eigenen Karren zu spannen versuchte, 
                  darauf ernsthaft eingegangen wäre. Eichen schubst man nur 
                  um, wenn sie innerlich morsch und hohl schon den Geruch der 
                  Fäulnis verströmen. Lohse war in Saft und Kraft. Und 
                  so verrieten die Parteigenossen den Kameraden Sievers reihenweise, 
                  nachdem sie ihm vorher noch auf die Schulter geklopft hatten: 
                  „Anerkennung, lieber Sievers, Donnerwetter! Ein aufrechter, 
                  kreuzbraver und anständiger Nationalsozialist. So was trifft 
                  man selten heutzutage!“ Lohse schlug zurück.
                  
                  Sievers kämpfte um seine „Ehre“, rief ein Parteigericht 
                  an. Lohse grinste und überrollte den kleinen, lausigen 
                  Querulanten selbst dort mühelos. Ab da war’s erstmal 
                  aus. 
                  
                  Sievers wurde mit sofortiger Wirkung von seinem Bürgermeisterposten 
                  beurlaubt und verdonnert, auf zwei Jahre kein Parteiamt zu bekleiden. 
                  Darüber hinaus nahm man ihm in vorrauseilendem Gehorsam 
                  das Goldene Parteiabzeichen ab, obwohl das nicht einmal Gegenstand 
                  des Spruches des Reichsparteigerichtes gewesen war.
                  
                  Sievers war gesellschaftlich erledigt. Mit den öffentlichen 
                  Ämtern war es zunächst Essig. Auch die freie Industrie 
                  wollte den dußligen Putschisten nicht auffangen, der es 
                  mit beispielloser Instinktlosigkeit gewagt hatte, den mächtigen 
                  Gauleiter Hinrich Lohse herauszufordern.
                  
                  Als Sievers dann in Berlin noch zugetragen wurde, daß 
                  wegen des Zwistes mit Lohse schon eventuell die Gestapo in Kiel 
                  auf ihn warte, sondierte der ehemalige Frontsoldat eifrig die 
                  Möglichkeiten, sich nach Dänemark abzusetzen. Das 
                  Land unter dem Dannebrog aber verweigerte dem Nationalsozialisten 
                  die Zuflucht. Wie der potentielle Flüchtling Sievers später 
                  über Menschen dachte, die sich aus brenzligen Situationen 
                  herauszuretten suchten, wird im Folgenden noch Erwähnung 
                  finden.
                  
                  Ein wenig Erlösung tröpfelte auf den Geschlagenen 
                  zu Hitlers Geburtstag 1937, als er der Segnungen einer Amnestie 
                  teilhaftig werden durfte. Just zu dieser Zeit sägte man 
                  den deutschnationalen und monarchistisch gesinnten Oberbürgermeister 
                  Dr. Kreutz zu Brandenburg an der Havel ab, dem man eine NSDAP-Aufanhmeunwürdigkeit 
                  attestierte. Der oberste Posten der alten Chur- und Hauptstadt 
                  war vakant – siebzig Bewerbungen liefen ein. Sievers gewann 
                  das Rennen.
                  
                  Und jetzt ging es los. Das gebrannte Kind kam in eine ehemalige 
                  rote Hochburg und hatte sich zu bewähren!
                  
                  Kaum im Amte, ordnete die Parteispitze das fürchterliche 
                  Judenpogrom vom 09. November 1938 an, das unter dem elenden 
                  und irreführenden Namen „Reichskristallnacht“ 
                  in die Geschichte einging. Tags zuvor war der frischgebackene 
                  Oberbürgermeister im Range eines SS-Obersturmbannführers 
                  in Himmlers Schwarzen Orden aufgenommen worden. Himmler als 
                  oberster Polizeichef hatte die Anordnung getroffen, daß 
                  hohe Beamte den paramilitärischen Organisationen der Partei 
                  beizutreten hätten. Wir haben wenig Anlaß zu befürchten, 
                  Sievers hätte sich in der schneidigen Uniform besonders 
                  unwohl gefühlt.
                  
                  Als ihm die Nachricht vom Brande der neustädtischen Synagoge 
                  in der Großen Münzenstraße überbracht 
                  wurde, eilte er just in dieser Uniform zum Schauplatz. Keine 
                  Zeit gehabt, sich umzuziehen?
                  
                  Nun äußerte er eigenen Nachkriegs-Bekundungen zufolge 
                  seinen Unmut über das Geschehen und stellte die ihm untergebenen 
                  Polizeikräfte ab, um jüdische Bürger und deren 
                  Eigentum in Brandenburg zu schützen.
                  
                  Ja genau! Das paßt auch so wunderbar ins Bild eines auf 
                  Bewährung eingesetzten strammen Nazi-Oberbürgermeisters. 
                  Ein Report bezüglich derart unarischen Verhaltens an höhere 
                  Dienststellen hätte ausgereicht und dem Meister Sievers 
                  hätte keine Amnestie mehr über den Berg geholfen!
                  
                  Die Zeugenaussagen, die allerdings nach dem Kriege von einer 
                  nunmehr roten Stadtregierung zusammengesammelt wurden, sagen 
                  unisono das Gegenteil aus: Alles ging unter der Aufsicht von 
                  Sievers vonstatten, die Polizeibeamten schikanierten die „schutzbefohlenen“ 
                  Juden zusätzlich, Kritiker wurden vertrieben.
                  
                  Nun muß man abschwächend darauf hinweisen, daß 
                  eben diese Aussagen vor dem Hintergrund einer völlig veränderten 
                  politischen Landschaft getroffen wurden. Die Menschen – 
                  anpassungsbedürftig wie sie nun mal sind – werden 
                  ihre Erinnerungen sehr wohl den Bedürfnissen der neuen 
                  Mächtigen angepaßt haben. Zumindest wurden diese 
                  Erinnerungen dann auch noch einmal durch das Sieb der roten 
                  Vorgaben gefiltert. Auch das darf zu Gunsten Sievers nicht verschwiegen 
                  werden.
                  
                  Dennoch, viele Zeugenaussagen ergeben ein homogenes Bild vom 
                  Ablauf der Ereignisse. Stellt man dieses Bild in den Zusammenhang 
                  mit den Erfahrungen, die uns über Menschen und ihre Handlungsweisen 
                  in gewissen Positionen und unter bestimmten gesellschaftlichen 
                  Bedingungen vorliegen, dann sind wir geneigt, diesen Zeugenaussagen 
                  größere Authentizität beizumessen, als den Sievers’schen 
                  „Memoiren“ vor einem westdeutschen Schwurgericht 
                  in der Nachkriegszeit. Persönliche Ambitionen und Motivationen 
                  sind doch allzusehr gefärbt von den Umständen, in 
                  welcher sich der Betreffende behaupten darf oder eben muß!
                  
                  Aus der Aussage eines in seiner Person für uns sehr ernstzunehmenden 
                  und seriösen Charakters, des Dr. Ing. Erbs, der lange Zeit 
                  als Stadtbaurat an prominenter Stelle seiner Heimatstadt diente, 
                  wetterleuchtet uns ein unangenehmes Streiflicht entgegen, welches 
                  das Bild des Intellektuellen Sievers sehr bedenklich eintrübt. 
                  Anläßlich einer Sitzung des Stadtrates, in welcher 
                  ein Teilabriß der historischen Stadtmauer zur Debatte 
                  stand, verwahrte sich Erbs entschieden gegen dieses Vorhaben 
                  und verwies auf den Denkmalschutz. Der Gauredner Sievers, dessen 
                  Partei soviel vom Ahnenerbe schwafelte, würgte Erbs ab 
                  und beendete das Thema mit den Worten: “Wenn Sie nicht 
                  in der Lage sind, diese Pissmauer abzureißen, dann werde 
                  ich das mit meinen Magistratskollegen machen.“ Wenn diese 
                  Worte so fielen, dann offenbart sich hier niedrigste Proletengesinnung. 
                  Wurde das schäbige Vorhaben umgesetzt, so hat dieser Stadtbeamte 
                  Sievers schon zur Zeit seiner kaum beschränkten Machtausübung 
                  die Vernichtung von wertvollstem Stadteigentum betrieben, lange 
                  bevor er und seine Spießgesellen die alliierten Truppen 
                  reizten, das barbarische Werk zu vollenden.
                  
                  Wir wollen an dieser Stelle nicht alle Taten und Untaten dieses 
                  Mannes würdigen. Möglicherweise hat er auch das ein 
                  oder andere für die Industriemetropole Brandenburg getan. 
                  Möglicherweise hat er auch dem einen oder anderen Mütterchen 
                  mal über die Straße geholfen.
                  
                  Für uns ist er der Oberbürgermeister in Brandenburgs 
                  schwärzester Zeit. Er hatte sich die politische Abteilung 
                  der Kriminalpolizei unterstellt, die mit vehementem Sadismus 
                  gegen Mißliebige und Andersdenkende vorging. Besonders 
                  verkommene Kreaturen wie der Kriminalbezirkssekretär Walter 
                  Kriesche machten unter ihm Karriere. Kriesche war nach Aussage 
                  seines Kollegen von der normalen Kripo und Augenzeugen des Synagogenbrandes, 
                  Kriminalinspektor Davidis*, vormals ein kleiner unbedeutender 
                  Polizeiwachtmeister, ehe er sich zum von Sievers geschätzten 
                  Sadisten und Schläger empor diente.
                  
                  In diesem Zusammenhang verweisen wir auf das Schicksal der Gynäkologin 
                  Frau Dr. med. Lilli Friesicke, die allein ihrer mosaischen Herkunft 
                  wegen verhaftet und zum Abtransport in den Keller des Neustädtischen 
                  Rathauses verschleppt wurde, wo sie sich im Angesicht des sie 
                  Erwartenden das Leben nahm.
                  
                  Nicht zu vergessen ist das Zuchthaus Brandenburg, von dessen 
                  grauenvollem Innenleben Sievers nichts gewußt haben will. 
                  Die Tötungs- und Verwertungsorgien durch die Mordärzte 
                  der Landesirrenanstalt Brandenburg/Görden gingen an Sievers’ 
                  Aufmerksamkeit zur Gänze vorbei. Ganz im Gegenteil bezeichnet 
                  er den Oberarzt Dr. Bimmler, einen der dynamischen Organisatoren 
                  dieses als Euthanasie getarnten Verbrechens in seiner Eigenschaft 
                  als Chefarzt des Ausländerkrankenhauses (Ausländer 
                  ist hier gleichbedeutend mit Zwangsarbeiter) als vorbildlich. 
                  Dabei stellte sich heraus, daß in jenem „Krankenhaus“ 
                  hilflose Zwangsarbeiter bestialisch ermordet wurden.
                  
                  Bimler war denn auch derjenige, der das Auffangen des Blutes 
                  der im Zuchthaus Brandenburg guillotinierten Menschen anregte 
                  und durchführte, um Blutkonserven zu gewinnen. Dieser unter 
                  dem Mantel des Pragmatismus einhergehende, abartige Schweinehund 
                  benahm die Opfer der Nazis mit dieser barbarischen Handlungsweise 
                  der Menschenverwertung, wie wir sie sonst nur aus Buchenwald 
                  oder Auschwitz kennen, ihrer letzten Würde. Das Blut dieser 
                  Menschen drängt uns, unsere Stimme zu erheben, für 
                  die, die das nicht mehr können.
                  
                  Um zu einer abschließenden Bewertung des Oberbürgermeisters 
                  Sievers zu kommen, werfen wir noch einmal einen Blick auf die 
                  letzten Kriegsstunden der Stadt Brandenburg. Der Oberbürgermeister, 
                  der sich gegen eine von der Wehrmacht vorgeschlagene Öffnung 
                  der Wehrmachts-Nahrungsmitteldepots am Silokanal verwahrte, 
                  weil dies einem Eingeständnis einer Kapitulation gleichgekommen 
                  wäre, der Oberbürgermeister, der eine Initiative Bürgermeister 
                  Engelbergs boykottierte, die Brandenburg zur „Offenen“ 
                  – oder Lazarettstadt erklären sollte, um die Stadt 
                  vor weiteren Kriegseinwirkungen zu schonen, der Oberbürgermeister, 
                  der Tausenden Frauen und Kindern die Evakuierung untersagte, 
                  dieser Oberbürgermeister rannte, als die Rote Armee schon 
                  die Stadtmitte besetzt hielt, in die Infanteriekaserne und drohte 
                  dem Hauptmann Scherer* und dessen in Auflösung befindlicher 
                  Truppe mit dem Tode durch Erschießen wegen Fahnenflucht.
                  
                  O tapferer Idealist bis zur letzten Stunde! Sehen wir diesen 
                  Aufrechten jetzt mit gezogener Pistole den Rotarmisten entgegenstürmen? 
                  Sehen wir ihn, wie er den Heldentod sucht und findet?
                  
                  Wir müssen Sie bitter enttäuschen. Seine eigene Familie 
                  war wohlversorgt und evakuiert – aller Symbolik eines 
                  Eingeständnisses des verlorenen Krieges zum Trotze. Und 
                  nachdem Sievers seinen letzten realitätsfernen Mumpitz 
                  schwadroniert hatte, machte er sich selbst auf die flüchtigen 
                  Socken zur vierzig Kilometer entfernten Elbe.
                  
                  Wollte er sich als feigen Deserteur seinen eigenen Drohungen 
                  zufolge am Ufer der Elbe selbst richten? Vielleicht. Daß 
                  dem EK I – Träger der Mumm fehlte, sich selbst zu 
                  erschießen – nun gut! Nehmen wir zu seinen Gunsten 
                  an, er wollte sich ersäufen und so stürzte er sich 
                  in die frühsommerlichen Fluten.
                  
                  Die Elbe wollte so etwas wie ihn auch nicht und spuckte ihn 
                  – oh Wunder – am anderen, am amerikanischen Ufer 
                  wieder aus. Dort stellte er sich den Alliierten Truppen, von 
                  denen nicht zu erwarten war, daß sie ihn postwendend nach 
                  Workuta schicken würden.
                  
                  Die Alliierten brachten ihn für einige Zeit in ein Internierungslager 
                  und ließen ihm von einem westdeutschen Schwurgericht in 
                  Hiddensen/Lippe den Prozeß machen.
                  
                  Hier nun begann das große Gejammer des Dr. Wilhelm Sievers. 
                  Kläglich ist sie zu lesen, die Verteidigungsschrift des 
                  früheren Potentaten. Ein berühmtes Max-Liebermann-Zitat 
                  schwebt im Raum.
                  
                  Alles, was er zu seiner Verteidigung und Entlastung aufführt, 
                  wirkt auf den zweiten Blick madig, wurmstichig, hohl, wenig 
                  substantiell.
                  
                  Hier zählt er auf, wie viele Menschen er vor dem Zugriff 
                  der Gestapo bewahrt habe. Diese Antifaschisten entpuppten sich 
                  dann als gemeine Fahrradschieber, denen die Gestapo wegen Sabotage 
                  auf den Fersen war.
                  
                  Der Mann, der nach eigenem Bekunden die Juden schützte, 
                  untersagte einem deutschen Unteroffizier die Eröffnung 
                  eines Lebensmittelladens in der Flutstraße mit der Begründung: 
                  …zu große Nähe zum Judentum. Die Schwiegermutter 
                  des Unteroffiziers war Jüdin.
                  
                  Eine Halbjüdin durfte ihren Posten als Theaterkassiererin 
                  eine Zeitlang behalten, nicht weil Sievers so um die Juden besorgt 
                  war, sondern weil er sich gegen die NSDAP-Kreisleitung durchzusetzen 
                  suchte, die ihm permanent die Macht beschnitt.
                  
                  Er, Sievers, wollte sogar noch linientreuer sein als diese Kreisleitung 
                  und regte zu einer Zeit, da er nach eigener Nachkriegsaussage 
                  „längst fertig mit Hitler war“, die Verhaftung 
                  eines alten SPDlers an, der sich nichts weiter hatte zuschulden 
                  kommen lassen. Das wurde selbst dem Kreisleiter Heppner zuviel, 
                  der sich diese Maßnahme mit der Bemerkung verbat, ’man 
                  solle doch den Mann endlich in Ruhe lassen, der hätte doch 
                  gar nichts getan.’
                  
                  Einem verwitweten Antragstellen und Vater eines unmündigen 
                  Knaben bewilligte er noch Ende 1944 die Verlängerung einer 
                  kleinen Rente bis zum März 1945, weil dann der Bursche 
                  volljährig sei und sein Einkommen als „Ostsiedler“ 
                  selbst bestreiten könne. Völlig fanatisch, völlig 
                  verblendet oder völlig verrückt? Oder alles zusammen?
                  
                  Die Rechtfertigungsschrift aus der Internierungshaft des Dr. 
                  Wilhelm Sievers ist das unwürdige, uns millionenfach entgegenplärrende 
                  Gewinsel, das so vielen gestürzten Mächtigen immanent 
                  ist, wenn sie Farbe bekennen müssen. Göring und Konsorten 
                  haben es vor dem Nürnberger Tribunal vorgemacht, Honecker 
                  und Konsorten wiederholten das unwürdige Schauspiel, da 
                  ist der Oberbürgermeister Dr. Sievers nur ein winziges, 
                  ein erbärmliches Rädchen in einem elenden Getriebe.
                  
                  Wie sie Verantwortung von sich weisen, die früher anderen 
                  martialisch jede Last aufzubürden verstanden! Wie sie nicht 
                  einmal in der Lage sind, mit dem Begriff Verantwortung etwas 
                  anzufangen, da sie sich doch in besseren Tagen vor ihren Mitmenschen 
                  pranzend als Verantwortungsträger aufspielten!
                  
                  Und diese Leute finden bis auf unsere heutigen Tage Apologeten 
                  für und für. Warum? Weil sie ihren Familien und Freunden 
                  ein anderes Gesicht zeigten als das „Amtliche“? 
                  Weil sich diese Familien und Freunde nur an dieses Gesicht erinnern 
                  wollen?
                  
                  Das wäre – menschlich gesehen – nachvollziehbar. 
                  Unterstützen können wir solche selbstbetrügerischen 
                  Attitüden nicht. Wir sind Preußen. Wir beurteilen 
                  ohne Ansehen der Person – glasklar, nüchtern und 
                  nach Sachlage!
                  
                  Verurteilt wurde er zu 13 Monaten Haft wegen Mitgliedschaft 
                  in verbrecherischen Organisationen wie SS und SD. Bei Prozeßende 
                  war er ein freier Mann – die Zeit der Internierung wurde 
                  angerechnet.
                  Der Stadtschänder Sievers – nun begann seine zweite 
                  Karriere.
                  
                  Eine Rechtsanwaltskanzlei in Kiel gibt ihm Lohn und Brot. 1951 
                  ist er schon juristischer Berater des Landesverbandes der Inneren 
                  Mission zu Kiel, ab 1949 besitzt er bereits das Parteibuch der 
                  CDU. 1952 ist er schon Vorsitzender der CDU in Kiel, 1951 wird 
                  er in der Ostseestadt an der Förde als Ratsherr vermerkt 
                  und 1955 ist er gar Stadtpräsident.
                  
                  1959 tritt er vergnatzt aus der CDU aus und legt seine Ämter 
                  nieder, weil man ihn bei einer anstehenden Neuwahl auf hintere 
                  Listenplätze verwiesen hat. Das Leben meinte es halt nicht 
                  gut mit ihm, dem Dr. Wilhelm Sievers.
                  
                  Wir wollen trotzdem fair mit ihm umgehen, bis zur letzten Zeile.
                  
                  Am 01. Julei 1966 ist die irdische Existenz des Dr. Wilhelm 
                  Sievers beendet.
                  
                  Ein Zeitzeuge, der Gerichtsmediziner Dr. med. Meyers* jedenfalls 
                  schloß eine Stellungnahme zur Person des ehemaligen Stadtoberhauptes 
                  mit den Worten: Sievers möge sich vor Gott seiner Taten 
                  verantworten!
                  
                  Um uns diesem Stoßgebet anzuschließen, fehlt uns 
                  leider der Trost des Glaubens. Es fehlt uns auch der Glaube, 
                  daß die Nachgeborenen je aus den Fehlern der Vergangenheit 
                  lernen werden. Sie färben ihre Uniformen, Kleidungsstücke 
                  und Parteiabzeichen – aber sie bleiben ewig dieselben! 
                  Höhere, gesellschaftsübergreifende Ziele bleiben wenigen 
                  Phantasten und Idealisten vorbehalten, bei denen man sich vorsehen 
                  muß, ob sie ihren Idealismus nicht einst zur scharfen 
                  Waffe schmieden.
                  
                  Dr. Sievers kann von uns keinen Freispruch erwarten. Sein Gedächtnis 
                  möge in Brandenburg nicht getilgt werden. Es bleibe erhalten 
                  zur Mahnung und Warnung der Nachgeborenen. Auch wenn das wenig 
                  nutzen wird.
                Das Material 
                  zu diesem Aufsatz entstammt zum großen Teil der Ermittlungsakte 
                  gegen ihn, die im Stadtarchiv zu Brandenburg an der Havel bewahrt 
                  wird.
                   
                *Alle Namen, bis auf 
                  die von Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Sievers, Gauleiter 
                  Hinrich Lohse (Schleswig-Holstein) und NSDAP-Kreisleiter Ferdinand 
                  Heppner (Brandenburg an der Havel) und einigen anderen stadtbekannten Personen und Persönlichkeiten wurden aus datenrechtlichen 
                  Erwägungen heraus geändert.
                Das Quellenmaterial 
                  entstammt größtenteils der Ermittlungsakte gegen 
                  Dr. Wilhelm Sievers.