Joachim Fernau – Versuch einer Apologese
B.
St. Fjøllfross
Kürzlich erst erreichte uns ein Aufsatz, den Herr
Michael Skasa im Radio Bayern 2 am 11.November 2001 vortrug.
An diesem Tage wäre der preußische Journalist Joachim
Fernau 92 Jahre alt geworden. Es ist gut, daß man seiner
gedenkt. Was aber zu seinem Gedenken angeführt wird, das
erscheint uns bedenklich. Herr Fernau selbst weilt nicht mehr
unter den Lebenden und ist daher außerstande, sich zur
Wehr setzen. Es wäre daher schön gewesen, hätte
sich Herr Skasa der ehrenhaften römischen Devise entsonnen:
„DE MORTVIS NIHIL NISI BENE!“* Nun mag uns Herr
Skasa beim (nie gesehenen) Barte unseres geistigen Vaters Tucholsky
zu fassen bekommen, wie denn der Frontkämpfer der Weltbühne
zu sagen pflegte: „Wer in der Öffentlichkeit kegelt,
der muß sich auch die Punkte ansagen lassen.“ Herr
Fernau kegelte in der Öffentlichkeit – und wir finden
seine Würfe so übel nicht.
Herr Skasa hat in vielen Punkten völlig recht: Herrn Fernaus
Geschichtsstunden kommen über weite Strecken sehr launig,
oberflächlich und subjektiv einher. Der auch nach unserem
Verständnis teilweise zu massiv vorgetragene Konservativismus
und die immer wieder durchschimmernde Fremdenfeindlichkeit treffen
bei uns auf keine Gegenliebe. Wir zumindest suchen zuerst nach
Verständnis für den Nächsten, ehe wir uns dazu
bereit finden, ihn zu diffamieren.
Dennoch – und hier soll Herr Skasa unserem Widerspruch
begegnen – wir, obgleich die geschworenen Feinde von „Bild“
& Co., geben Herrn Fernau recht! Wir geben seiner Art recht,
mit der er historisches Wissen unters Volk zu bringen sucht.
Herrn Skasas Kritik gemahnt uns an die Anfeindungen, die auch
Paracelsus über sich ergehen lassen mußte. Man besehe
doch den historischen Kontext, in dem Herr Fernau schrieb! Man
achte doch auf die Atmosphäre, in welcher just die Generationen
mit dem Fach Geschichte gepreßt wurden, die Herr Fernau
ansprach! Ist Ihnen das Fach interessant und lebendig vermittelt
worden? Bleib viel Geschichtswissen bei Ihnen hängen? Wenn
Sie diese Frage mit „Ja“ beantworten, dann gehören
Sie wahrlich zu einer elitären, einer gesegneten Minderheit.
In aller Regel empfanden große Massen ihren Geschichtsunterricht,
oftmals beschränkt auf das stupide Pauken endloser Jahreszahlen,
lediglich als brutalen Diebstahl an ihrer Zeit. In den folgenden,
nachschulischen Lebensjahren wurde nur noch eine absolute Minderheit
mit den Belangen der Historie konfrontiert. Der Rest kümmerte
sich um die Anforderungen des persönlichen Alltags und
vergaß.
Eine solche Entwicklung ist für ein Volk fatal. Denn Geschichte
wiederholt sich, wieder und immer wieder. Historische Prozesse
finden in späteren Epochen immer aufs Neue ihre Parallelen
und Entsprechungen. Wieviel Fehlentwicklungen, die letztendlich
in Katastrophen mündeten, hätten vermieden werden
können, wäre geschichtliches Wissen in breiten Volksmassen
lebendiges Allgemeingut gewesen! Der Elfenbeinturm historischer
Fachabhandlungen und gelahrter Diskussionen hat auf der ganzen
Linie versagt. Er taugte nicht zur Abwehr der beiden Weltkriege.
Er war hilflos im Angesicht der Kuba-Krise.
Möglicherweise ist Herrn Fernaus These, daß Große
Männer die Träger und Gestalter der Geschichte seien,
ebenso falsch, wie die bolschewistische Anschauung, daß
diese Rolle allein den Volksmassen zugedacht werden müsse.
Die Wahrheit liegt bei einem Zusammenspiel beider Kräfte.
An diesem Punkt aber muß festgestellt werden, daß
das passive Verhalten eines Volkes ebenso zum Fortgang der Dinge
beiträgt, wie seine aktive Einmischung in den Lauf der
Dinge – die Richtung allein ändert sich. Nota Bene:
Wir reden hier nicht der Herrschaft des Stammtisches das Wort.
Kann aber der Stammtisch auf Grund seiner Unkenntnis mit leichter
Hand manipuliert werden, so gebiert dieses regelmäßig
monströse Auswirkungen. Wer begriff denn historische Zusammenhänge,
als deutsche Soldaten gegen den „Erbfeind“ zogen?
Nur wenige. Zuwenig!
Viel zu wenige,
um den entsetzlichen Zusammenprall der Völker zu verhindern.
Genau hier setzte Herr Fernau an. Seine Kurzweiligkeit, seine
kritisierten Witze, seine Art, historische Vorgänge mit
alltagsgeläufigen Bildern zu zeichnen, eroberte ihm ein
Millionenpublikum. Und plötzlich wußten die Menschen,
wer Otto der Große war und was beim Wiener Kongreß
schief lief. Sie wußten um die Dynamik des Machtgeschehens
zwischen Kaiser und Papst, zwischen Ritter und Bürger,
zwischen menschlichen Interessengruppen schlechthin. Nicht bis
ins Detail – zugegeben. Aber genug, um neugierig zu werden.
Genug, um auf heutige Prozesse rückschließen zu können.
Wozu Herrn Fernaus sprechende Bilder geradezu einluden, aufforderten!
Vor allem aber lehrte Herr Fernau, die hergebrachten, die etablierten
Geschichtsbilder kritisch zu hinterfragen. Nicht die Geschichte
holte er vom Sockel, sondern die Gestalten, die es viele Generationen
lang schafften, sich eben diesen Sockel Klios** anzumaßen.
Darin besteht eine der ganz großen Leistungen dieses Autors.
Adelsallüren sind es, den Plebs der Wissensvermittlung
für unwürdig zu erachten. Es ist kein Makel, sich
an den Stammtisch zu wenden, wenngleich es uns ebenfalls vor
dieser Fraktion graut. Wir ziehen uns Handschuhe über...
Aber, den Stammtisch zu interessieren ist Bürgerpflicht!
Denn der Stammtisch ist eine Gewalt! Man kann es mit rein pekuniären
Interessen tun, wie die Bild-Zeitung, oder man kann einen aufklärerischen,
progressiven Ansatz verfolgen, wie es Herr Fernau tat.
Ein weiteres Verdienst Herrn Fernaus besteht unzweifelhaft darin,
hinter den großen Vorgängen der Menschheitsgeschichte
die kleinen, menschlichen und persönlichen Ambitionen herauszuarbeiten,
die so gerne in der offiziellen Geschichtsschreibung verschwiegen
werden. Darüber hinaus liefert er gleich noch die Gründe
mit, warum solche Vorgänge mit einem irrealen Nimbus versehen
werden und warum dieser Nimbus so gerne und so nachhaltig und
von so Vielen rezipiert wird.
Dinge unverbrämt darzustellen und heillose Mythen zu zertrümmern,
ist auch unser Credo. Unbarmherzig muß der salzige Finger
in die blutenden Wunden! Sonst verschleppt man das Übel.
Man heilt nichts. Nichts mit schönen Ausreden und gefälligen
Lügen, die am Ende nur dazu dienlich sind, die größten
Lumpen zu wahren Menschheitsbeglückern zu verklären.
Wer fürchtet Herrn Fernaus populäre Geschichtskritik?
Doch nur diejenigen, die nicht das geringste Interesse daran
haben können, daß Michel Einblicke in die Dynamik
politischer Entscheidungsfindungen gewinnt – und sei es
mit noch so banalen Darstellungen. Denn diese Entscheidungsfindungen
betreffen ihn: Zahlen soll er und bluten! Und da das niemand
gerne tut, muß man es so lange als möglich vor ihm
verschleiern, ihm mundgerecht in kleinen, harmlosen Häppchen
reichen – oder, wenn alle Stränge reißen, die
Tatsachen in einer Form und Sprache offerieren, daß Michel
schon beim ersten Anblick dicht macht.
In dieses Spinnengewebe hat Herr Fernau dreingehauen. Ob immer
sachlich richtig, vollständig oder mit adäquaten Mitteln
– das wollen wir hier nicht diskutieren.
Cpt. Robert F. Scott hat den Südpol auch nicht erreicht.
Gravierende Fehler hat er sich zuschulden kommen lassen. Für
uns aber ist er eine Persönlichkeit mit Vorbildfunktion,
die uns zu unbedingter Dankbarkeit verpflichtet. Und genau so
halten wir es mit Joachim Fernau: Denn er ist ein Wegbereiter,
eine ehrliche Haut, ein braver Preuße!
*Über die Toten
nichts als Gutes
** Klio = Muse der Geschichtsschreibung