Magdeburg ruft nach der
Polizei
Don Miquele Barbagrigia
Na siehste! Geht doch!
Der Herr mir gegenüber kommt aus Magdeburg. Damit ihm die
Fahrt nicht zu lang werde – die am Zugfenster vorbeihuschende
märkische Landschaft hat sich in dröges Grau gehüllt,
es schneit und der Mensch muß sich schließlich politisch
bilden, studiert er ein Tageblatt seiner Heimatstadt. War es
der Generalanzeiger, war es die Volksstimme – ich konnte
es nicht gut sehen. Was mir aber ins Auge stach, war eine fette
Titelüberschrift im Lokalteil. Das ging sinngemäß
so: „Bürger rufen nach der Polizei!“ Ich hatte
nicht viel Gelegenheit den Artikel eingehend zu studieren. Aber
wenn ich mich nicht täusche, dann haben einige dem Blatt
assoziierte Herren ein wenig Scheinrandale veranstaltet, um
die Zivilcourage der Bürger auf den Prüfstand zu stellen.
Und jetzt denken sie mal an: Die Magdeburger Kollegen konnten
hocherfreut konstatieren, daß einige Bürger –
wieviel entging leider meinem getrübten Augenlicht –
die vermeintlichen Täter ansprachen und eine Absichtserklärung
verlauten ließen, die einen Ruf nach der Polizei zum Inhalt
hatte.
Grandios! „He, was machen Sie da! Hören sie sofort
damit auf! Ich rufe die Polizei!“
Liebe Leser, irre ich mich, oder ist das, was dort marktschreierisch
deklamiert wird, nicht die allererste Bürgerpflicht? Ist
das nicht das Minimum dessen, was man einem honetten Mitbürger
abverlangen kann?
Oder anders gefragt, wie sieht die Normalität aus, wenn
ein solches Verhalten eine stolze Schlagzeile wert ist? Würde
es Ihnen einen Artikel wert sein, wenn sie auf einem unbelebten
Dorfanger wieder einmal heil über die Straße gekommen
sind? Oder ist es nicht eher so, daß Ausnahmefälle
eines Berichtes für würdig erachtet werden –
je seltener, je sensationeller, desto fetter die Headline? Wird
derselbe Text demnächst auf der Titelseite der FAZ prangen?
Was ist los? Ist Wegschauen zum Standard geworden?
Es hat den traurigen Anschein. Das Volk der egomanischen Gartenzwerge
zieht sich in seine lauschigen Vorstadt-Schneckenhäuschen
zurück, so es denn welche besitzt und diese noch nicht
zwangsversteigert wurden – und läßt im Übrigen
den Lieben Gott einen guten Mann sein. Die Devise ist: Jeder
für sich und Gott gegen alle anderen!
Wie oft ist es also vorgekommen, daß alte Damen in aller
Öffentlichkeit ihrer Handtasche beraubt wurden, junge Frauen
angepöbelt, junge Männer verdroschen, Kinder in der
Nachbarschaft zu Tode verwahrlost oder auch „nur“
Schaufenster eingeschmissen wurden? Jener Berliner Polizist
aus dem Friedrichshain ist uns noch gut in Erinnerung, der in
den Neunzigern in Zivil Zeuge einer Straftat wurde, während
er auf der Straße sein Privatauto putzte. Er griff nicht
ein, was seine oberste Pflicht als Ordnungshüter war –
im Dienst oder nicht im Dienst. Das brachte ihn vor die Schranken
eines Berliner Gerichtes. Ein trauriges Exempel von der moralischen
Verwahrlosung des Zivilbewußtseins. Da ist uns der gute,
alte Spießbürger noch weitaus lieber – denn
seine Bezeichnung resultiert aus dem Sachverhalt, daß
er bei Not und Gefahr zum Spieß griff, um sich und die
Seinen zu schützen. Die Seinen, das waren auch die Nachbarn
und die Mitbürger.
Nun aber erhebt ein Volk das Floriansprinzip zur Parole. „Wat
jeiht mi dat an!“ „Bloß nicht hinschauen,
nicht mit reinziehen lassen!“
Wir nennen das Feigheit vor dem Feind. Das beginnt damit, daß
jemand zuschaut, wie ein Halbstarker in der S-Bahn seine Dreckbotten
auf dem Sitzpolster parkt, weil er meint er hätte ein gottgegebenes
Recht auf seine asoziale Flegelei. Das setzt sich in den hirnschelligen
Straßenkämpfen fort, die Auto gegen Auto von minderwertigkeitskomplexgeplagten
Familienvätern ausgefochten werden.
Das beginnt, wenn sich gutmeinende Eltern der elterlichen Autorität
ihren Kindern gegenüber begeben, gleichsam denen nach einer
Grenze brüllenden Rangen diese verweigern. Wenn sie ihnen
aus Faulheit, Bequemlichkeit oder schlichtem Unvermögen
Verhaltensmuster durchgehen lassen, welche die späteren
„Erwachsenen“ dann hemmungslos auf Kosten der Gemeinschaft
austoben.
Ein Journalist des Preußischen Landboten hat sich im Jahre
1994 in der S-Bahn hinter dem Baumschulenweg zwischen 4 Möchtegern-Nazis
und einen Neger gestellt. Er erklärte den Canaillen, hier
sei Preußen und der Neger sei ein Bürger oder ein
Gast dieses Landes. Und er werde den Neger, das Bürger-
oder eben das Gastrecht seines Landes schützen, koste es
was es wolle. Er werde damit um nichts weniger kämpfen
als um die Unversehrtheit des Schwarzen und die damit untrennbar
verbundene Ehre Preußens. Es gehe also ums Ganze! Daß
den Herrschaften das ganz klar sei und auf daß sie wüßten,
worauf sie sich mit ihrer sinnlosen Pöbelei einließen.
Die vier „Reichskämpen“ zogen vor sich hin
murmelnd von dannen. Offensichtlich, weil er sich klar und deutlich
artikulierte. Verstehen Sie: „ER“, nicht erst die
Polizei. Der Neger bekam keine Dresche, der Mitarbeiter keinen
Artikel, die Nazis keins auf den Zünder. Und weil das so
ist, sind wir Preußen! Soviel Courage darf man nicht jedem
abverlangen, das ist klar. Wir distanzieren uns auch ausdrücklich
von jeglicher Selbstjustiz. In diesem Falle aber war Gefahr
im Verzug und somit durch die Gesetzgebung zur Notwehr abgedeckt.
Sich aber auf der Seite des Rechtes zu positionieren, die Polizei
zur Hilfe zu rufen, das hat selbstverständlich zu sein.
Ein solches Verhalten mit einem Artikel zu würdigen, streicht
es als außergewöhnlich heraus – und darin sehe
ich die Crux.
Mir grault vor einer Schlagzeile wie der des Magdeburger Tagesorgans.
Nicht der guten Absicht wegen, die dahinter steckt. Sie soll
motivieren, ermutigen – das erkenne ich an.
Aber daß diese Ermutigung notwendig zu sein scheint –
darin sehe ich ein inakzeptables Übel. Darin sehe ich die
Krankheit einer kaputten Gesellschaft.
Aufsatz fertig, Laptop zuklappen! Aus. Der Zug fährt in
den Haltepunkt Kirchmöser ein. Vor mir erhebt sich das
repräsentative Reichsbahngebäude mit seinem Fachwerkschuppen.
Seit Jahren ist das Haus verlassen. Es findet sich kein Nutzer.
Bis unter die Dachgauben sind die Fensterscheiben sinnlos eingeworfen
– desgleichen beim Schuppen. Ein paar Gardinen wehen im
eisigen Wind. Die Parterrefenster des Hauptgebäudes sind
mit Metallabdeckungen gegen weiteren Bewurf geschützt worden
– das Gebäude selbst wurde mit einem festen Zaun
gesichert. Hier nach der Polizei zu rufen wäre allerdings
sinnlos. Eine Uniform habe ich hier noch nie gesehen.
Und so steht das an sich schmucke, an den Klassizismus angelehnte
Gebäude traurig hinter dem Bahnsteig – Zeugnis gebend
für die innere Verwahrlosung und Haltlosigkeit einer Gesellschaft.
Einer Gesellschaft, die sich inkompetent der Forderung gegenüber
erwiesen hat, ihren Nachwuchs im Geiste des Respekts vor der
Gesundheit und dem Eigentum des Nächsten zu erziehen.
Es ist – wenn Sie so wollen – eine überdimensionale
Unterschrift – steinern gesetzt unter diesen Artikel.