Deutschland - Rezession und Zukunft
B. St. Fjöllfross
Die Geschichte lehrt, daß
sich Entwicklungsabläufe stetig wiederholen. Ob kleine oder große
Organismen, Individuen oder Staaten - alles entsteht irgendwann einmal,
blüht auf, entfaltet sich zu seiner vollen Größe, um
nach einem Prozeß des Alterns und Vergehens irgendwann die Bühne
des Daseins zu verlassen. Manches kollabiert, anderes verschwindet langsam.
Aber am Ende ist allem gemein, daß es seine eigene Existenz aufgegeben
und neuem Platz gemacht hat. Die großen und bedeutenden Reiche
der Geschichte tauchten oft an völlig unerwarteten Punkten der
Welt auf, wurden mächtig und einflußreich und begannen, ihre
Kultur auszubreiten. Irgendwann schien dann der Holzwurm in das Gefüge
dieser Staaten einzuziehen. Sie wurden aufgeweicht. Und obwohl sie noch
nach außen hin den alten Glanz verkörperten, nach innen begannen
sie zahnlos und marode zu werden, bis sie entweder im Dunkel der Geschichte
verloschen oder von äußeren Gegnern überrannt wurden.
Zumindest aber verloren sie regelmäßig große Teile
der von ihnen beherrschten Gebiete, manchmal büßten sie sogar
Stammgebiete und Kernlande ein. Das alles kann man beobachten seit den
Tagen Gilgameschs von Uruk und Hammurapis von Babylon. Die Reiche der
Pharaonen wurden von dieser Entwicklung betroffen, wie auch Hellas,
die Wiege der abendländischen Kultur oder das mächtige Imperium
Romanum. Die Perser kamen und gingen. Im Fernen Osten mußte das
Reich der Mitte diese bittere Erfahrung machen, in der Neuen Welt waren
es die Staaten der Maya, Azteken und Inka. Wo immer Menschen ihr Zusammenleben
in solchen gesellschaftlichen Gefügen organisierten, diese Gesetze
des Werdens und Verfallens schienen unerbittlich die Zukunft dieser
Gebilde vorzuzeichnen. Heilsbringer und Erlöser versprachen immer
wieder tausendjährige oder gleich gar ewige Reiche, so man denn
nur gewillt sei, ihnen und ihren Ideen Folge zu leisten. Der Fortgang
der Historie hatte für derartige Überheblichkeit nicht einmal
ein höhnisches Lächeln übrig. Was dem einzelnen Individuum
als solid und festgefügt erscheinen mag, ist vor dem Auge der Geschichte
oft nur ein vergänglicher Windhauch. Daran hat auch der "Fortschritt",
den die menschliche Zivilisation in den fünf Jahrtausenden ihres
bekannten Bestehens gemacht hat, nicht das geringste geändert.
Ganz im Gegenteil: Je näher wir der Gegenwart kommen, desto kürzer
wird im allgemeinen die "Halbwertzeit" der Staaten. Haben
die Reiche der Antike mitunter noch mehrere Jahrhunderte überdauert,
so verging das lange Zeit für unbesiegbar gehaltene Riesenreich
der Roten Zaren nach nicht einmal siebzig Jahren. Das ist die Lebensspanne
eines Menschen! Es hat fast den Anschein, als würde die innere
Uhr dieser Staaten nach dem biologischen oder Eulerschen Logarithmus
ticken. Die Weltmächte Spanien und Portugal wichen dem Empire,
welches nach den Weltkriegen implodierte. Über die Sowjetunion
sprachen wir schon. Und wie schon erwähnt, die Successoren tauchten
oftmals an vorher nicht für möglich gehaltenen Orten der Welt
auf, wie einst die Mongolen unter Dschingis Chan. Nun ist es Zeit sich
unserem Vaterland zuzuwenden. Wollen wir uns einer relativ zuverlässigen
Prognose nähern, so ist es unerläßlich, uns zunächst
mit der "Biographie" Deutschlands, der Inhomogenität
seiner Bevölkerung sowie der Qualität und Quantität seiner
natürlichen Ressourcen zu befassen. Alle drei Komponenten sind
eng miteinander verzahnt. Zunächst einmal muß klar gesagt
werden: Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Kein Erdöl, Erdgas,
Edelmetalle, Diamanten oder ähnliches. Die Silbervorkommen vergangener
Tage im Harz und dem Erzgebirge sind längst erschöpft. Ein
bißchen Kohle ist geblieben. Aber wir reden hier über erdgebundene
Rohstoffe.
Es gab ein Ressource, über die verfügte Deutschland im Überfluß
- der menschliche Geist. Dieses Land war ein Land der Erfinder, der
Denker, der Dichter und Schöngeister. In diesem Deutschland wurde
das handwerkliche Geschick geadelt, Wert auf Präzisionsarbeit gelegt
und rührige Köpfe, die auf allen Gebieten der Wirtschaft und
der Technik Pionierarbeit leisteten, waren dem Rest der Nation Vorbild.
Man sah achtungsvoll und mit Stolz zu ihnen auf. Und begriff sie als
Teil des eigenen Volkes. Das Identifikationsmoment muß ein ungeheures
gewesen sein. Und diese klugen Köpfe hinwiderum identifizierten
sich mit ihrem Vaterland. Es war ein wechselseitiges Geben und Nehmen,
das Balsam auf die todwunde Seele des über die Jahrhunderte gequälten
Deutschen Michel strich. Es entstand ein gesundes Nationalbewußtsein.
Seit einigen Jahren sind aber in den öffentlichkeitswirksamen Medien
alle Schranken gefallen. Schamlos werden Blödelei, Schwachsinn
und Dummheit kultiviert. Das trifft ins Herz des Pöbels, und wo
der Narr zu Markte geht, da löst der Krämer viel Geld. Warum
das Proletariat jauchzt? Weil es sich beim Konsum dieses Ga-Gas nicht
anzustrengen braucht - es braucht nur zu glotzen! Und so kommt es, daß
konvulsivisch zuckende Stotterer, die nur ein paar Jahrzehnte früher
den Dorftrottel abgaben, zu Volkshelden mutieren. Das Volk ist begeistert.
Denn diese Antithesen des Heldentums kommen aus seinen Reihen! Das sind
keine Professoren, keine Tüftler, das sind ganz normale Gesichter
von nebenan. Sie demonstrieren scheinbar den Beweis, daß es ganz
leicht ist nach oben zu kommen und der Nation bekannt zu werden; quasi
ganz von allein, ohne eigenes Zutun. Man muß nicht mehr gründlich
studieren und hernach Jahr um Jahr hart arbeiten - womöglich Tag
und Nacht - nein, Gott bewahre - es geht ganz einfach: Man muß
nur relativ normal aussehen - und das tun fast alle - es darf nichts
übermäßig kluges aus dem Munde kommen, denn das würde
Distanz zum Gros der Konsumenten schaffen - es reicht die gewöhnliche
Dummheit - und schon findet man sich am nächsten Tag in einer Limousine
wieder auf Weg in einen VIP-Lounge oder ein Event. Man wird hofiert,
vergöttert angebetet. Daß die meisten dieser Kanaillen nur
Eintagsfliegen sind, stört die wenigsten. Sie sind austauschbar.
Das System muß funktionieren. Nur das ist wichtig! Die Macher
dieses Systems, die diese Marionetten an langen, aber festen Fäden
führen, wie wir das aus der Augsburger Puppenkiste kennen, verfügen
da in den allermeisten Fällen schon über mehr Kultur. Aber
sie sind schlau genug, damit dezent hinter dem Berg zu halten und sich
auf das Abkassieren im Hintergrund zu beschränken. Sophistiziertes
Betragen stört den Gesamteindruck, den die Müllkultur vermitteln
soll. Und genau in dieser Hinwendung zur "Spaßgesellschaft",
die das faule Leben ohne Anstrengung propagiert, tickt die Bombe. Auch
für Deutschland als Ganzes gelten die Regeln des Marktes, nämlich
die des Weltmarktes, Und das Markenzeichen "Made in Germany"
taugt nur so lange etwas, wie die Kunden dahinter nicht zu Recht Deutsche
Wertarbeit vermuten dürfen. Plunder ist auch in Taiwan zu haben.
Wertarbeit, das sagt schon der Name, ist jedoch nur mit fleißiger
Arbeit zu erreichen, mit Liebe zum Produkt, mit Achtung vor der Arbeit,
mit Engagement. So haben die Mütter und Väter gedacht, so
haben sie gehandelt. Damit haben sie in den vergangenen Jahrhunderts
den Grundstock für den Ruf und den Reichtum des deutschen Volkes
gelegt. Dieses Erbe wird gerade in wenigen Jahrzehnten verjubelt. Langsam
geht es an die Substanz! Resümierend kann man aus diesem Punkt
ableiten, daß an dem einzigen Rohstoff, über den Deutschland
wirklich verfügte, in den letzten Jahren, man kann sagen, seit
der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem anschließenden
Sieg der Amerikaner, systematisch Raubbau betrieben wurde. Das Erwachen
aus diesem Schlaf der Vernunft wird fürchterlich sein. Als Beleg
für diese Ausführungen mag dienen, daß der Präsident
der Handwerkskammer vor einiger Zeit vom Bundeskanzler für die
mangelnde Bereitschaft der deutschen Handwerksbetriebe, Lehrlinge auszubilden,
abgewatscht, antwortete: Es sei den Meistern der Innungen nicht zuzumuten,
Lehrlinge einzustellen, die weder der deutschen Sprache noch der Grundrechenarten
mächtig seien. Der Mann hat recht. Die PISA-Studie untermauert
seine Haltung hinlänglich. Es ist nun interessant, welche
Konsequenzen sich aus dem Gesagten ergeben. Wie schon eingangs erwähnt,
ist das deutsche Volk keineswegs homogener Natur. Das ist einfach der
geographischen Größe des Landes geschuldet, die dazu führte,
daß sich in den vorigen Jahrhunderten starke regionale Unterschiede
in der Lebens- und Denkweiseweise der einzelnen Bevölkerungsgruppen
herausbildeten. Waren die Menschen relativ isoliert wie in den weiten
Landstrichen Mecklenburgs, oder lebten sie an stark frequentierten Handelsrouten
wie am Rhein? Waren ihre Gebiete dichter besiedelt oder dünner,
die Böden fruchtbarer oder ärmer? Diese und viele weitere
Komponenten führten in der Folgezeit zu den mannigfaltigsten Mentalitäten,
die hinwiderum auf die Grundeinstellung der Menschen entscheidenden
Einfluß nahmen. So können wir heute beobachten, daß
der wirtschaftliche Niedergang asynchron und unsymmetrisch verläuft:
Der reiche Südwesten ist derzeit nicht so stark betroffen wie der
arme Nordosten des Landes. Das führt zu Migrationsbewegungen innerhalb
des Volkes, die recht eigentlich von niemandem honoriert werden, außer
den Wirtschaftskapitänen. Die jungen Arbeitskräfte ziehen
aus dem Nordosten ab und lassen ein gigantisches Altenheim zurück,
dessen anzunehmen keiner gewillt ist. Und am Ziel der Wirtschaftsmigration
werden die Neuankömmlinge auch nicht immer mit offenen Armen empfangen.
Keine Einheimischen werden sie im eigenen Vaterland Opfer von Xenophobie
und Mißtrauen. Viele berichten von Anschlußschwierigkeiten
und Integrationshemmnissen auch noch nach Jahren. Migration bedeutet
also nur für den Einzelnen möglicherweise eine Verbesserung
der Lebenssituation. Die Gesamtwirtschaftslage bleibt davon unberührt.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist die traditionelle Bewertung von
Innovationen. Im allgemeinen steht man Neuerungen besonders in Deutschland
sehr skeptisch gegenüber. Besonders rurale Gebiete widersetzen
sich oft erfolgreich jedwedem Progreß. Die quirligen Städte
tun sich da schon etwas leichter. Aber dörfliche Denkweise scheint
sich trotz allem sogar bis in die höheren Entscheidungsgremien
urbaner oder urban ansässiger Strukturen etabliert zu haben: Wird
irgendwo ein kluger Gedanke geäußert, so bedeutet dies noch
keineswegs, daß er aufgenommen und diskutiert wird. Sein Thema
ist im allgemeinen zunächst einmal uninteressant. Der erste Blick
führt den Beurteilenden zum Namen des Urhebers. Hat der überhaupt
schon einen? Wenn nicht - tja, dann balanciert der Gedanke schon verdammt
nahe am Rand des Papierkorbes. Hat man publiziert, kann man auf "anerkannte
Anerkennung" verweisen? Bewegt sich der vorgetragene Gedanke im
Rahmen des verkraftbar tolerablen und eingefahrenen Bereiches oder kommt
er exotisch einher? Wurde er in der "Stammessprache" der jeweiligen
Sektion oder Bevölkerungsgruppe vorgetragen, oder offenbart die
Wortwahl "einen von außen", einen Quereinsteiger oder
gar einen Querkopf? Einen der sich anmaßt, "unsere"
Domäne von seinem unbefangenen, von keinerlei tieferen Einsicht
getragenen und damit unlegitimierten Standpunkt aus zu beurteilen? Das
kommt einer Kriegserklärung gleich und hat nur geringe Aussicht
auf Erfolg. Die dahinter steckende Absicht wird gar nicht erst wahr
genommen. Eine Ursache der Stagnation! Und eine gewichtige noch dazu!
Die Schlußfolgerungen fallen leider für Deutschlands Zukunft
pessimistisch aus. Es mag gelegentliche Abschwächungen der Rezession
geben, die ab und an auch mal an eine Zwischenkonjunktur erinnern. Die
Zeit des Nachkriegs-Wirtschaftswunders ist vorbei! Ein für allemal.
Zu einer nachhaltigen Erholung der Wirtschaftslage wird es erst wieder
kommen, wenn der allgemeine Lebensstandard soweit heruntergefahren wurde,
daß sich Produktion in diesem Lande als einem Billiglohngebiet
wieder rechnet. Ähnlich, wie wir es heute in Irland erleben. Und
die Not die Menschen wieder zu kreativem Denken und Handeln zwingt,
das sich nicht mehr mit der Ausgestaltung des nächsten Urlaubes
befaßt, sondern mit dem Überleben des Tages. Wenn die Animateure
in den Ferienanlagen brotlos werden, weil die Menschen sich wieder selbst
zum Leben - bzw. dann: Überleben - animieren, dann besteht für
das deutsche Volk wieder Hoffnung. Die vollen Bäuche, die Sorglosigkeit,
die Dekadenz, das kindische Beharren auf Gewohntem und die Angst vor
innovativem Umdenken sind die schlimmsten Feinde des deutschen Volkes
und seiner Nationalökonomie. Hier gilt es anzusetzen. Ich befürchte
nur, es wird eine Roßkur vonnöten sein, wie sie auf ähnliche
Weise Maggie Thatcher der kränkelnden Britannia verordnet hat.
Aber wer hätte das Format, diese Maßnahme gegen den sicheren
Widerstand so gut wie aller Kreise der Bevölkerung durchzusetzen
und dann auch noch durchzuhalten? Und wenn einer käme, der dieses
Format hätte, wer garantiert dem deutschen Volk, daß das
nicht ein neuer Adolf ist, der es um kurzsichtiger Lösungsvorschläge
in neues, namenloses Elend führt? Ein Patentrezept steht leider
auch mir nicht zu Gebote.