Eine
verhinderte Stadt an der unteren Havel
Dr. Clemens Bergstedt hält Antrittsvorlesung vor Historischem Verein
Dr. Bergstedt hält seine Antrittsvorlesung
vor dem Historischen Verein. Im Hintergrund: Grabrelief Erzbischof
Wichmanns von Magdeburg
Kotofeij K. Bajun
Ein großes Dorf ist Wusterwitz
geworden, ganze 4 km lang, beidseitig der Chaussee. So fällt es gar
nicht weiter auf, dass seine aus einem Guss scheinende romanische Feldsteinkirche,
die so typisch ist für die Kolonistenkirchen von der Unterhavel bis
zum Fläming, für eine Dorfneugründung des augehenden 12.
und anbrechenden 13. Jahrhunderts doch ein wenig überdimensioniert
scheint. Es sieht so aus, als wäre die Kirche für eine Stadtgründung
des ausgehenden Spätmittelalters konzipiert gewesen. Und in der Tat
– Erzbischof Wichmann von Magdeburg, General-Siedlungs-Unternehmer
und die sicherlich überragendste organisatorische, politische und
Diplomatenpersönlichkeit Mitteldeutschlands dieser Epoche, plante
für Groß-Wusterwitz eine Stadtgründung, die, wäre
ihr denn Bestand beschieden gewesen, heute mindestens das Format von Genthin,
Belzig oder Jüterbog gehabt hätte. Wichmann wäre mit „seinem“
Groß-Wusterwitz in der unteren Havelgegend präsent gewesen.
Und noch heute geht ja die Grenze der Kirchenprovinzen Magdeburg und Berlin-schlesische
Oberlausitz mitten durch Brandenburger Stadtgebiet. Desungeachtet wurde
es nichts mit der Stadtgründung. Wusterwitz, trotz dörflicher
und Marktsiedlung – also zweier mittelalterlicher Rechtskreise –
blieb ein Dorf. Warum? Wichmann und sein Stab waren ausgewiesene Profis
und keine Stümper, die irgendwelche Luftnummern ausheckten, der willkürlich
Ortschaften in die Landschaft pfropften. Was also war schiefgegangen?
Dr. Clemens Bergstedt von der Bischofsresidenz Ziesar spürte den
Ursachen dieser offensichtlichen Fehlentwicklung in seiner Antrittsvorlesung
am 26.11.2009 vor dem Historischen Verein der Chur- und Hauptstadt nach.
Im restaurierten Paulikloster fand das Referat ein würdiges Ambiente.
Sachkundig und eingebettet in Erklärungen zum historischen Kontext
führte der Museumschef in die Welt des Mittelalters, eine Welt, die
dem Menschen der Neuzeit mitunter so fern und fremd erscheint, in der
dennoch die Grundlagen für unsere moderne okzidentale Welt geschaffen
wurden. Die Probleme, mit denen sich mittelalterliche Ortsgründungen,
die ja streng genommen nichts anderes waren als komplexe Wirtschaftsunternehmen
und auch genau deren Entwicklungen und Gesetzen folgten, konfrontiert
sahen, waren die Probleme von Industrieansiedlungen von heute. Natürlich
kamen in Bezug auf mittelalterliche Kolonisationen noch die Unwägbarkeiten
von Seuchen, militärischen Auseinandersetzungen und politischen Konflikten
hinzu. Dennoch – eine Neugründung stand und fiel zunächst
mit der Weitsicht des Lokators, der das Gelände ausgesucht und parzelliert
hatte, mit der Fruchtbarkeit des Bodens, mit den geographisch-topographischen
Gegebenheiten, mit dem Zugang zu Wasser als Trinkwasser aber auch als
Energielieferant für den Mühlenbetrieb oder sogar als Wasserstraße.
Es war abhängig vom Verhältnis zu der einheimischen, besiegten
und daher oft nicht gerade freundlich gesonnenen slawischen Bevölkerung
und überhaupt von der Anbindung an das bestehende infrastrukturelle
Netz. Letzterer Punkt, so Dr. Bergstedt, zeichnet wohl hauptsächlich
dafür verantwortlich, dass Wusterwitz trotz verliehener Marktgerechtsame
auf keinen grünen Zweig kam. Die beiden Hauptverbindungsstraßen
zwischen Magdeburg und Brandenburg an der Havel liefen irgendwann einmal
nicht wie von Wichmann geplant durch Wusterwitz hindurch, sondern im Norden
und Süden an dem Orte vorbei. Dasselbe könnte, so der Zieseraner
Burgherr weiter, auch Luckenberg zum Verhängnis geworden sein, das
ebenfalls den Konkurrenzkampf gegen das nur 850 m entfernte Parduin, den
Kern der späteren Altstadt Brandenburg, verlor. Auch hier blieb als
einziges Relikt die wunderschöne romanische Backsteinkirche St. Nikolai
übrig, die für einen einfachen Weiler mit ihrem dreischiffigen
und apsidischen Aufbau ebenfalls viel zu groß geraten ist. Allerdings
könne man anhand dieser spätmittelalterlichen Kirchenbauten
berechtigt mutmaßen, wie wohl der Erstbau der Katharinenkirche der
Brandenburger Neustadt ausgesehen haben mag. Eine Erkenntnis allerdings
überragte den gesamten Einblick in eine Zeit, fünfunddreißig
Generationen zurück: die Pionierzeit war eine hochdynamische Ära
des Aufbruchs, unglaublich agil und lebenszugewandt, aber eben auch nicht
frei von Fehlkalkulationen und mitunter sogar tragischen Rückschlägen,
wie allein das dem Landboten bekannte halbe Dutzend Wüstungen auf
dem Brandenburger Stadtgebiet und der näheren Umgebung hinlänglich
beweist. Derrenthin, Stenow, Blosendörp, Luckenberg, Planow, Deutsch
Briest, Schmölln... Was damals passierte, eignet sich gut als Lehrstück
auch für unsere Zeit. Diese Brücke geschlagen zu haben, seht
auf der Habenseite des Referates im Paulikloster, mit dem sich der Historische
Verein im Übrigen einen neues Auditorium erschloss. |