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Auferstanden
aus den Kleidern...
Vor zwei Jahren legte Tom Wolf sein „Kreideweiss“
vor
J.-F. S. Lemarcou
“Da habe ich also, meine Herren,”,
flötete unheilschwanger der Chefredakteur bei der allmorgendlichen
Redaktionssitzung, “jüngst in die Tiefen unserer Bibliothek
hineingelangt, just dort, wo die Wolfs versammelt stehen und was, meine
Herren glauben Sie, wurde mir in den nächsten zwei Tagen zur spannenden
Bettlektüre?” Die Frage hatte einen so unverkennbar scharfen
Ton angenommen, dass sämtliche Kollegen einschließlich Herrn
Akinokawas einen kreideweißen Gesichtsausdruck annahmen. “Einen
Wolf also”, murmelte Herr Bajun, den das alles nichts anzugehen
schien, während er seine Pfeife nachstopfte. “So, so... einen
Wolf... Nun, wer schriebe spannendere und unterhaltsamere Krimis denn
unser geschätzter Wolf!” „Eben“ quiekte Herr Fjøllfross
schrill, dass selbst unserem kampferprobten Juden, dem Herrn Druckepennig,
das Blut in den Adern gefror. „Und denken Sie nur, mein lieber Stellvertreter
und Kulturchef, da sehe ich in unserem Archiv nach, was wir wohl zu diesem
Wolfe geschrieben haben – und was finde ich? NICHTS!“ Die
Stirne runzelnd nahm Herr Bajun die Pfeife aus dem Munde. „Nun,
da schicken Sie doch noch mal den Ladenschwengel in die Loipe...“
Hübnern wich die letzte Farbe aus dem Teint. Doch der Chef achtete
seiner nicht: „Brauche ich nicht, lieber Bajun, brauche ich nicht.
Es geht nämlich um „Kreideweiß – Letzte Schreie“!“
Herrn Bajun erstarrte für einen Augenblick das selbstgefällige
sibirische Gähnen mitten im Gesicht, was jedoch kaum auffiel, denn
niemandes Blicke gelüsteten es nach den zuckenden Blitzen zwischen
den beiden Granden des Landboten. Buchstäblich alle entsannen sich
der Tage im Herbst 2008, als geknurrte und gebrüllte Wortfetzen aus
dem Büro des Vizes auf den Flur dröhnten: „...verdammte
Schwuchteln, Modegecken, notgeiler Hohenzollern...“, „...watt'n
Urwald an Drapage, kommt keine Sau mehr hinterher – Gott schütze
den Erfinder des Tangas – ein einziger Begriff für wenig Fummel
– mehr braucht kein Aas auf der Welt!“ und wie er Hübnern,
den Volontär, alle Stunde nach einem Fläschlein Stolitschnaja
sandte, ihm hinterherbrüllend, „...ziehen Sie sich einen Manteau
über, husch husch, es ist kalt...“, oder „vergessen Sie
Ihres Habits nicht...!“. Von Hübner sah man in solchen Augenblicken
regelmäßig nur noch einen Kondensstreifen und wenn er das Gewünschte
zaghaft an die Vizetüre klopfend herein brachte, so vernahm man das
klägliche Gejaule des Sibirjaken, man müsse seinen hessischen
Bruder, den Dr. Isegrim, in der Wolfsgrube gefangen und übel kujoniert,
ihm das Werk quasi auf der Tortur abgepresst haben und er hätte da
auch schon wen in Verdacht...
Das war nun anderthalb Jahre her und nun, ausgerechnet nun musste der
Alte das Büchlein aus dem Schranke ziehen. Doch der Norweger hatte
sich bereits ausgetobt, zu nahe wollte er seinem Kulturchef auch nicht
auf den schwarzen Pelz rücken. Und so kam das Buch in meine Richtung
geflogen, beinahe meinen geliebten Bordeaux über des Tisches Rand
befördernd. „Lesen Sie's, Monsieur, und sagen Sie mir und der
Welt hernach, wie gut es ist!“ Die implikative Aufforderung beinhaltete
schon das Ends-Urteil. Wer beschreibt meine Erleichterung, als ich nach
252 rasend und gierig durchmessenen Seiten feststellte, es sei mir ein
leichtes mit dem Chef d'accord zu gehen. Das Buch ist wunderbar. Sicher,
sicher – der Kasak tragende Russe hat schon recht: Ist das Rokoko
schon eine der opulentesten Epochen schlechthin gewesen, so spiegelt es
sich just in diesem Preußen-Krimi des Dr. Tom Wolf wie in sonst
wohl keinem anderen.
Mit gewohntem phänomenalen Wortwitz öffnet uns der Homburger
den Blick ins Jahr 1772. Ein Jahr vor der Revolution in meiner Heimat
schlägt die Dekadenz der gehobenen Schichten Purzelbäume, während
die unteren Chargen bereits ihre Hunde und ihre Schippenstiele aufzufressen
beginnen. Der Autor nimmt uns mit auf eine, wie Herr Bajun richtig bemerkte,
rechte „Dschungeltour“ durch die Couture des ausgehenden 18.
Jahrhunderts, als ein aldliges Weibsbild mehr Kleidungsteile über
der Haut denn Knochen darunter trug. Und alle, alle Firlefanzien zählt
der nimmermüde Romancier enzyklopädisch auf, keine Falbel, keine
Bordüre, kein Jabot lässt er aus, der Monsieur Schriftsteller.
Lehrreich und bildend wie immer..., vor allem die Damenwelt sollte von
denen ins Detail gehenden Schilderungen begeistert sein. Das eigentliche
Faszinosum aber findet sich wiederum auf den Nebenkriegsschauplätzen
dieses Buches: Da kolportiert Tom Wolf spitzzüngig die Vertreter
der Modewelt, die „Laffen“, wie Herr Bajun sich ausdrückt
und das Wort „Laffe“ etymologisch unkorrekt, dafür aber
stock und steif als Abbreviatur der Bezeichnung „Lackaffe“
erklärt. Dennoch lässt Herr Wolf gerade bei Leuten wie dem Couturier
Mister Charles Lakefield – man interpretiere diesen Familiennamen
mal als false friend ins Deutsche und imaginiere dabei einen bekannten
deutschstämmigen Hungerhaken, der noch immer die Metropole an der
Seine verunsichert – am Schluss seiner Erzählung eine grandiose,
beinahe un-Wolf'sche Milde walten. Wieder einmal gelingt es dem plaudernden
Genius Wolf die Kreationen der Neuzeit, wie Modeschauen auf Catwalk-Stegen,
seinem Handlungsrahmen einzuverleiben – und, wer hat's erfunden:
Natürlich sein Zweiter Hofküchenmeister und Chefermittler Langustier,
selbstredend ganz nebenbei und aus der Not geboren... !
Er ist ein Schalk, wie es ihn seit Villon nicht mehr gab, oder zumindest
seit Arno Holz, dieser Tom Wolf. Und wenn der Beruf eines Narren der wert-
und anspruchsvollste der Welt ist, weit diffiziler noch als selbst der
eines Steuerberaters in der Bundes-Bananenrepublik, dann sollte dieser
Tom Wolf seine literarische Narrenklatsche tragen dürfen wie ein
Marschall seinen Marschallsstab und ein König sein Zepter. Über
all die staunenswerten und lustigen und fesselnden Kapriolen, die der
Feder Wolfens entfließen, ist man beinahe geneigt, das genialste
Moment an diesen Krimis schlechthin zu übersehen: Diese unnachahmliche
Art Spannungsbögen aufzubauen. Der Mann schreibt, dass man meint,
man säße in einem Kino. Er parliert bildlich, plastisch, entwirft
in luftiger Höhe waghalsige erzählerische Salti, die trotzdem
einem unsichtbaren Faden folgend am Ende punktgenau und zielsicher auf
dem schmalen Seile landen, das der Autor beginnend mit dem ersten Buchstaben
gespannt hat. Wo hat er all diese Welten her, von denen er schreibt? Er,
der just in diesem Buche die eigene Zunft, die der Journaille nämlich
und damit sich selbst, so herrlich auf die Schippe nimmt? Ist da schon
ein ganzer Kosmos fix und fertig im Wolfskopf, bevor die Feder das erste
Mal in die Tinte tunkt oder balanciert Preußens intelligentester
Schreiber auf einem Drahtseil, dass erst in dem Moment einen Zoll weit
nach vorne wächst, in dem der Autor seinen nächsten Schritt
tut? Er ist ein Mysterium – dieser Mann – der uns nur durch
ein winzigen Spalt seiner Theaterlandschaft hinter die Kulissen seiner
Seele blicken lässt: Es ist die heile, allzu heile Welt der Großfamilie
seines ermittelnden Küchenchefs und Schöngeists Langustier,
ein Deus ex machina, der so sakrosant ist, dass Wolf wohl über seinen
deduzierenden Koch, nicht aber über dessen privates Lebensumfeld
zu lachen vermag. Ein übers andere Mal möchte man rufen: „Mensch,
Honoré, hau doch mal Deinen Blagen von Enkeln mit der Kelle auf
die Pfoten, raunz' doch mal Deine Tochter an, zieh Deiner Rahel einfach
so mal in der Küche den Rock runter, fass' doch nur einmal so richtig
vulgär in die Scheiße!“ Hier und nur hier schwächelt
die Dramatik des späteren Wolf'schen Opus gelegentlich, hier ist
alles so persilweiß, idyllisch und spannungsfrei. Hier hätte
Herrn Bajuns Gemaunze einen Sinn gehabt, nicht beim Verriss des Topos
eines rokokoesken Modekosmos. Ein geplatztes Abflussrohr inmitten des
preußischen Elysiums, sei es im Delikateß-Comptoire zu Berlin,
in der Villa am Heiligen See oder draußen in Caputh. (Dort müsste
nicht mal was platzen – der Stank der bösen Dorothea weht von
selbst noch durch die Säcula...).
Und so ist es ein weiteres Wunder, wie Wolf das jedesmal hinbekommt, den
kriminalistisch mitfiebernden Leser buchstäblich bis zu den letzten
Seiten bei der Nase herum zu führen, so wenig differenziert er die
einzelnen Charaktere bis dato zeichnet, sie müssten sich doch im
Laufe der Handlung verraten, sie müssten Farbe bekennen, rabenschwarz
oder kreideweiß – tun sie aber nicht. Lieber Herr Wolf –
gibt es eigentlich eine etymologische Verwandschaft zwischen den Wörtern
fou und f(il)ou [Narr/Lausejunge]? Seit ihrem „Letzten Schrei“
des Jahres 2008 ganz gewiss!
Und – wenn Sie Herrn Bajun treffen sollten, ich weiß, sie
mögen den alten, leibesmächtigen Russen – verraten sie
– francophil wie Sie erwiesenermaßen nun mal sind, nicht einen
schneckenfressenden und rotweinsaufenden Sohn der Loire, dass er an seinem
Kulturboss vorbei eines Ihrer Werke hoch leben ließ, welches dieser
einst begrantelte. Selten sind die Fürsten leutselig, wenn es um
eine Korrektur einst gefasster Entscheidungen geht... Na ja, wem sage
ich das! |