Mord
im weißen Kittel
Brandenburger Theater führt „Tiergartenstraße
4“ auf
Michael L. Hübner
Pünktlich zur Einweihung des
Denkmals der Grauen Busse auf dem Nicolaiplatz führte das Theater
in der Studiobühne Christoph Klimkes Stück „Tiergartenstraße
4“ aus dem Jahre 2008 auf. Während sich im Großen Haus
die leichte Muse mit der Operette „Der Bettelstudent“ begeistert
feiern ließ, fanden nur verhältnismäßig wenige Besucher
den Weg in die Studiobühne. Die dargebotene Kost gehört zugegebenermaßen
zur schwerverdaulichsten überhaupt: „Tiergartenstraße
4“, oder kurz „T4“ genannt, ist schließlich das
Synonym für den tausendfachen Mord an geistig und körperlich
Behinderten, an Homosexuellen, „völkisch Minderwertigen“
und anderen Randgruppen, die von den Nationalsozialisten als „lebensunwertes
Leben“ klassifiziert wurden. Das staatliche Verbrechen wurde sogar
mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933“
legalisiert. Killer im weißen Kittel wie Prof. Hans Heinze, Prof.
Julius Hallervorden, Dr. Aquilin Ullrich, Irmfried Eberl und Oberärztin
Dr. Friedrike Pusch töteten, experimentierten und präparierten
mit kalter Bestialität – immer das Wohl des „Volkskörpers“
und die eigene Karriere vor Augen. Keiner von ihnen wurde nach dem Kriege
nennenswert belangt, weder in Ost- noch in Westdeutschland. Hallervorden
bekam sogar das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland
um den persilweißen Kragen gehängt.
Mit dieser fürchterlichen Thematik setzt sich Klimkes ebenso minimalistisch
gestaltetes wie tief berührendes Theaterstück auseinander. In
Brandenburg an der Havel, der Stadt, der mit den Tötungsanstalten
Brandenburg-Görden und Neuendorfer Straße ein unauslöschliches
Kainsmal eingebrannt wurde, gewinnt eine solche Aufführung natürlich
besondere Brisanz. Die dargestellten Charaktere sind keine Romanfiguren,
sie liefen durch dieselben Straßen, nannten dieselbe Stadt in ihrem
Adresskopf, lebten an der Seite der heutigen Großelterngeneration.
In seinem Stück schafft es Klimke, schaffen es die fünf Schauspieler,
das Grauen von damals, all das für uns Nachgeborene Unfassbare lebendig
werden zu lassen. Mit beispiellosem, weil unbedarftem Zynismus bringt
das Monster Dr. Ullrich (Ulrich Voß), nunmehr schwer Krebskranker
Bewohner einer Seniorenresidenz ganz in der Nähe der ehemaligen administrativen
Tötungszentrale Tiergartenstraße 4, seine Weltsicht zur Gehör.
Es schaudert einen ob dieser Unbeschulbarkeit. Eines seiner ehemaligen
Opfer, der fiktive pensionierte Kinderarzt Dr. Niemand (Manfred Borges),
der als Zehnjähriger im Gegensatz zu seiner Schwester der Vernichtung
entkam, trifft nun als behandelnder Arzt auf seinen ehemaligen Peiniger.
Der Arzt und Humanist steht dem Schänder des Arztberufes gegenüber,
der im Angesicht des eigenen qualvollen Sterbens seinerseits um „Erlösung“
bittet. In diesem Bitten noch rechtfertigt er seine Handlungen von damals,
unterstützt von seinem Sohn, seinem Enkel (Thomas Rudnick), der ehemaligen
Mitstreiterin Pusch (Friederike Frerichs). Überzeugend zwitschert
Katharina Spiering als unbedarft naive und liebevoll-dümmliche Lernschwester
dazwischen, die sich einesteils fassungslos äußert, wie man
im Rahmen des Euthanasieprogramms Kinder töten konnte, andererseits
im Angesicht des eigenen sterbenskranken Großvaters die Möglichkeit
des Gnadentodes wohlwollend erwägt. Und man weiß: Wäre
dieses Mädchen Ärztin geworden und die gesellschaftlichen Verhältnisse
hätten es hergegeben, Frau Oberarzt Dr. Friederike Pusch hätte
eine würdige, „gutmeindende“ Nachfolgerin gefunden. Es
sind nicht nur die Mörder, es ist Masse, die zum eigenen moralischen
und ethischen Denken zu bequem und zu unreflektiert ist, welche die damaligen
Ungeheuerlichkeiten möglich machte. Klimkes Stück löste
nicht nur Betroffenheit aus – es alarmierte! Es machte bewusst,
dass das Leben eben nur in den seltensten Fällen eine lustige Operette
ist, sondern im eigenen Interesse ständige Wachsamkeit erfordert. |