Nach Kleist wieder eine Oper am BT
Puccinis La Bohème sorgte für ein
ausverkauftes Haus
Photo: Bajun
Kotofeij K. Bajun
Mit der jüngsten Opernpremiere
am Brandenburger Theater legte ein stolzer Viermaster der Weltmusikkultur
an der Grabenpromenade an: Puccinis 1896 in Paris uraufgeführte
und seitdem in allen Opernhäusern der Welt beheimatete traurig-romantische
“La Bohème” sorgte wieder einmal für ein krachend
volles Haus. Nun war es zwar nicht die originale Bohème, sondern
eher eine sowohl in der Besetzung als auch in der Handlung außerordentlich
verschlankte Version mit deutschem Libretto – dennoch gelang es
dem Gestalter der Neufassung, Konrad Chr. Göke, nicht zuletzt mit
der Einführung der dem Original fremden Figur des Muerto (span.
der Tod, gespielt von Gábor Biedermann) die Grundaussage des
Stückes unverfälscht beizubehalten, was das Publikum am Ende
mit achtminütigem Applaus, teils Standing Ovations, Getrampel und
Gejohle honorierte. Doch die vom Publikum verteilten Straußenfedern
können sich mehrere Akteure ins Stirnband stecken. Angefangen bei
einem hervorragenden, wirklich superben Bühnenbild – das
in sich geschlossen und dennoch offen war und Michael Helmraths Brandenburger
Sinfoniker dezent im Hintergrund und doch visibel und absolut verdient
omnipräsent in das Werk einbezog – was für ein Einfall
es aus dem Orchestergraben zu befreien, wenn diese Art der Aufführung
Brandenburgs grandiosesten Generalmusikdirektor auch einige Schweißtropfen
kostete! Eine drehbare und angeschnittene Loft in der westlichen Hälfte
der Bühne, bereichert durch heimische Graffiti-Kunst – die
Betonung liegt dabei auf dem Worte „Kunst“ – machte
das Klischee vom Leben der Bohemiens recht nachvollziehbar. Dann aber
zog Göke seine blutjungen und dennoch hochprofessionellen Asse
aus dem Ärmel: Die fünfköpfige Besetzung der eigentlich
mit doppelter Personalstärke versehenen Urfassung riss alles –
und am Ende das Publikum von den Sitzen. Ganz vorneweg die estnische
Fee Liisi Kasenõmm – Himmelherrgott noch mal, wer hat denn
dieses Poster verbrochen, das überall in der Stadt hängt und
das für sich genommen ein Sakrileg an der Person dieser Diva darstellt
– und dann gefolgt von ihrem Bühnenpartner, dem Merseburger
Christoph Schröter. Deren und die Stimmen von Marcello (Giulio
Alvise Casseli), DEM zukünftigen Bariton des Landes wo die Zitronen
blühen und Heike Maria Förster als Musette gaben einer kleinen
Bühne in der Provinz für anderthalb Stunden ein Flair von
Welt. Insbesondere die bildschöne Estin beeindruckte mit einer
Tonsicherheit, selbst dann noch, wenn sie schmachtend auf den Boden
sank. Dazu die schauspielerische Leistung aller fünf Mimen, die
es verstanden, mit dem Körper Linien in den Raum zu zeichnen, spannungsgeladen
und dramatisch – eine Kunst, in der vor allem Casseli und Schröter
brillierten. Was den mimischen Part der Aufführung betraf, so wurde
schnell klar, warum Göke den vom Schauspielhaus Zürich herbeigeeilten
Gábor Biedermann mit dem jungen Gründgens verglich –
das Potential steckt in ihm, die Eleganz und die ganz eigenständig
profilierte Präsenz. Es zum alten Gründgens zu bringen –
dazu hat er ja noch das ganze Leben vor sich. Etwas zu kurz kam die
wichtige Figur der Musette, die ja als das weiblich-vermittelnde Element
zwischen der Mimi und den beiden Künstlern Rudolfo und Marcello
fungiert. An dieser Stelle war die Schere, die Göke bei der Handlung
des originalen Werkes ansetzte, schmerzlich zu spüren. Muerto musste
quasi als Mädchen für alles auch die Rolle des reichen Verführers
Alcindoro in seinen Auftritt integrieren – was nicht eben leicht
zu verdauen war. Lässt sich in der ursprünglichen Fassung
das arme Mädchen vom vorgetragenen Reichtum, also von praller Lebenslust
korrumpieren, so führt uns der Regisseur mit der blitzsauber singenden
Heike Maria Förster am Arme Muertos eine Prolongierung des Berliner
Totentanzes, eine Version von „der Tod und das Mädchen“
vor Augen – die ja eigentlich eher auf die Figur der Mimi zutrifft.
Das stiftet Verwirrung und wird auch der wirklich verführerischen
Mezzo-Sopranistin nicht gerecht.
Zu beklagen ist auch, dass die Puccini'sche Musik, mit der die ganze
Handlung steht oder fällt, im Zeitalter des Fernsehens vor der
Allgegenwart der Filmmusik verblassen muss. So schön sie auch ist
– Ron Goodwin und Ennio Morricone sind auch nicht übel und
während zu der Zeit des Paul Nipkow Filme bestenfalls von einem
Pianisten vor der Leinwand begleitet wurden und daher eine Opernmusik
im Stile der Belle Époque noch ein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen
konnte, hat sich die Situation gerade bei Themen, wie sie von diesem
Libretto gezeichnet werden, grundlegend geändert. Einem Don Giovanni
kann das nicht passieren und einem Artaserse auch nicht. Und überhaupt
– so einen richtigen Gassenhauer, den man noch nach zweihundert
Jahren auf der Straße pfeift, sucht man in dem Rührstück
vergebens. Dennoch, dennoch – allein die großartige Be-
und Umsetzung des Werkes rechtfertigte den fulminanten Applaus nach
dem Schlussvorhang. Es ist wieder einmal einer der großen Würfe,
die dem Brandenburger Theater gelangen, was schon durch den Umstand
bewiesen wird, dass man in der Umgebung der Brandenburger Grabenpromenade
während der Premiere von Mimi – La Bohème vermehrt
Kraftwagen mit Berliner Kennzeichen sah. Ja, die Stadt Max Reinhardts,
Bert Brechts und Heiner Müllers scheint peu a peu zu realisieren,
wo auch in ihrer unmittelbaren provinziellen Nähe Kunst geboten
wird, die auch international vorzeigbar ist. Noch besser aber wäre
es, würde man dieser Erkenntnis auch in der Chur- und Hauptstadt
endlich gewahr werden und nicht die Protagonisten des Erfolges in einer
idiotischen Parforcejagd sinnlos durchs Dorf hetzen.