Mimi – La Bohème
Am 6. Mai Premiere im Stadttheater
Liisi Kasenomm als Mimi
Kotofeij K. Bajun
Was für eine verrückte Welt! Da beteiligen sich junge Menschen
an DSDS, die haben nichts in der Birne sondern nur sich, ihren Friseur
und ihren Stylisten eine Menge Zeit gekostet – deren Name wird
von Arkona bis Garmisch auf und ab, hoch und runter gebetet. Und dann
gibt’s da junge Leute, eine Estin, einen Italiener und einen Merseburger
beispielsweise, die haben studiert, vor der Musik gar Germanistik und
Wirtschaftswissenschaften, die beherrschen die Hohe Sangeskunst bis
zur euphorischen Vollendung – aber auf der Straße findet
man ihre Namen nicht. Dafür auf der Besetzungsliste von „Mimi
– La Bohème“, die nach 18 Jahren von Konrad Chr.
Göke wieder auf der Brandenburger Bühne zur Aufführung
kommt. „Eine Neuauflage des Erfolgsstückes von damals gibt
es nicht“, so der Regisseur, der die Aufgabe eines Spielleiters
darin sieht, im Verlaufe der Proben entbehrlich und erst bei der Aufführung
des Werkes wieder erkennbar zu werden. Selbstverliebt ist er nicht,
der Herr Göke, und je bescheidener die Regisseurs an die Arbeit
gehen, desto mehr ist am Ende von selbiger erfahrungsgemäß
zu erwarten. GMD Michael Helmrath, dessen drohende und vollkommen sinnfreie
Entlassung unter denen kulturinteressierten Brandenburgern einen Protestorkan
entfacht hatte, übernahm das Dirigat eines Puccini, dessen musikalische
Wahrhaftigkeit Herrn Helmraths Auge glänzen ließ. „So
viel Gefühl... die Musik, gewachsen wie ein Baum...“, na,
na, Herr Generalmusikdirektor – wenn wir schon die Natürlichkeit
eines musikalischen Opus loben, so wollen wir doch den Namen unseres
venezinaischen Allvaters Vivaldi nicht in den Skat drücken, vor
dem auch ein Puccini das Knie beugen muss. Mehr als „al santo
selpocro“, geht, was Gefühl und schlichte Natürlichkeit
anlangt, mit Sicherheit nicht. Das ist das Urmeter aus der Lagunenstadt
und wir – verlieren uns wieder in musikalischen Grabenkämpfen.
Nein, da wollen wir uns von Liisi Kasenomm, der bildschönen Fee
aus den verzauberten Wäldern Estlands herausträumen lassen,
die ohne Zweifel nicht nur durch ihren optischen Magnetismus für
ein ausverkauftes Haus sorgen wird. Von schnöde nüchternen
Fachleuten wird ihre Stimmlage als Sopran klassifiziert. Ach was, diese
glockenhelle Stimme eröffnet eine Kategorie für sich. Wenn
die Esten mehr solcher Töchter besitzen, dann ist klar, was die
Ritter des Deutschen Ordens einst wirklich an die nordöstlichen
Gestade des baltischen Meeres zog. Gegen diese Frau wird Bernstein zur
Nebensache! Als Tango-Spezialistin wurde sie vorgestellt. Doch wir befürchten
– der Mann, der auch nur einen Tango in den Armen der schönen
Estin übersteht ohne die Seele und den Verstand zu verlieren, muss
erst noch geboren werden. Nach dieser spektakulären Mimi erhob
Bariton Giulio Alvise Caselli aus Ferrara beim Theaterfrühstück
am 25. April seine Stimme. Und nun offenbarte sich eine scheinbare historische
Stringenz: Fielen die Damen reihenweise in Ohnmacht, wenn der Kastrat
Farinelli auch nur hüstelte, so schmachteten sie Ausgangs des letzten
Jahrhunderts die „großen“ italienischen Tenöre
an. Warte mal, schönes Geschlecht, bis du diesen saft- und kraftvollen
Bariton gehört hast, der keines Mikrofons bedarf und über
die Stimmgewaltigkeit eines preußischen Unteroffiziers verfügt
– wo der schmächtige, hoch aufgeschossene Italiener das her
nimmt, das weiß Gott allein – und dann wird das Riechsalz
neu verteilt! Mit Caselli bricht die Ära der italienischen Baritons
an – sein Marcel wird bei der Premiere am 6. Mai den Brandenburgern
den Beweis liefern. Und wessen Auge dann noch trocken bleibt, der sehe
sich nach einem passenden Hörgerät um!
Als dritter Vertreter der hervorragenden Besetzung ließ sich der
aus Merseburg gebürtige Tenor Christoph Schröter vernehmen,
der dann auch eine der Hauptrollen, den Rudolfo nämlich geben wird.
Tausend Jahre, nach dem König Heinrichs Elitekommando „Die
Merseburger“ an den Stränden von Havel und Spree für
Angst und Schrecken sorgten, revidiert nun ein 31jähriges Talent
das Bild, das unter denen Nachfahren der Wenden einst von allem herrschte,
was aus Merseburg, dem einstigen Vorposten der deutschen Ostexpansion,
herüber kam. Die Merseburger Zaubersprüche waren gestern –
jetzt ist es ein gehaltvoll-präsenter Zaubergesang, der sogar in
den oberen Tonlagen noch immer kraftvoll agiert und dabei nichts an
Gestik und Mimik fehlen lässt. Gerade diesen jungen künstlerisch
durchgebildeten Persönlichkeiten will Herr Göke soviel Gestaltungsfreiheit
wie möglich lassen – und deshalb, so der Regisseur, gäbe
es nun mal keine Neuauflage, sondern eben etwas ganz Neues. Das hätte
sicher auch Puccini gefallen. Der hätte sein La Bohème um
die Figur des Muerto (span. der Tod) bereichert gefunden, die in die
deutsche Fassung von Göken hineingedichtet wurde. Gábor
Biedermann vom Schauspielhaus Zürich – nach Göke eine
Inkarnation des jungen Gründgens – führt dezent durch
die Handlung und die lebenslustige Tragödin Mimi am Ende in den
sicheren, süßlich-Puccini'schen Tod. Das geschieht sicher
nicht zum Nachteil des Stückes, das in bestimmten Teilen aus bühnentechnischen
und Kostengründen auf seine Essenz herabfiltriert wurde. Dafür
aber bereichert die Brandenburger Kunst-Graffiti-Szene das Bühnenbild
– das eben nicht den Pariser Montmartre darstellt, sondern eine
Künstler-Loft irgendwo auf dem halben Wege zwischen London und
Wien – und wenn Brandenburg denen Bohemiens schon eine Heimat
böte, so könnten es wohl auch die alten Hallen der AlWo sein.
Herrn Helmraths Orchester wird aus dem Graben hinauf auf die Bühne
befördert – ungewohnt für den Star-Dirigenten, der gerne
mit seinen Sängern „mit atmen“ möchte. Eine Herausforderung,
wie er sagt – aber ohne eine solche mag doch ein chur- und hauptstädtischer
Generalmusikdirektor gar nicht aus den Federn kommen...
Obschon die Premiere so gut wie ausverkauft ist – zählt man
alle acht geplanten Aufführungen zusammen, so werden rund 3.000
Brandenburger in den Genuss einer Oper von Welt kommen – wenn
sie sich die begehrten Plätze nicht durch angereiste Gäste
von weit her wegschnappen lassen.