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Street View – der Nacktscanner für die deutschen Seele

Michael L. Hübner
Drei Dinge treiben die deutsche Seele momentan zur Weißglut: Der Stuttgarter Hauptbahnhof, die Atommüllkippe Gorleben und – Google Street View. Diese Photofritzen unterstehen sich doch tatsächlich, durch deutsche Straßen zu fahren und Bilder aufzunehmen, was das Zeug hält. Und diese Photos sollen ins Internet – sichtbar für jeden Pinguin, Eskimo, Ainu, Buschneger, Amazonas-Indio und vor allem für den – Nachbarn! Da hört sich doch alles auf! Wo gibt’s denn so was? Der Deutsche, weltweit Vorreiter im Datenschutz, kann und darf sich eine solche Sauerei nicht bieten lassen! Dagegen muss Sturm gelaufen werden..., oder vielleicht doch erst einmal gefahren? Damit uns die Benzinkutsche auch brav zur Demonstration fährt, betanken wir sie und reichen dem Tankwart die Rabattkarte über die Theke. Desgleichen im nahen Supermarkt, der uns pro Hundert Euro Einkauf fünf Cent Bonus verspricht, vorausgesetzt, man lässt die Kassiererin die kleine Rabattkarte einlesen, die den Datenauswertern des Supermarktes genaue Auskunft über das Kaufverhalten und die Vorlieben des Kunden gibt. Bei Facebook und in anderen dergestalten Foren zieht sich der gemeine deutsche Konsument bis unter die Unterhose aus, gibt gnadenlos alles von sich preis. Und so geht das den ganzen lieben langen Tag und in der Nacht auch noch. Warum also dieser Aufstand, wenn Google Street View durch deutsche Städte fährt und Bilder knipst, die dann weltweit zur Ansicht gelangen? Die Leute kommen doch nicht einmal ins Wohnzimmer und dort, wo sie photographieren, kommt auch jeder Tourist ungehindert hin. Warum also soll sich ein Mädchen aus Perth in Downunder nicht an seinem Rechner ein Bild machen können, wie eine Nebenstraße einer deutschen Gartenzwergkommune aussieht? Was ist so schlimm daran? Sie spart sich doch nur eine Menge Geld, die es kosten würde, persönlich und mit ihrer eigenen Leica bewaffnet dorthin zu reisen. Ja, der springende Punkt wird wohl sein, dass es für diese Dienstleistung keine Geldzuwendungen, Rabatte oder sonstige Vergünstigungen für die Eigner der abgelichteten Immobilien gibt. Da wären sie wohl alle Feuer und Flamme und würden ihre Buden noch so recht illuminieren und herausputzen! Doch leider kommt für die Gartenzwerge nichts bei rüber! Und noch schlimmer: Da erkennt doch Frau Gartenzwerg tatsächlich die Familienkutsche just vor dem Eingang des Hauses, in dem die Schlampe, das Aas, die verdammte Hexe wohnt. Hat also ihr Oller tatsächlich doch wieder... Und – halt mal – ist das nich der Schulze von Nebenan, der da gerade mit einer prallen Einkaufstüte aus dem Orion kommt? Hi, hi, hi. Na, das gibt Gesprächsstoff morgen im Beauty-Shop! Aber, was den Ollen betrifft, der Schweinehund hatte doch hoch und heilig versprochen, die Finger von dem Flittchen zu lassen! So ein Lump! Wo war noch gleich die Telephonnummer der Scheidungsanwältin! So gesehen hat also die ganze unendlich große Koalition der Schwerenöter allen Grund gegen Street View mit Spieß und Schild zu Felde zu ziehen. Das Seitenspringen wollen und können sie nicht lassen – aber niemand hat das Recht, sie mit ihren Lumpereien zu konfrontieren. Und wer ist der natürliche Verbündete aller eifrigen Seitenspringer? Natürlich alle finsteren Gestalten, die in der Parkstraße und der Bäckergasse geheime Giftgasanlagen betreiben, Waffendepots und unterirdische Raketensilos. Nein, Michel will selbst entscheiden, wann er sich auf dem Marktplatz der globalen Eitelkeiten exhibitionieren will und zu welchem Zweck und vor allem zu welchem Preis. Dass es sich bei Street View um eine der harmloseren Spielarten der Datenausspähungen handelt und derselbe Michel beiderlei Geschlechts für einen lumpigen Groschen im nächsten Supermarkt, an der nächsten Tankstelle, beim nächsten Online-Flirt ein Tausendfaches an Daten über sich preisgibt, ist dabei völlig unerheblich. Das sind dieselben ewigen Archetypen der menschlichen Dummheit, die ihren Ärger über die insuffiziente Behandlung ihres Asthma bronchiale erst einmal im Rauche einer guten Fluppe ersticken müssen. Kompromittierender als die Fotos von ein paar Häuserfassaden wäre wohl nur noch, wenn es Google Brain View gelänge, den Intellekt des deutschen Gartenzwerges zu scannen und dann anschaulich zu veröffentlichen. Dabei aber würde es paradoxerweise wahrscheinlich keinen allzu starken Protest hageln – denn mit was für exorbitantem Zeugs sich da die Google-Fritzen abgäben, das würde sich dem Michel mangels Masse denn doch eben kaum erschließen. Wäre ja auch völlig wurscht. Denn Doofsein ist seit den Achtzigern des letzten Jahrhunderts ein integraler Bestandteil der deutschen Leitkultur und somit eine geachtete und respektierte Eigenschaft. Das darf das Mädchen aus Perth und der Buschmann aus Afrika ruhig sehen und bestaunen: Wie doof der Michel ist, und was er trotz oder gerade deswegen für einen Schlitten fährt. Solange der bloß eben nicht gerade vor der Türe der heimlichen Liebschaft abgeparkt ist...

17. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
19.11.2010