Dürfen die das?
Zur leidigen „Abzocke-Diskussion“
bei Geschwindigkeitsmessungen
Don M. Barbagrigia
Was den Norden bewegt, bewegt nicht nur ihn. In ihrer hochwertigen NDR-Sendung
“Menschen und Schlagzeilen – was den Norden bewegt”
thematisierte Susanne Stichler die von allen Rasern der Republik bejammerte
Abzocke durch unentwegte Geschwindigkeitskontrollen. Der Grüne
Michael Dette und die mit dem mächtigen ADAC verbandelte Verkehrsrechtsanwältin
Heike Bellmann vertraten argumentativ die verschiedenen Positionen,
wobei der geschmähte Grüne das Gesetz zu rechtfertigen suchte
und die eine etwas blasse Figur abgebende Anwältin schon allein
dafür Applaus aus dem Publikum bekam, dass sie gegen die Radarfallen
zu Felde zog. Das alles ist ein bigottes Spiel und wirft das bezeichnendste
Licht auf die Leute im Publikum, die ganz offensichtlich die Mehrheit
des deutschen Michels repräsentieren. Es geht diesen kurzsichtigen
Gestalten um ihren Geldbeutel, den sie von penetranten Wegelagerern
permanent schmählich geleert finden – und sonst geht es ihnen
um gar nichts. Ja, vor ihrer eigenen Haustüre! Da ist das ganz
was anderes. Das muss eine Tempo-30-Zone sein, oder noch besser eine
Spielstraße. Zu begrüßen wäre eine Fußgängerzone
– optimal eine Zuwegung, die zu befahren nur ihnen, das heißt,
den Anwohnern gestattet ist. Da wollen sie ihre Ruhe haben. Und wenn
dann ihr Kind von einem Verkehrsteilnehmer umgekarrt wurde, der sich
nicht an die Geschwindigkeitsobergrenze gehalten hatte, dann ist das
Theater aber groß. Dann klagen sie Volk und Vaterland, Polizei
und Behörden an, auf diesen Unfallschwerpunkt nicht mit Geschwindigkeitsbegrenzungen,
auf deren Einhaltung nicht mit konsequenten Maßnahmen reagiert
zu haben. Da gibt’s kein Pardon! Wenn sie aber selbst unterwegs
sind, so gilt es ihnen nicht. Überhaupt, die Gesetze sind dazu
da, damit sich alle anderen daran halten.
Wozu sind Gesetze in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt da?
Antwort: Um sie auszulegen! Keinesfalls aber dazu, sie ernst zu nehmen,
sie zu respektieren und schon gar nicht, um sie buchstabengetreu einzuhalten.
Das ist eine Nachkriegskrankheit, welche die 68er in Folge der für
die Deutschen so katastrophalen Autoritätshörigkeit ausgebrütet
haben. Ein Gesetz ist eine Autorität, wird als solche empfunden,
wird vom Deutschen in wahrhaft welscher Manier als solche bekämpft.
Eine Geschwindigkeitsbegrenzung vom 50 km/h ist dem gemeinen deutschen
Automobilisten keine gesetzlich vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit,
jenseits derer er sich in einen strafbaren Bereich begibt, also das
Gesetz übertritt, es bricht, es ignoriert – es ist ihm bestenfalls
ein Richtwert, den man nicht allzu exzessiv überschreiten sollte.
Das ist ein Grundübel der westdeutschen Gesellschaft, die damit
nur allzusehr verdeutlicht, dass das deutsche Volk seine innere Mitte
noch immer nicht gefunden hat und wie wild um sein so ersehntes Schwerkraftzentrum
perpendikuliert. Es gibt kein gesundes Mittelmaß.
Die ganze Situation spiegelt auch die gestörte Beziehung des Volkes
zu seiner überegulierten und sämtlicher Bodenhaftung verlustig
gegangener Legislative und Jurisdiktion wieder. Sie können zueinander
nicht kommen, das Wasser ist viel zu tief.
In Preußen hat man klare Vorstellungen vom Sinn eines Gesetzes.
Es regelt das konfliktarme Zusammenleben des Volkes, es schafft die
Grundlagen von Ausgleich und Gerechtigkeit. Das heißt, wenn es
respektiert und eingehalten wird, und zwar von allen. Und wenn die,
welche es übertreten, knallhart mit entsprechenden Sanktionen belegt
werden – ohne wenn und aber. Gerade dieses Wenn und Aber ist es,
was zur Aufweichung der Haltung gegenüber dem Gesetz führt.
„Der durfte, weil... Mich haben sie verknackt, weil ich a) einen
anderen Richter oder b) keine so gute Ausrede hatte oder c) beidem ermangelte.
50 ist 50, 30 sind 30! Basta. Auch wir haben uns mächtig aufgeregt
zu Köpernitz bei Rheinsberg. Man kommt von Gransee in den Ort,
sieht das Ortseingangsschild, fährt sinnig. Hinter der Straßeneinbiegung
nach Rheinsberg zu meint man durch einen Wald und freie Heide zu fahren.
Der Ort erstreckt sich rechts der Straße hinter dichter Vegetation.Der
Ortsunkundige wähnt, er habe, wenn es denn überhaupt ein Dorf
gab, dieses längst wieder verlassen, auch wenn er sich eines Ortsausgangsschildes
nicht entsinnen kann. Der obligate Blitz aus dem Gebüsch belehrt
ihn ad hoc eines besseren. Geldabzocke? Na sicherlich. Es ist auch dem
Landboten kein Geheimnis, dass solche Gelder in den Landes- und die
kommunalen Haushalte fest eingeplant sind und die Bußgeldjäger
auf gewisse Summen angesetzt werden, die sie beizutreiben haben. Und
gnade ihnen Gott, sie schleppen die veranschlagte Kohle nicht zum Fiskus!
Dafür haben sie sich zu verantworten. Keiner spricht drüber.
Die Bestimmer in dieser Sache lügen und dementieren, dass sich
die Balken biegen. Ist schon klar. Was nicht sein kann, das nicht sein
darf. Geschenkt! Was man auch immer dagegen anführen mag, ein Argument
der modernen Raubritter tjostiert alle Gegenreden vom Felde: Dort stehen
Schilder, die eine gesetzliche Regelung anzeigen, die im Interesse der
Gemeinschaft einzuhalten ist. Ist sie offenkundig unsinnig, so hat in
einer Demokratie jeder das Recht, zu versuchen, dem Unfug auf gerichtlichem
Wege Einhalt zu gebieten. Ist er damit erfolgreich, nun gut, dann kommen
die Schilder weg. Befindet ein Gericht zu Gunsten des Gesetzgebers,
dann bleiben sie halt da und jeder hat sich weiterhin nach ihnen zu
richten. So einfach ist das.
Die Unfähigkeit des Fiskus, die Zahnlosigkeit der Rechnungshöfe,
die Verschwendung von Steuergeldern und der daraus resultierende stetige
Bedarf an flüssigem Gelde wird von uns nicht bestritten. Das ist
so klar wie ein lichter Frühlingstag. Aber – es steht auf
einem ganz anderen Blatt! Das ist eine andere Baustelle. Das ist eine
andere Tasse Tee. Das wird an dieser Stelle eben nicht verhandelt und
es ist einfach unzulässig, es an dieser Stelle zur Sprache zu bringen.
So kann Gesetzgebung und die Überwachung der Einhaltung von Gesetzen
nicht funktionieren! Das ist Diversion, Aufweichung, Unterminierung
von Gesetzen. Es ist der Anfang von Anarchie. Geht hin, weist nach,
dass das Tempo-30-Schild an dieser Stelle unnötige Schikane ohne
entsprechenden Gegenwert ist. Zeigt auf, dass der Kindergarten, vor
dem es einst angebracht wurde, seit 10 Jahren eine ungenutzte Ruine
ist und die andere Straßenseite eine Brache! Beweist, dass das
Schild dort keine Berechtigung mehr hat und lasst es entfernen! Dann
fahrt wieder eure 50 km/h. Aber nicht vorher. Nicht eine Minute vorher.
Ein Fahrzeug aus dem Fuhrpark des Landboten wurde zu Köpernitz
geblitzt. Wir haben geflucht. Aber eben auch über uns. Denn: Wir
haben das Ortseingangsschild oder eben das Ortsausgangsschild nicht
gesehen. Es war unser Fehler, denn beide Schilder standen und stehen
nachweislich da. Und wenn zwei Ortsteile durch einen Wald voneinander
getrennt wird, der aber die Mitte des Dorfes bildet, dann haben wir
trotzdem die innerorts üblichen 50 km/h zu fahren und nicht 52,
und nicht 80 und nicht 120. Wenn wir statt des Ortsausgangsschildes
ein spielendes Kind nicht wahrgenommen hätten, wäre es auf
Grund unseres Versagens jetzt tot oder ein Krüppel. Der Fahrer
hat zu sehen und er hat richtig zu reagieren oder er soll die Pfoten
vom Steuer nehmen.
Die Kerls hinter dem Gebüsch und in den dienstanweisenden Büros
sind Raubritter, das stellen wir hier nicht zur Disposition. Aber –
sie sind im Recht! De jure, und damit de facto. Sie sind im Recht. Nicht
sie, sondern jene, die ihnen das Recht auf unsachlichem und anarchischem
Wege bestreiten, gefährden den inneren Frieden des Landes. Vielleicht,
weil sie das in der Tiefe ihres traurigen Advokatenherzens ahnte, machte
Heike Bellmann bei Susanne Stichler einen so bleichen, nicht überzeugenden
Eindruck. Sie aber hatte wenigstens noch das intellektuelle Vermögen,
diesen ach so simplen Sachverhalt zu reflektieren. Das klatschende Publikum
mehrheitlich wohl eher nicht. Und das ist ein wirklich ernsthafter Grund
zur Sorge.