Gaudeamus Igitur – kein Lied
für Schülerkehlen
J.-F. S. Lemarcou
Die Brandenburger Saldria ist eine Bildungseinrichtung der Oberklasse
– keine Frage. Diese Schule mit einer Tradition von beinahe einem
halben Jahrtausend kann sich getrost mit anderen elitären Kaderschmieden
der Mark vergleichen. Das Joachimsthalsche Gymnasium, das Gymnasium
Zum Grauen Kloster, das Französische Gymnasium, das Canisius-Collegium
und eben die Brandenburger Saldria führten Generationen von Schülern
zu hervorragenden Abiturprüfungen, die den Zugang zu europäischen
Universitäten von Rang eröffneten. Nein, die Saldria hat nichts
gemein mit jener unwürdigen Baumschule, die sich Städtisches
Gymnasium Goetheschule Essen nennt und unendliche Schande über
die deutsche Bildungslandschaft gekübelt hat, als selbst die Deutschlehrer
dieses Hauses vor laufenden Kameras zugeben mussten, dass sie das 1780
entstandene, weltberühmte Poem „Wanderers Nachtlied“
ihres Namenspatrons nicht kennen.
Nein, die Saldria hat einen anderen Ruf. Sogar den Status einer Europaschule
konnte sie erringen. Chapeau! Dennoch scheint es auch hier Defizite
zu geben, die uns in bedenklich erscheinen. Da lässt die Schule
ihre neuen Eleven am 23. August 2010 von den älteren Jahrgängen
mit dem „Gaudeamus Igitur“ begrüßen. Das ist
Blasphemie! Das darf sie nicht! Das ist eine Anmaßung! Das Gaudeamus
Igitur ist seit dem Mittelalter die europäische Studentenhymne
und kein Schülerliedchen, das mal eben so geträllert wird,
um mit den frisch erworbenen Lateinkenntnissen anzugeben. Diese europäische
Studentenhymne, die als solche offiziell vor 122 Jahren von der Universität
Bologna bestätigt und geadelt wurde, darf gesungen werden von Leuten,
die sich an einer Universität immatrikuliert haben. Dieses Lied
gehört den Studenten, die nach Hambach und auf die Wartburg gezogen
sind. Für das Gaudeamus Igitur nahmen Studenten der Humboldt-Universität
in den Fünfzigern und Sechzigern des letzten Jahrhunderts die Exmatrikulation
und damit auch einen entscheidenden Bruch ihrer Biographien in Kauf.
Der Verfasser dieses Artikels stand 1980 im Auditorium Maximum der Technischen
Universität Danzig und sang zusammen mit 500 polnischen revolutionären
Kommilitonen das Gaudeamus Igitur, während draußen die FDJ-Funktionäre,
die polnische Staatssicherheit und das Militär tobten. Die Kommunisten
bedrohten die neuentstandene Solidarnosc, mit denen sich die polnischen
und ein paar deutsche Studenten zusammentaten. Man hatte Mut im Herzen
und Tränen in den Augen. In diesem Auditorium sang das europäische
Studententum und kein westdeutscher Haufen amorpher „Studierender“
und das Gaudeamus Igitur war, ist und bleibt seine Hymne.
Kein Soldat hat das Recht, sich eine Hauptmanns-Uniform überzustreifen,
kein Bürger hat das Recht, sich das Bundesverdienstkreuz um den
Hals zu hängen, wenn es ihm nicht verliehen wurde und kein Gymnasiast
hat das Recht, das Gaudeamus Igitur zu singen. Er darf es heimlich in
seiner Kammer auswendig lernen, alle sieben Strophen und die Übertragung
ins Deutsche von unserem großen Kommilitonen stud. med. Johann
Christian Günther gleich dazu, dass er es für den großen
Tag seiner Immatrikulation parat hat. Und wenn sie dann als Studiosi
Mumm beweisen und sich stark machen für die europäische Idee,
wenn er oder sie nächtelang durchbüffeln und am Morgen doch
wieder in den Hörsaal torkeln, obwohl ihn oder sie keiner dazu
zwingt; wenn sie mit ihrem Kommilitonen aus Schwarzafrika in die Studentenpinte
gehen und sich vor ihn stellen, wenn er angepöbelt wird, weil er
ein Neger ist, selbst wenn sie dabei riskieren, die Fresse poliert zu
bekommen – dann, dann und erst dann dürfen sie das Gaudeamus
Igitur aus ihren Herzen heraus singen und mit dieser Hymne die Festung
des freien europäischen Studententums beflaggen. Gymnasiasten dürfen
sich von ihren Sitzen erheben, wenn gestandene Studenten oder Philister
dieses Lied singen, und sie dürfen ihre Mützen abnehmen und
ehrfürchtig und schweigend zuhören. Sie dürfen sich vornehmen,
ebenfalls tapfere und engagierte Studenten zu werden. Aber selber singen,
nein, das steht ihnen einfach nicht zu. Und das sollten die Lehrer einer
Schule wie der Saldria ebenfalls wissen. Oder wurde ihnen das an ihren
Hochschulen nicht vermittelt? Dann waren sie keine Studenten, dann waren
sie Studierende oder eben nur – anwesend. In diesem Sinne zitieren
wir das Leitthema der letzten Strophe unserer Hymne, und wir tun es
mit einem nota bene: pereat ignorantes!