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Die Schönheit der Steine Auf Usedom berichten weitgereiste Steine von den Tiefen der Erdgeschichte
Neu Pudagla. Wissen Sie, was Archangelsk, Sinope an der Südküste des Schwarzen Meeres, die Nordwestecke Kretas, die spanische Stadt Villaricos und die norwegische Stadt Tromsø gemeinsam haben? Nein? Nun – sie befinden sich alle in etwa auf einem Umkreis von 2.000 Kilometer rund um die Stadt Brandenburg an der Havel, in welcher der preußische Landbote hauptsächlich erscheint.
2.000 Kilometer – dass sind schon einige Tagesreisen zu Fuß. Mit jedem Schritt schafft man ungefähr 800 Millimeter. Nun setzen Sie mal jeden Millimeter mit einem Kalenderjahr gleich – wie lange ist das letzte Silvester bereits her? Erinnern Sie sich noch? Und das wäre nach unserer Rechnung noch nicht einmal ein Millimeter auf einer metrischen Skala. Aber nun das Ganze bis Archangelsk gedacht, bis Sinope und Kreta, bis Villaricos und Tromsø. Abb. 4 und 5 Glatt geschliffen und vom Transport "gezeichnet", links ein Diorit Durchs weite Meer, über hohe Berge und entsetzlich tiefe Täler, durch dichte Wälder und über gewaltige Flüsse und Seen hinweg – Millimeter für Millimeter, zwei Milliarden Millimeter – das sind 2.000 Kilometer – und jetzt bekommen Sie eine Vorstellung davon, wie tief zwei Milliarden Jahre in den Ozean der Erdgeschichte hinabreichen!
So alt ist er … der Stein mit der Nummer 105, ein Granit aus Uppland im Lande Schweden. Zwei Milliarden Jahre … Das erfüllt das Herz mit Demut. Die Hälfte des Weltalters. Neben ihm lungern ein paar jung'sche Hüpfer im Gras herum, der jüngste nur etwa 80 Millionen Jahre alt. Man möchte ihm zärtlich ein blaues Pionierhalstuch umlegen. Dieser Stein, der noch 15 Millionen Jahre lang die Dinosaurier an sich vorüber stapfen sah, liegt mit seinen 139 Genossen im Gesteinsgarten des Forstamtes Neu Pudagla auf der Insel Usedom, just wenn man auf der Fernstraße 111 gen Swinemünde unterwegs ist. Abb 9 Schautafeln erklären die komplizierten Wege der Steine Der Abstecher von der Chaussee lohnt. Da liegen sie, die Trumms und Kaventsmänner, die Findlinge und Riesenklamotten, bis zu sieben Tonnen schwer, Volumina bis zu 2,3 m³ umfassend, wie der große Sandstein aus der Stadt Nexø auf der zauberhaften Insel Bornholm. Glatt sehen sie aus und bunt konglomeriert, die Granite, die Quarzite, die Sandsteine und Diorite, die metamorphen Gesteine, die durch die heiße Hölle des Erdmantels gingen. Sie bergen andere Steine in sich und sind geädert und tarnen ihre wahre Natur – denn wer käme denn bei dieser kürbisgroßen Klamotte auf die Idee, dass es sich um einen Feuerstein handelte. Alle wurden sie entlang eines Rundkurses platziert, nur durchbrochen durch einzelne Schautafeln. Auf diesen steht unter anderem zu lesen, wer diese schwere Last einst zum großen Teil an ihren heutigen Lagerplatz brachte: Es war das pleistozänale Eis, das sich vor 13.000 Jahren von Norden her nach Mitteleuropa wälzte. Die mächtigen Eismassen schmirgelten die Felsstücke aus ihrer natürlichen Nachbarschaft heraus, nahmen sie auf und schleppten ihre schwere Fracht teilweise über 1.000 Kilometer weit nach Süden. Als die liebe Sonne dann wieder etwas wärmer schien, tauten die mehrere Kilometer dicken Eismassen ab und legten ihr Transportgut ab, wo es eben gerade war. Viele dieser Findlinge fanden später unter dem Einfluss des Nackten Affen eine Verwendung – mal mehr, mal weniger sinnvoll: Hünen- und Steinschiffsgräber wurden gebaut, später Kirchen und Stadtmauern, Burgen und Molen, die tief in die Ostsee hineinragen. Aber ein paar hatten eben auch das Glück, im Gartenbereich des Forsthauses Neu Pudagla vorläufig zur Ruhe zu kommen und dort den interessierten Besuchern beredte Geschichten aus der turbulenten Vergangenheit unseres unruhigen Planeten zu berichten. Da ruht er also in sich … zwei Milliarden Jahre … ist denn das zu fassen! Wo mag er gebildet worden sein? Wann wurde er erkaltend wo an welche Oberfläche gedrückt? Wie weit ist er mit seinem umgebenden Gebirge vermittels der Kräfte der Plattentektonik halb um den Globus gereist? Wie wurde er von seinem Gebirge getrennt und wo zu seiner beinahe kugeligen Form geschliffen? Es ist die blanke Ehrfurcht … von Brandenburg an der Havel bis Archangelsk, Millimeter um Millimeter …
Verlässt der Besucher nun diesen Steingarten, so wartet auf dem Gehöft des Forstamtes noch eine weitere sehenswerte Überraschung: Es ist eine kleine museale Ausstellung, die sich mit der einheimischen Natur befasst, den Tieren des Waldes, den Pilzen und – eine Vitrine widmet sich 400 Millionen Jahren Wald! Ergreifend! Ergreifend vor allem ist die unglaubliche Mühe, die sich die Aussteller vor dem Hintergrund ihres offensichtlich schmalen Budget gemacht haben, ihren Gästen und Besuchern eine aber so etwas von liebevoll arrangierte Exposition zu zeigen. Das ist der Hammer! Nicht einmal Eintritt nehmen die Aussteller, bitten nur um eine Spende. Diese sollte man geben – denn mehr als jedes andere reich bestückte und von Besucherströmen heimgesuchte Museum mit Spitzenexponaten verdienen es solche großartigen kleinen Ausstellungen, unterstützt und gefördert zu werden.
Wer nach Usedom kommt, der sucht zumeist das Meer. Kaiserbäder, imperialer Luxus, Dünen und rauschende Wellen … Dann noch die gruselige Heeresversuchsanstalt Peenemünde und das russische Diesel-U-Boot. Klasse! Mag sein, dass diese die Hauptattraktionen Usedoms sind. Töricht aber ist, wer es darüber hinaus jedoch versäumt, diesem Kleinod seine Aufmerksamkeit zu widmen und seine Reverenz zu erweisen. Der Preußische Landbote tut es, dankbar und erfüllt und belehrt und – glücklich!
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© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012
18.11.2016