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Vorkämpferin oder Egomanin –
das Leben der Marie Grubbe
Jens Peter Jacobsens „Frau Marie Grubbe“

Kotofeij K. Bajun
"Mokk Di mal keen Koppchen nich, min lütten Deern, morjen wiern se 'n niegen Säu dörch't Dörp drieven", pflegte man tröstend zu sagen, wenn die Jungfer mal wieder auf den Rücken gefallen war. Und recht hatte das Volk! Wenn ein bisschen Gras über die Geschichte gewachsen ist, selbst, wenn sie europäische Dimensionen aufwies, dann geraten die Protagonisten mit schöner Regelmäßigkeit in Vergessenheit. Es sei denn, so ein paar Schriftsteller kommen auf den Trichter, das Ganze noch einmal genüsslich auszuschlachten, Wenn sich das Elaborat dann auf dem Büchermarkt ordentlich verkauft, dann folgen die Librettisten und die Drehbuchschreiber ... ja, und dann kann es passieren, dass sich so ein Eklat doch etwas tiefer ins Bewusstsein der Menschen schreibt.

Diese zweifelhafte Ehre wurde auch Frau Marie Grubbe zuteil, und genau diesen Buchtitel wählte denn auch ganz unprätentiös der dänische Romancier und Novellist Jens Peter Jacobsen, als er sich 1876 an den Stoff machte, der einhundertfünfzig Jahre vor der Niederschrift des Romans im Norden Europas für Furore sorgte: "Frau Marie Grubbe".

Dass aber ein Buch einhundertvierzig Jahre nach seinem Erscheinen besprochen wird, ist vielleicht auch nicht üblich. Dann muss das schon etwas Besonderes sein. Ist es auch. Ganz sicher!

In einer Ausgabe des Berliner Verlages Neues Leben von 1976 liest sich die Beschreibung des Erzählstils Jacobsens so: „… psychologisierende, impressionistisch-naturalistische Erzählweise … [die den] Widerspruch zwischen bürgerlich-humanistischem Ideal und gesellschaftlicher Wirklichkeit [verdeutlicht].“ Nun gut, Letzteres ist die obligatorische Reverenz an die pseudosozialistischen Lektoren. Verzichtbar also. Aber dieses Wort „psychologisierend“ … das lässt uns grübeln. Das hat so eine leicht negativ angehauchte Konnotation.

Denn genau darin liegt die immense Stärke des Erzählers. Jacobsen ist ein phantastischer Meister des Psychogramms seiner Figuren. Wie er sich in die Seele seiner Heldin hineinversetzt, ist schlichtweg phänomenal. Dabei ist das Büchlein eine einzige Apologese des von den Zeitgenossen als höchst lasterhaft empfundenen Lebenswandels der Marie Grubbe, die Vielen am Ende nur noch als wohlfeile Dirne galt. So wurde dann der totale gesellschaftliche Absturz der ehemaligen Gattin des Vizekönigs von Norwegen und Schwiegertochter des Königs zur mittellosen Fährfrau auf Falster als folgerichtig und gottgewollt angesehen. Zugegeben, diese Haltung war an Heuchelei nicht mehr zu überbieten – denn die schrankenlose Promiskuität Frau Grubbes war ein anerkannter Gesellschaftssport. Nur schrieben die Spielregeln ein Höchstmaß an Diskretion vor, und genau darüber setzte sich Marie Grubbe schlichtweg selbstherrlich hinweg.

Sie muss eine Frau mit heißem Herzen gewesen sein, die nichts anbrennen ließ, glaubt man den Schilderungen Jacobsens,. Aber was war sie nun? Eine Vorreiterin der Emanzipation, die sich mit den kruden gesellschaftlichen Schranken des spätbarocken Patriarchats nicht arrangieren konnte oder wollte? Oder war sie einfach nur eine triebgesteuerte Nymphomanin, deren ungezügelter Egoismus den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden konnte, wenn er denn Schule machte, und deshalb als abschreckendes Beispiel skandalisiert werden musste?

Egal! Sie hatte Mut, zu ihren Ambitionen und zu sich selbst zu stehen und wollte sich nicht unterordnen, selbst auf die Gefahr des unzeitigen gewaltsamen Todes oder einer lebenslangen Klosterhaft hin. Denn man sagt ihr nach, dass sie es in Norwegen sogar mit dem Sekretär ihres Mannes, Joachim Lambert, getrieben haben soll, was nach damaligem Recht ihrem Gatten erlaubte, sie zu töten. Er machte davon keinen Gebrauch. Jacobsen allerdings erwähnt diese Episode nicht. Wohl aber die Affäre mit ihrem Schwager Stigg Høegh. Hier nun kristallisiert sich die sympathisierende Parteinahme für die Heldin des Buches seitens des Autors.

Zwar beschreibt er in der emotionalsten Blumigkeit, wie sehr sich Marie Grubbe von den Seitensprüngen ihres Gatten genervt und gedemütigt fühlte, wie sie ihrer Schwester und Herzensfreundin in tränenreichen Briefen ihr unendliches Leid klagt, welchen Abscheu sie gegen ihren Ulrich Friedrich Gyldenlöwe ob seiner Eskapaden entwickelt. Wenn es Frau Grubbe aber darum geht, ihrer Schwester den Mann auszuspannen, dann kennt sie keine Skrupel. Wir verdanken Herrn Jacobsen einen tiefen Einblick in die Seele einer Frau, deren einstige Liebe und Zuneigung sich in Abscheu, Ekel und Hass verwandelt hat. Wie sich sich Neuem und Neuen öffnet, voller Hingabe, das Alte gleichsam unter ihren Füßen zertretend. Wie unerbittlich und unumkehrbar dieser innerliche Prozess der Abkehr ist und – wie zerstörerisch.

Darüber soll jedoch von unserer Seite kein Urteil gefällt werden. Das stünde uns nicht zu. Doch, wenn dem sich in der Datierung bestimmter Ereignisse sehr ungenau und teilweise falsch bewegenden Text Jacobsens dennoch eine sachlich korrekte Substanz hinterlegt sein sollte, dann verliert die Protagonistin spätestens in dem Augenblick, als sie vom Bauernburschen und Kutscher Søren Sørensen Møller, ihrem dritten und letzte Ehemann, so recht verdroschen wurde und das für den Schläger folgenlos blieb. Sie liebte ihn weiterhin und das bedeutet für uns: Diese Frau begab sich ihrer Autonomie, ihrer tapfer vorgetragenen und verteidigten, selbstbestimmten Würde und degradierte alles das, was sie als Wahre Liebe suchte, zu einem animalischen Triebgeschehen.

Damit deklassierte sie alles Hehre, alles Gute und Anbetungswürdige einer reinen Liebe zu dem, was es in Wahrheit ist, was aber niemand wahrhaben will – niedrigste, hormongesteuerte Triebhaftigkeit. Marie Grubbes Vergehen war also letztlich nur, wie es denn in dem von Jacobsen beschriebenen Gespräch zwischen ihr und dem norwegischen Naturkundler und Historiographen Ludvig Holberg deutlich zum Ausdruck gebracht wurde, dass sie sich gesellschaftlichen Konventionen konsequent verweigerte, die damals als unabdingbar für den Fortbestand des Gemeinwesens betrachtet wurden. Und sie tat das nicht, weil sie eine Vorkämpferin für die Gleichstellung der Frau gewesen wäre, wofür man ihr einen Ehrenplatz in der Geschichte hätte zuweisen müssen, sondern lediglich, um ihren eigenen Trieben keine Zügel anlegen zu müssen. Sie tat also nichts, was über ihre Person hinausgereicht hätte und darum sei ihr auch kein ehrendes Andenken zugesprochen.

Etwas anderes ist es mit dem Buch Jacobsens. Die für damalige Verhältnisse durchaus provokante Rechtfertigung der verstoßenen Frau, die aus verständlichen Gründen einer ausgewogeneren Differenzierung durchaus entbehrt und somit übers Ziel hinaus schießt, inkludiert ein farbenprächtig-naturalistisches und authentisch wirkendes Porträt einer Zeit, die gerade einmal 15 Generationen entfernt liegt. Als Theodor Fontane zwanzig Jahre nach Jacobsen seinen fulminanten Roman Effi Briest vorlegte, da bediente der große Märker das Sujet mit weitaus feinfühligerer und ausgewogenerer Feder. Parallel im tragenden Verlauf arbeitet Fontane die Charaktere und deren gesellschaftliche Einbettung ziselierter aus. Damit ist ihm eine profunde und nachhaltige Kritik an der bigotten Moral einer patriarchalen und überkommenen Ordnung gelungen. Doch mag Jacobsen die Ehre bleiben, auf diesem Gebiet ein Pionier gewesen zu sein. Er schoss den Pfeil schon in die richtige Richtung – der Treffer ins Schwarze, der gelang dann erst Fontane.

 
B
12. Volumen

© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012

14.04.2015