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Genie der fließenden Form Kotofeij K. Bajun
Dieser Mann war ein Gigant seiner Zunft, ein Zeichner, ein Bildhauer, ein Dramatiker – ein Lehrer. Was er vor allem zu lehren hatte, das war eine Menschlichkeit, die sich vor der eines Henry Dunant, eines Albert Schweitzer oder einer Mutter Theresa nicht verstecken braucht. Sicherlich mag man einwenden, die Philanthropie dieser drei großen Persönlichkeiten hätte sich in tätiger Weise um die Menschheit verdient gemacht, im direkten Kontakt mit den Leidenden.
Doch tat Barlach dies nicht? Wer so wie er menschliches Elend in überwältigend beredten Ausdruck zu formen verstand – der musste zwangsläufig sein Herz diesem Leide so geöffnet haben, wie der Himmel weit ist. Barlach war Christ, zweifelsohne. Was für ein Werk auch immer er schuf, er vollbrachte es aus dem Aspekt des christlichen Glaubens heraus. Ein ehrlicher Glaube. Nicht theosophisch verquast, nicht sophistizierend, nicht plakativ. Jedwede Frömmelei verblasst vor dieser tief ins Herz greifenden Kunst. Da hängt der Abguss eines der wertvollsten und berühmtesten Werke Barlachs im Güstrower Dom: Der Schwebende. Und man kann kommen, wann man will. Immer sitzen Menschen vor ihm, in tiefer Andacht, beinahe schon in Mediation. Sollten sie so nicht vor dem Gekreuzigten sitzen, der die Welt überwunden hat? Macht Barlachs Schwebender dem Rebben Jeshua Konkurrenz? Vielleicht. Das hat Barlach so nicht beabsichtigt. Möglicherweise aber ist der Schwebende nur eine andere Entäußerung des armen Galiläers, der sich für die Sünden der Welt auf grauenvolle Art hat umbringen lassen. Vielleicht ist es der Rabbi, welcher der Vergeblichkeit seines Opfertodes gewahr wurde, denn wie schrieb Stefan Heym im „Ahasver“: „ ... zähle einer diejenigen, die nach ihm an Kreuz genagelt wurden und in ihrer Not schrien, 'mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen'!“ Ähnlich unergründlich und berückend „Der Geistkämpfer“. Was im Abendland kommt dieser Skulptur an Mystik gleich! Nur die „Kunst der Fuge“ aus der Feder des Meisters darf in einem Atemzuge mit diesem unvergleichlichen Werk genannt werden. Was ist es, was an Barlach so fasziniert? Sind es die fließenden, weichen Bewegungen seiner Formensprache, die sämtliche Gefühlswallungen der menschlichen Seele so trefflich aufnehmen und um den Hauch einer kaum spürbaren Winzigkeit überzeichnen? Ist es diese mitreißende Dynamik, der man sich nicht zu entziehen vermag? Im Angesicht des Schaffens dieses großen Meisters, der sich mit Giganten wie Albrecht Dürer, Tilmann Riemenschneider, Veit Stoß, Mathis Gothart-Nithart, ja sogar Michelangelo Buonarroti messen lässt, soll und muss jedes kunsttheoretische Salbader verstummen. Es muss verstummen, wie der Betrachter vor der Pietà Barlachs verstummt, welche der Schmerzensmutter im Petersdom in nichts nachsteht. Es muss verstummen, wie der arme Sünder vor Barlachs „lehrendem Christus“ verstummt.
Mit der Schaffung
dieser Skulptur zog das Genie Ernst Barlach noch einmal alle Register,
zu der ein begnadeter Mensch fähig ist. Hier erwacht der stille
und doch das Innerste fordernde Geist des byzantinischen Christus Pantokrator
zum Leben, sich vereinend mit dem ebenfalls eine grenzenlose Ruhe verströmenden,
erhabenen Bild des Christus der Romanik. Es ist uns nur eine einzige
Skulptur aus dieser Epoche überliefert, die von einer ähnlichen
Größe des Ausdrucks getragen wird. Es ist der Erfurter Wolfram.
Doch dieser dient in leicht gebückter Haltung. Der ebenfalls dienende
Christus Barlachs aber sitzt vor uns, aufrecht und gerade, ein leidender
Gott, und doch voller Güte, unprätentiös und dennoch
dem Betrachter ins Innerste der Seele blickend. Man kommt ihm nicht
aus, man kann sich ihm nicht entziehen. Es ist dasselbe Phänomen,
was sich Tag für Tag in der Nordkapelle des Güstrower Doms
beobachten lässt, dem Raum, den seit seinem Neuguss „der
Schwebende“ erfüllt. Es kann wohl sein, dass in diesen Werken,
seien sie von grandios-mystischer, religiöser Ausstrahlung erfüllt,
wie die beschriebenen Skulpturen, oder stellen sie ganz profane Szenen
des menschlichen Seins dar, wie „Der Lesende“ oder die vielen
Situationen des gezeichneten Barlach’schen Oeuvres, oder aber
nähmen sie auch nur Gestalt in einer schlichten, von des Meisters
Hand geformten Vase, sich etwas vereinigt, was sonst durch Welten getrennt
scheint: Das Überirdische des Ausdrucks und das ganz einfache,
bodenhaftende Sujet, das weit entfernt davon ist, mit seiner Schlichtheit
zu kokettieren. Einen Bauern-Bruegel verhandelt man teuer auf dem Kunstmarkt.
Derbe Szenen rustikalen Alltags schmücken herrschaftliches Umfeld.
Barlachs Kunst aber würde sich solchem Ambiente und solchen Intentionen
auf immer verbieten. Sie entzieht sich dem, der sich eitel mit ihr zu
schmücken sucht. Barlach gehört denen, welchen er zeit seines
Lebens diente: Den einfachen Menschen dieser Welt. Auch darin mag das
Geheimnis zu ergründen sein, das Barlach in die erste Reihe der
Gottbegnadeten aufnimmt, in die Reihen derer, die den Ruf Deutschlands,
eine Kulturnation zu sein, begründeten.
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© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012
31.12.2013