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Ein
gerechter Heide aus Kummerower
Ehm Welks Meisterwerk aus heutiger Sicht betrachtet
Michael L. Hübner
Ist es sinnvoll, ein Buch Jahrzehnte
nach seinem Erscheinen zu besprechen? Nun, wenn dieses Buch mehr ist als
eine literarische Eintagsfliege, dann auf jeden Fall. Ehm Welks Bilogie
von den Heiden und den Gerechten von Kummerow zählt zu diesen großen
Werken der deutschen Literatur, die es wert sind, sie wieder und wieder
in das Gedächtnis der wenigen in Deutschland noch Verbliebenen zu
rufen, welche die Kunst des Lesens noch beherrschen.
Um eines vorweg zu sagen: Der Film ist große Klasse, dolle Besetzung,
gut gespielt, herrliche Landschaftsauswahl und – so kommunistisch
überformt, so in der Handlung verändert, dass er beinahe die
ostelbische Antwort auf Ludwig Thomas – an dieser Stelle bekreuzigen
wir uns – Lausbubengeschichten sein könnte. Nein, das hat nichts
vom erzählerischen Tiefgang des Buches. Selbst der gesellschaftskritische
Impetus, der doch im Film viel deutlicher formuliert wurde, kommt im Buche
zwischen den Zeilen leise und dezent verborgen viel kräftiger zum
Tragen.
Die beiden Bücher sind ein Zauberspiegel in eine vergangene Zeit,
nein, in eine Epoche, die mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges ein
für allemal unterging. War es eine gute Zeit? War es die viel beschworene
„gute alte Zeit“? Nein, das war sie nicht. Auch wenn den Kummerowern
und ihren Kindern diese Zeit ihrer Kindheit, das Leben in ihrem Dorfe
wie ein Paradies vorgekommen sein mag – diese Zeit war knallhart,
brutal bis zum Gehtnichtmehr und sie legte das Wesen des Nackten Affen
auf einen kalten, schnörkellosen Seziertisch. Es war eher die Armut,
die in dieser Zeit herrschte – und dabei zählte Kummerow noch
zu den reichen, den privilegierten Dörfern. Kein Vergleich mit russischen
oder walachischen Weilern derselben Ära, kein Vergleich auch mit
Dörfern, die nur einen Katzensprung entfernt, bei ihrer Ansiedlung
kein so günstiges Los mit der Beschaffenheit des Bodens ihrer Gemarkung
gezogen hatten.
Es ist das ganz normale Leben der Gutsknechte und -mägde, der Bauern,
großer wie kleiner, der Kossäten und Tagelöhner und –
der wirklich Armen, derer, die ganz unten stehen und denen man gerade
so das Leben auf niedrigstem Niveau ermöglicht, was Ehm Welk mit
unverblümter, wuchtiger und doch so facettenreicher und detailverliebter
Sprache schildert. Mit dieser Sprache kann er umgehen, der Autor, und
die Hiebe, mit denen er nach denen langt, die das Elend verantworten,
sind nicht von schlechten Eltern. Doch ist – und das ist das Wunderbare
an diesen beiden Bänden – keine Spur von kommunistischer Agitation
zwischen im Gesamttext zu finden. Nur einmal lässt Welk den Vater
seines Protagonisten Martin, Gottlieb Grambauer, zum Pastor Breithaupt
sagen, der tue ihm zuviel der Ehre an, wenn er ihn einen Sozialdemokraten
schimpfe. Sich der Sozialdemokratie anzuschließen sei er Zeit seines
Lebens zu feige gewesen.
Wer in diesen Büchern, die permanent den Finger in die blutige gesellschaftliche
Wunde des Unterschiedes zwischen arm und reich legen, nach kristallklar
herausgearbeiteten und makellosen Klassenkämpferpersönlichkeiten
sucht, wie sie von den Bolschewisten und den Nazis so geliebt wurden,
der scheitert. Welk schaut genau hin. Und so zeichnet er auch seine Figuren:
Da gibt es keine in sich geschlossenen Monolithen wie die von Arno Breker
oder die von Walter Womacka. Welks Figuren entspringen ungeschminkt der
Realität, sind so, wie sie wirklich sind – das ist das Grandiose.
Sie sind menschlich und ich-bezogen zugleich, im selben Augenblicke gütig
und von Hass zerfressen, missgünstig und in jedem Augenblicke auf
den eigenen Vorteil bedacht, um plötzlich wieder einen kleinen Sonnenstrahl
an Menschlichkeit durchbrechen zu lassen. Wer Geld hat, der hat gut lachen.
Der Rest ist im Arsch! Diese Philosophie des elfjährigen Armenhäuslers
Johannes, der sich mit seiner Mutter Luise und dem versoffenen Großvater
und Nachtwächter Andreas Bärensprung eine winzige Stube einer
verfallenen Kate am Rande des Dorfes teilt, und dem grausamen Hohn und
der Verachtung der Dörfler, jung wie alt, ausgesetzt ist, besticht
durch ihre frappante Treffsicherheit. Welk, der sich so unendlich gefühlvoll
in die kindliche Seele hineinfühlen und -denken kann, lässt
hier nicht den geringsten Raum für eine verlogene Idylle.
Wie gesagt, es ist für uns Heutige, die wir in einer verfetteten
und dekadenten, völlig Gesellschaft leben, die sich einen gefühlsduseligen
Anschein gibt, eine harte Welt. Die Dresche, welche die Kinder von ihren
Eltern, ihrem Pastor und auch dem Schulleiter und Kantor beziehen, gehört
zum Alltag wie, nein – nicht wie das Frühstück. Denn das
gehört für viele nicht dazu. Eher noch alltäglich wie der
Tod: Oll Mutter Harms will sterben. „Komm' se man, Herr Paster!
Se will de Sterbesakremente!“ Und der Preester, der gerade beim
Pflügen ist und stolz auf seine schnurgeraden Furchen, treckt sich
den Talar über die Langschäfter, und stiefelt mit Kot und Mist
an den Sohlen zur Sterbenden. Die Dorfjugend will sich inzwischen beim
geistlichen Hirten des Ortes eine Nummer machen, pflügt weiter, und
versaut dem Landwirt-Theologen den Acker. Der bedankt sich, indem er seinen
Helfern ganz unchristlich eine knallt. Blinder Eifer schadet nur. Die
Jungens nehmen es gelassen. Sie keilen sich untereinander, zanken und
vertragen sich, schmieden Koalitionen, verfeinden sich und stehen nur
zusammen wie ein Mann, wenn es gegen die Kinder des Nachbardorfes geht.
Schon ein Dutzend Dörfer weiter würde man sie wie Gäste
neugierig willkommen heißen – aber die Nachbarn... Schlimmere
Feinde gibt es nicht. Oder wohl nur in der eigenen Familie. So haben Konrad
Lorenz und Desmond Morris das Wesen des Nackten Affen beschrieben, so
ist der Raubaffe gestrickt und so hat ihn Ehm Welk meisterhaft in Szene
gesetzt. Die Kummerower Gören sind Straßenmischlinge, an Robustheit
und Derbheit kaum zu übertreffen. Auch die Nazis hätten ihre
helle Freude an Welks Schilderung Martin Grambauers gehabt. Doch lassen
wir die Braunen beiseite. Jedem, dem ein wenig an Verhaltenskunde liegt,
hat sein Vergnügen an diesen beiden Büchern. Welk karikiert
nicht wie Joseph Heller oder Samuel Shem, er zeichnet wirklichkeitsgetreu.
Das reicht durchaus. Da ist der Müller Düker – ein psychopathischer
Charakter. Wer weiß, durch was für eine Kindheit der gegangen
ist, um so zu werden. Oder hat er vielleicht krankheitsbedingt eine vergrößerte
Amygdala, einen Tumor oder eine Laision des Hirns? In Welks Welt fragt
niemand danach. Man ist wie man ist und entweder man passt bezüglich
des eigenen Besitzes und des eigenen Naturells in die Dorfgemeinschaft,
dann hat man es immer noch schwer genug, oder man ist erledigt. Mobbing
– ein Wort unserer Tage, ein Tatbestand, so alt wie die Menschheit
selbst. Mit großem Vergnügen erzählt Welk, wie der bösartige
Müller von der Dorfjugend gemobbt wird. Die Erwachsenen stehen mit
verhaltener Schadenfreude dahinter. Der Leser ist auf ihrer Seite, denn
Düker hat schließlich sein Pferd totgeprügelt und den
alten Hirten Krischan Klammbüdel, der sich vor das Tier zu stellen
wagte, ebenfalls niedergehauen. Aber auch der dorfärmste Junge wird
mitleidlos und grausam gemobbt. Welk nimmt kein Blatt vor den Mund, beschönigt
nichts. Selbst die Familie ist kein Hort des Friedens. Die große
Schwester hasst den kleineren Bruder und er sie, und nur die Eltern lieben
ihre Kinder, das eine mehr und das andere weniger. Wieviel Zank und Unfrieden,
Rachsucht und Bosheit auf den dörflichen Kirchhöfen ruht, ist
wahrhaft unbeschreiblich. Man tut christlich und ist es doch nur mit einem
Zehntel des Herzens. Der Rest ist erstarrtes Ritual, ganz so wie die überkommenen
und vom Pastor verfluchten Bräuche aus der Heidenzeit. Der Titel
„Die Heiden von Kummerow“ war schon ganz recht gewählt.
Und es ist Welk hoch anzurechnen, dass er die echten Heiden, die das Land
vor den Christen besaßen, als die aufrichtigeren und barmherzigeren
Landeskinder schildert. So, wie er die liebliche Natur besingt, deren
Teil die „christlichen“ Dörfler so gut sind, wie ihre
heidnischen Voreltern. Der Pastor mag von der Kanzel aus gegen Unzucht
und sittlichen Verfall wettern, was das Zeug hält – bei der
Heumahd in jedem Juli treiben sie's in den Schobern doch wie die Zuchtkarnickel
und im März hat der Pastor dann unter dem Spott der Nachbardörfer
regelmäßig viel mit dem Taufen der unehelichen Bälger
zu tun. Prohibition bringt halt nichts. Verbiete ihnen das Saufen –
das Volk brennt heimlich. Verbiete ihnen das Rammeln – und sie ächzen
und stöhnen, quietschen und quieken hinter der Scheune, auf der Tenne,
hinterm Holunderbusch und vögeln sich die unsterblichen Seelen aus
dem Leibe. Es ist diese harte und trotzdem von Welk mit viel Mitgefühl
und Liebe berichtete Realität, die dennoch mit keiner Silbe ins Sentimentale
gleitet, die so erschüttert, die so fasziniert.
Kinder sind grausam. Aus Kindern werden Erwachsene. Die meisten dieser
Erwachsenen bleiben untereinander große Kinder. Was wird aus Johannes?
Ein SS-Aufseher in Sachsenhausen oder ein kommunistischer Funktionär?
Ein Opportunist, der für drei Taler Weib und Seele verkauft? Oder
ein Vorkämpfer für Gerechtigkeit? Letzteres ganz sicher nicht.
Es wird die Kommunisten gewurmt haben, wie eben jenen Professor Hans Mayer,
der für die „Heiden“ das Vorwort schrieb, das gerade
aus Johannes kein Rot-Front-Kämpfer wurde. Sein Glück vielleicht.
Am Ende würde ihn die KPD man bloß zum Studium nach Moskau
delegiert haben, wo ihn die GPU aus dem Hotel Lux abgeholt und umgebracht
hätte. Nein, es mag so aussehen, aber mit keinem Wort malt uns Welk
eine Idylle, eine Welt der Sehnsucht, auch wenn sie die Welt der eigenen
Väter und Mütter ist, die heimatliche Scholle, in deren Boden
die eigene Herkunft wurzelt, tausend Jahre tief.
Mit jeder Seite begreifen wir mehr, warum die Kummerow-Bilogie in der
Deutschen Demokratischen Zone Bückware gewesen ist. Grafenkinder,
die trotz Standesdünkels unbefangen mit den Bauernkindern wie mit
ihresgleichen spielen. Ja doch, später trennen sich die Wege. Aber
das passte nun gar nicht hinein in die kommunistische Geschichtsauffassung.
Bauern, die sich aufführten wie kleine Junker und alles andere als
revolutionäre Ideen vertraten. Nee, das geht ja nun gar nicht. So
können wir schon an Ehm Welks Büchern begreifen, warum die DDR
letzten Endes scheitern musste: Sie formte ihr Fundament aus einem haltlosen
Phantasiegebilde, einer geklitteten Geschichtsauffassung, in der es von
mehr Märchen und Sagen wimmelte, als in Grimms und Hauffs und Andersens
Märchensammlung zusammen. Die kommunistischen „Historiker“
versuchten das wahre Wesen der Dinge per Ordre de Mufti im Nachhinein
wegzuleugnen. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Ein Pastor, der im
Grunde genommen menschliche Züge hatte, aber eben doch ein ganz gewöhnlicher
raffgieriger und auf den eigenen Vorteil bedachter Gannef war, dessen
Worte ach so oft im eklatanten Widerspruch zu seinen Taten und den Taten
der von ihm vertretenen Obrigkeit standen – das ging alles nicht
in die Schwarz-Weiß-Schemata der kommunistischen Welterlösungsmodelle
hinein, eben immer nur ein bisschen, aber irgendwo stand immer eine Ecke
drüber. Aber das ist es, was wir Welk so hoch anrechnen: Die ungeheure
Vielschichtigkeit, die Farbigkeit, die Widersprüchlichkeit, die er
so herzhaft aus dem prallen Leben gegriffen hatte und die die Menschen
so nackt vor uns stehen lässt, keiner Lüge und keinem Selbstbetrug
mehr Luft zum Atmen lassend – und immer wieder der salzige Finger
in den unendlich vielen blutenden Wunden des wilhelminischen Deutschland
– das macht aus Welks Kummerow-Bänden neben aller erzählerischen
Finesse und Kunst ein wahres Meisterwerk.
Wertvoll aber wird ein Buch aber erst richtig, wenn es nicht nur hilft,
das von ihm beschriebene Zeitgeschehen zu begreifen, sondern wenn es quasi
zeitlos in Gegenwart und Zukunft weist. Just diesem Anspruch wird Welks
Kummerow-Saga gerecht. Sie ist einer Eisdecke vergleichbar, von welcher
der Schnee heruntergefegt ist. Man erkennt durch sie klar und deutlich
die Tiefe längst vergangener Tage und weiß doch: Der Nackte
Affe ist sich durch alle Zeitläufte hindurch hundertprozentig treu
geblieben! Er ist derselbe alte Schurke, der nur danach trachtet, den
Nächsten um das Seine zu bringen und dennoch mitunter zu bewundernswertem
Altruismus befähigt ist.
Und noch eines lehrt uns Welks Buch. Das soziale Leben in denen Dörfern
hat sich grundlegend verändert. Sicher nicht hin zum Guten. Hübscher
werden sie geworden sein und ansehnlicher, die Kummerows von heute. Aber
während man damals bei Nachbars noch einfach so auf den Hof oder
in die Küche ging, wenn jemand anwesend war, so sind heute viele
Hoftore verschlossen. Kleine Festungen sind die Höfe, selbst und
vor allem gegen die Nachbarn. Man sitzt nicht mehr abends auf der Holzbank
in oder vor der Laube gemeinsam, um noch 'was zu schwatzen. Viele Krüge
machen dicht, weil sie von den Hochzeiten und den Silvesterfeiern alleine
nicht mehr leben können. Die Bauern und ihr Gesinde findet man weder
dort, noch Sonntags in der Kirche. Das Problem der Vereinsamung hat, von
der Stadt kommend, nun auch schon die Dörfer erreicht, in denen das
Kuriosum möglich ist, das Hofbesitzer nach richterlichen Entscheidungen
ihr gackerndes, blökendes, bellendes und wieherndes Vieh abschaffen
müssen, weil man die Dörfer nun schon als „Schlafdörfer“
bezeichnet und nicht mehr als „Wirtschaftsdörfer“. Und
da hat eben kein Vieh mehr etwas verloren. Es ist eine fürwahr wahnsinnige
Welt geworden.
Das Panoptikum, das Welk vor seinen Lesern ausbreitet, ist untergegangen,
ein Anachronismus geworden. Ist es das wirklich? Leider müssen wir
sagen: Ja! Was an ihm ging unter? Die Brutalität und der mitleidlose
Eigennutz der Menschen? Wich er unserer geläuterten Zivilisation,
welche die Prügelstrafe abgeschafft hat und Eltern mit Kittchen bedroht,
die ihren missratenen Sprösslingen eine durchreichen? Nicht die Bohne.
Auf der Gewalt beharrt der Staat als großer Lenker und Vorbildgeber
nach wie vor. Er setzt sie nur sublimer um, er prügelt nicht mehr
– er vernichtet gleich. Er lässt fallen und verdorren. Der
Mensch ist des Menschen Satan. In dieser apokalyptischen Tragödie
den Humor zu behalten und allem grauenhaften Dasein trotzdem noch lustige
Seiten abzugewinnen, darin, genau darin liegt das wohl größte
Verdienst des Ehm Welk. Die Heiden und die Gerechten von Kummerow sind
in erster Linie keine Kinderbücher, sie sind keine Gesellschaftsromane
auf bäuerlicher Ebene, sie sind ein Lehrbuch der Gesellschaftswissenschaften
und der Verhaltenskunde. Sie zählen zu den großen Vertretern
der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. |