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Jorinde
und Joringel
ein überragender Märchenfilm von Wolfgang
Hübner
Kotofeij K. Bajun
Bedeutendes leistete die DEFA einst
für den deutschen Film. Nun, da Eichinger gestorben ist, meint man
landauf, landab, eine unschätzbar wertvolle Cineastik sei mit ihm
untergegangen. Das mag schon stimmen. Aber es ist doch wohl nur eine Epoche
der monumentalen Kracher a la Hollywood. Der Name der Rose – ja,
das war mal was. Die letzten Tage im Führerbunker – sensibel
umgesetzt, gut. Aber leise und dezent einherzukommen und doch mit dröhnender
Wucht zu erzählen, an Archetypen der menschlichen Kultur und gleichzeitig
des kollektiven Unterbewusstseins zu rühren – das war eine
Kunst, die mit der DEFA ins Grab gesunken zu sein scheint.
Da stolperten wir jüngst über einen Märchenklassiker aus
dem Jahre 1986. Wolfgang Hübner verfilmte „Jorinde und Joringel“
aus der Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Er führte Regie
zu einem Drehbuch von Claus und Wera Küchenmeister. Alles große
Namen. Für die Besetzung an exponierter Stelle konnte Jutta Wachowiak
gewonnen werden. Auf sie wollen wir noch gesondert zu sprechen kommen.
Küchenmeisters leisteten ganze Arbeit. Ähnlich, wie der Landbote
das Märchen von Hänsel und Gretel in einen fiktiven Kontext
stellte und vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges
neu erzählte, verfuhren auch sie. So zeigen gleich die ersten Szenen,
wie ein Söldnerheer um das Jahr 1630 herum eine Ortschaft überfällt,
plündert, brandschatzt, „auspocht“, wie es im Landsknechtsjargon
heißt. Da wird der Greis nicht geschont, obwohl er sich vor den
lutherischen Söldnern zum Protestantismus bekennt. Die Mutter, die
auf Knien ihr Kleinkind flehend einem Offizier entgegenhält mit der
Bitte, wenigstens dieses zu schonen, wird erbarmungslos über den
Haufen geschossen. Der Pfarrer hat den Dolch an der Kehle, das Dorf brennt
– es ist ein Albtraum wie aus dem „Abentheuerlichen Simplicissimus
Teutsch“ von Grimmelshausen. Das Gröbste erspart und die Kamera:
das Vergewaltigen, den Schwedentrunk, die Foltern, um den Bauern die letzten
Heller abzupressen. Vor diesem Elend flieht eine Familie in die Wälder.
Durch das geschändete Dorf kommend, findet der Mann (Hans-Peter Reinecke)
einen kleinen Waisenjungen, der als einzig Überlebender des Massakers
nunmehr verloren auf dem Anger sitzt. In christlicher Barmherzigkeit nimmt
er ihn auf, dem realistisch vorgetragenen Protest der Mutter (Walfriede
Schmitt) zum Trotze, die zu bedenken gibt, dass das Essen kaum für
sie reiche. Etwa sechzehn Jahre später hat sich die kleinen Sippe
eine Hütte inmitten eines großen Moores gebaut, schwer erreichbar,
einiges an Sicherheit bietend. Hinter dem Moor erstreckt sich ein schier
unendlicher Wald, ebenfalls Schutz und Nahrung spendend. Doch der Wald
birgt noch mehr. Eine Fee, in der Grimm'schen Märchensammlung als
böse Hexe diffamiert, hat es sich zur Aufgabe gemacht, junge Mädchen
vor dem rohen Zugriff der marodierenden Landsknechte zu schützen.
Sie, dargestellt durch die meisterhaft spielende, ideal besetzte Jutta
Wachowiak, entführt die Mädchen in ihre Anderswelt, in der die
bildhübschen Fräulein ohne Not und Sorgen, dafür aber in
einer Art fröhlichen Trancezustand dahingleiten. Das Schloss, das
den Mädchen luxuriöse Heimat ist, verwandelt sich im Diesseits
in eine Ruine, in die hunderte Vogelkäfige drapiert sind. In Vögel
verwandelt sind die Mädchen nunmehr vor Verfolgung und Vergewaltigung
sicher. Zum Schloss gelangt man durch einen Wasserlauf und einen Tunnel.
Tief greifen die Filmemacher in das Repertoire der vorzeitlich-keltisch-europäischen
Glaubenswelt hinein und bedienen sich ausgiebig – sehr zum Vorteil
des Märchens.
Bei der Figur der Alten aus dem Walde lohnt es sich einen Augenblick zu
verharren. Als Hexe wird sie zunächst auch von Joringel (Thomas Stecher)
und seiner Ziehmutter beschimpft. Doch sie ist etwas anderes: Sie ist
die althochdeutsche Haga, die weise Frau aus der die Christen dann später
in ihrer bodenlosen Dummheit den Prototypen der bösen Hexe zimmerten.
Sie ist eine germanische Göttin, die Inkarnation der vom Christentum
verleumdeten Urmutter. Deutlich wird dies in der Szene, da sich die Mutter
und die Göttin begegnen. Die Mutter hält der vermeintlich bösen
Hexe ein Kruzifix entgegen um sie zu bannen. Lächelnd erwidert die
mit einem solch lächerlichen Affront Konfrontierte, solch Zauber
wäre an ihr vergebens – sie könne mit älteren Sprüchen
aufwarten. Allein dieser Satz ist einen donnernden Szenenapplaus wert!
Es ist viel von Storms Regentrude an ihr, die Rolle von einer mit genialen
gestischen Reminiszenzen an das Theater agierenden Jutta Wachowiak ausgefüllt.
Die Göttin, die von Frau Wachowiak dargestellt wurde, dürfte
sich geschmeichelt fühlen.
Trotzdem bleiben Küchenmeisters eng an der Grimm'schen Vorlage. Wie
ihnen diese Gratwanderung gelingt – Chapeau, Chapeau!
In einer atheistischen DDR, die allerdings mit dem Christentum auch so
ihre Hühnchen zu rupfen hatte, werden die alten Naturreligionen rehabilitiert,
ohne das Gute des christlichen Glaubens zu kränken. Großartig,
ganz formidabel!
Die Kulisse ist glaubwürdig. Nicht überspannt, sehr realistisch.
Fein gezeichnet die Charaktere. Besticht Susanne Lüning durch ihren
Liebreiz und ihre grandiose Schönheit, durch ihr einnehmendes Spiel
– man kann gar nicht anders als die damals 20jährige geradezu
anzuhimmeln – so werden die Figuren der drei Landsknechte (Volkmar
Kleinert, Günter Junghans und Michael Gerber) so authentisch wiedergegeben,
dass man ins Geschehen hineingezogen wird, wie einer der drei Marodeure,
„Herzbruder“ genannt, ins Moor. Der ganze Aberglauben, aber
auch das nüchtern Pragmatische dieser jenseits aller Vorstellungen
brutalen Zeit, welche die Menschen auf ihren Kern zurückgeführt
hatte, wird deutlich sichtbar.
Es war ein kluger Zug, das Märchen mit dem Dreißigjährigen
Kriege zu verknüpfen, es in den Kontext dieser grausamen Ära
zu stellen, es gleichsam in den Rang einer Sage zu befördern. Damit
gelingt es den Drehbuchschreibern und dem Regisseur Hübner, das Erzählte
weit über den bloßen Unterhaltungswert zu erheben. Wie in einem
Panoptikum entführt uns der Film auf eine Reise zu unsren Wurzeln,
in eine dunkle Epoche, die von unseren Urgroßeltern überlebt
wurde, damit wir leben können. Er lehrt uns die Ehrfurcht vor diesen
unseren Ahnen und er erfüllt uns mit verpflichtendem Stolz auf diese
Menschen. Ein Stolz, der sein Licht auch auf Wolfgang Hübner wirft:
Lässt er doch 1986, als das Politbüro der vergreisten Männer
noch scheinbar fest im Sattel saß, die Waldgöttin durch den
Mund Jutta Wachowiaks kühn proklamieren, sie stamme aus einer Zeit,
als die Frauen und die Mütter noch das Sagen hatten und die darum
um so vieles weniger krank gewesen sei, als diese patriarchale, kriegerische
Gegenwart.
So gesehen hat keineswegs eine böse Hexe junge Mädchen entführt,
um sie zu ihrem Spaß in Vögel zu verwandeln. Im Gegenteil:
Eine mächtige Fee, eine Matriarchin aus dem alten Geschlecht der
Naturgottheiten rettete junge Frauen auf ihre „Arche“, auf
das Zauberschloss, um sie vor der Vernichtung zu bewahren. Um mit ihnen
eine neue Welt mit neuen Menschen und neuer Hoffnung gebären zu können.
So weise sie auch war – dass diese hehre Intention scheitern musste,
erkannte sie wohl, als es Joringel gelang, seine Jorinde unter Lebensgefahr
zu befreien; als die Friedensglocken läuteten und all ihre Mädchen
in die Welt hinaus schwärmten. Es ist die Frage, wieviel diese Geretteten
von den Lehren der Alten mitnahmen. Retrospektivisch gesehen, wird es
wohl so doll nicht gewesen sein. Seither ging der ganze Zirkus nämlich
nahtlos weiter.
Dennoch – wer sich und seinen Kindern eine lohnenswerte Freude machen
möchte, bei der es einem im Nachhinein nicht leid ist um die vertane
Zeit, der besorge sich die DVD. Sie ist seit Herbst letzten Jahre unter
anderem im Internethandel für geringes Geld erhältlich. Dafür
bekommt man wirklich Erstklassiges geboten. |