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Anatevka
eine Aufführung des Stendaler Altmarktheaters
am Brandenburger Theater
Scholcher M. Druckepennig
„Nu, Reb Scholcher, wos mocht
a Jid?“ Wenn mich der Kulturchef jiddisch begrüßt, dann
will er `was von mir. „Anatevka, nicht wahr, Kotofeij Kryisowitsch?“
Bajun nickt. „Kommen Sie, Kotofeij! Sie wissen, dass ich von Theaterkritiken
keinen blassen Dunst habe!“ „Schreiben Sie, Scholcher, um
Gottes Willen, schreiben Sie. Ich kann es nicht“, stöhnt der
stellvertretende Chefredakteur, „Als die Stendaler spielten, als
Tewje tanzte, da habe ich meine Gedanken nicht aus der Wannsee-Villa heraus,
nicht vom Gleis 17 weg bekommen! Meine Hände zittern. Scholcher!“
Ich tue ihm den Gefallen. Er leidet wie ein Hund. Ich weiß es. Er
sagte einmal, die verfluchten Seelen von Reinhard Heydrich, Amon Göth,
Julius Streicher, Josef Mengele, dem Brandenburger Oberbürgermeister
Sievers und dessen Höllenhund Polizeiobermeister Kriesche würden
beim Satan braten; Tewje aber würde auf der Brandenburger Bühne
tanzen – also könne er den Gottesbegriff nach Auschwitz anders
definieren als der Philosoph Hans Jonas. Die Dämonen hätten
verloren, der Samen Davids hätte gesiegt – am Ende doch! Bajun
kämpft mit den Tränen. Er hatte getrampelt und gepfiffen und
frenetisch geklatscht, als sich ein überragender Manfred Ohnoutka
als Tewje vor seinem Publikum verbeugte – einem Publikum, dass sich
hätte erheben und vor ihm verbeugen sollen. Herr Ohnoutka und seine
Mitstreiter holten das Stetel zurück, die Lebensfreude, das unerschütterliche
Gottvertrauen trotz brüllender Armut. Der Rang und das Parkett waren
voll, besetzt, ausverkauft – wegen ein wenig Schmonzes von Scholem
Alejchem? Die eigentlich triviale Geschichte vom armen Milchmann, dessen
gutes Herz nicht zuläßt, dass sich auch nur eine seiner Töchter
unglücklich verheiratet – diese Geschichte wurde zum Weltkulturerbe
– die Unesco mag das bejahen oder auch nicht. Trivialisiert hat
diesen Dauerbrenner und garantierten Publikumsmagneten eigentlich nur
Rebroff – Herr Ohnoutka war Tewje, Herr Ohnoutka hat ihn verstanden.
Ehe wir uns dem Ensemble zuwenden, das aus Stendal angereist war, wollen
wir ein weiteres dickes Kompliment an das Bühnenbild machen. Die
Idee hatte Esprit, sie war geistvoll, sie belebte das Stetl. Chapeau,
Christopher Melching!
Das Schauspiel selbst verriet seine bodenständige Herkunft nicht.
Und – um ehrlich zu sein – das oftmals nicht ganz Ausgegorene
– beim Billard würde man sagen, so mancher Mime spielte mit
etwas zu viel Effet – verlieh doch der Aufführung ihren ganz
speziellen Charme. Wenn Hodel ein wenig zu affektiert einherkam und Mottel
etwas zu leise, zu weit weg und vor allem ohne die obligaten Pejes spielte,
so hatte das etwas von dem Theater, mit dem in den Fünfzigern die
Kultur auf die LPGs gebracht wurde. Aber – und das ist der Knackpunkt
– wir gingen immer wieder tausendmal lieber in eine solche Aufführung,
als in eine hochgejubelte Produktion an den Champs-Élysées.
Weil sie Herz hat, weil sie mit Herz gespielt wird, weil sie koscher ist.
Nun ja, da waren diese kleinen Ungereimtheiten, die wohl der Unkenntnis
des Publikums geschuldet waren: Jente war das Schadchen des Stetels, denn
wir reden hier vom Ostjudentum und der Begriff „Heiratsvermittlerin“
ist wohl denn doch etwas zu kurz gegriffen. Im ukrainischen Ostgalizien
gab es auch keine Pfarrer – dort wachte der Pope über seine
byzantinisch-orthodoxe Gemeinde. Die ostgalizischen jürdischen Gemeinden
aber standen nicht mehr unter dem Schutze Kasimirs des Großen. Und
die Byzantiner waren ihren älteren Vettern des Buches gegenüber
weitaus unduldsamer.
Es war merkwürdig: Während sich Fedja und Hodel verabredeten,
erinnerte ich mich unwillkürlich an die Szene aus Rheinsberg, in
der Wölfchen und Claire im Kintopp der Provinz saßen. Die unfreiwillige
Komik bezog die Szene aus der etwas steifen Überzeichnung und man
mochte die beiden an die Brust drücken und sagen: „Kindes,
det habt ihr fein gemacht!“
Nein, alles was recht ist, die Altmärker haben unsere Herzen bewegt.
Die Hochzeit unter dem Baldachin ließ kein Auge trocken –
das Publikum wippte mit, der Rhythmus ging ins Blut..., wer von denen,
die das sahen, könnte jetzt noch dulden, dass Kriesche diese Menschen
nach dem Neustadt-Bahnhof treibt, um sie nach dem Osten zu „verschicken“?
Anatevka hat viel geleistet, viel getan, damit die Menschen verstehen,
wen sie in den Pogromen der Zarenzeit und während der Shoah verloren
haben. Die Stendaler haben diese Botschaft zu Herzen gehend multipliziert
– allen voran unser großartiger Herr Ohnoutka, allen voran
diese herrliche Kapelle mit der Gitarre, dem Kontrabaß, der Fidel
und – natürlich der Klarinette.
So lebte er noch einmal vor uns auf, einmal und immer wieder, dieser Mikrokosmos
des Stetels, den schon das Meisterwerk aus den Warschauer Feniks-Studios
„Der Dibbuk“ besungen hat. Ja, auch mir standen die Tränen
in den Augen. Tanz, Reb Tewje, sing, sprich mit deinem Gott, er hat dich
nicht verlassen, denn so, wie du bist, so sollte jeder Mann auf Erden
sein, seit dein Gott den Adam geschafften hat! Reb Tewje, wir wissen nicht,
ob Mottel und Zeitel die Shoah überlebt haben, was aus ihrem Kind,
deinem Enkel, und ihrer Nähmaschine geworden ist. Aber du hast heute
für uns gesungen und uns viel mitgegeben.
Deshalb Masel Tov, Reb Tewje und – blaib gesint! |