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An
ihrer Seite – eine Reise in den Abgrund
Das grandiose Debüt der Sarah Polley
Kotofeij
K. Bajun
Kein Berg ist einem zu hoch, wenn man jung ist. Sarah Polley aus Kanada
war 28 Jahre alt, als sie mit „An ihrer Seite“ im Filmgeschäft
debütierte. Debütierte! Die Herausforderung war weiß Gott
nicht von schlechten Eltern: Ein Ehepaar liebt sich über 45 Jahre
hinweg. Sie, Fiona, isländischer Abstammung liebt ihren Grant, der
nordische Mythologie lehrt, seit sie 18 Jahre alt und ein bezauberndes
junges Mädchen war. Es ist eine tiefe Vertrautheit in ihnen, bis...
ja bis Fiona von der heimtückischen Alzheimer-Krankheit betroffen
wird. Diese Krankheit fürchtet der intellektuelle Mensch wie der
Prolet den Tod. Es ist das Sterben des Geistes.
„Erinnerungen sind das Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden
können“, sagte einst Antoine de Saint-Exupéry. Damals
war das Wissen um den Fluch der Alzheimerschen Krankheit erst seit 40
Jahren bekannt und wohl noch nicht bis zu Saint-Exupéry durchgedrungen.
O doch! Diese Krankheit nimmt uns alles. Sie frißt unsere Seele.
Fiona ist eine Dame, eine kluge Frau. Sie weiß, dass sie nunmehr
in das Reich der lebenden Schatten abtauchen wird und es keine Rettung
für sie gibt. Um größtmögliche Rationalität
bemüht, beschließt das Ehepaar, für Fiona einen Platz
in einem Heim für Demenzkranke zu finden. Bei klarem Verstande noch
bezieht die tapfere Frau ihr neues Zuhause, schläft noch ein letztes
Mal mit dem Geliebten und heißt ihn sodann zu gehen. „I love
you, go now, I love you – Fiona“ steht auf dem Zettel, den
sie ihrem Manne als Abschiedsgruß zukommen lässt. Es ist nämlich
eine Regel, dass die Neuankömmlinge dieses Heimes 30 Tage lang keinen
Besuch und keinen Brief und keinen Anruf ihrer Angehörigen empfangen
dürfen um ihnen die Eingewöhnungsphase zu erleichtern.
Grant schickt sich schweren Herzens in das Unvermeidliche. Das Unfaßbare
aber ereilt ihn einen Monat später, als er seine Frau das erste Mal
besuchen darf: Sie erkennt ihn nicht mehr, verlor alle Erinnerungen an
die gemeinsame Zeit. Statt dessen hat sie sich mit dem Heimbewohner Aubrey
angefreundet – in ihm so etwas wie eine neue Liebe gefunden. Der
Verlust der Synapsen bedeutet für Fiona auch den Verlust ihrer Vergangenheit.
Der Zuschauer sieht durch die Augen des schuldlos leidenden Grant, der
seine Fiona trotz alledem Tag für Tag besucht und sie auf der anderen
Seite einer unendlich tiefen Schlucht entschwinden sieht, über die
es keine Brücken mehr gibt. Ein quälend langsames Sterben des
Mannes, dessen Lebensinhalt diese Frau gewesen war, hebt an. „Ist
es eine Bestrafung...?“ Diese Frage stellt er sich. Klug reflektiert
wird sie von Kristy, einer jungen Betreuerin mit sublimer Beobachtungsgabe,
die trotz ihrer Jugend philosophischen Tiefgang entwickelt: „Es
sind meistens die Männer, die behaupten, in der Ehe sei alles glatt
gelaufen. Sehen die Frauen das genauso...?“ Diese Gegenfrage macht
zunächst sprachlos, dann nachdenklich.
Doch erschöpfte sich die Aussage des Streifens in solchen Erkenntnissen,
so bliebe er auf etwas Episodenhaftes beschränkt, dem man einige
Quintessenzen entnimmt und den Rest vergißt. Nein, es ist dieses
andere, dieses feinfühlig, mit zarter Frauenhand erzählte, dieses
stille Porträt einer großen Liebe, die sich sogar über
das Sterben des Geistes hinwegsetzt. Kristy erwähnt es – dramaturgischer
Kunstgriff – dieses Wetterleuchten der Hinabdämmernden, das
ihnen mitunter in einem kurzen Augenblick die Erinnerung wiederschenkt,
bevor sie abermals versinken im Strudel des Vergessens. Im Augenblick
der höchsten Aufopferung, als Grant seinen „Nebenbuhler“
Aubrey zu seiner Fiona zurückbringt, die seit Aubreys Auszug aus
dem Heim exponentiell abgebaut hatte, kann sie sich Aubreys nicht mehr
entsinnen – wohl aber ihres Gatten und all seiner Bemühungen
um sie, die er seit ihrem Einzug in das Heim ins Werk gesetzt hatte um
ihr das Gefühl von Liebe, Nähe und Geborgenheit zu geben. Eine
wahrscheinlich letzte innige Umarmung der beiden beendet den Film, der
mit Recht zu den besten seines Jahrgangs gezählt wurde.
Der versöhnliche Ausgang ist den Herzen der Zuschauer geschuldet,
denen man soviel Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit, wie sie die gnadenlose
Realität in solchen Fällen bereithält, nicht zumuten will.
Dennoch – dennoch... Kein bißchen Sentimentalität, kein
bißchen Effekthascherei tritt uns entgegen. Wir werden konfrontiert
mit dem, was das Leben uns möglicherweise bereithält und was
uns schon vorherbestimmt sein mag in den Tagen, da wir an Tod und Krankheit
noch lange nicht denken mögen. Es gibt Filme, die mit Recht Anspruch
darauf erheben, Kunstwerke zu sein. Sie erweitern unseren Horizont, bereichern
unseren Erfahrungsschatz, bringen uns vorwärts.
“An ihrer Seite“ gehört zwingend in diese Kategorie.
Er ist ein Hohelied auf das Bewahren der menschlichen Würde im Angesicht
des unerbittlichen Verlustes. „An ihrer Seite“ zeigt auf unprätentiöse
Weise menschliche Größe ohne die geringste Spur verkitschten
Heroentums. Ein Lehrer nordischer Mythologie beweist christliche Demut
und Liebe am Eingang zum Tartaros – ein moderner Orpheus schlägt
leise die Saiten der Lyra für seine Eurydike und noch einmal, noch
einmal lächelt sei ihm zu, sanft und langsam verblassend für
immer.
Welch ein hartes, welch ein grausames, welch ein Höchstmaß
an Sensibilität erforderndes Thema!
Eine 28jährige schieb ein Drehbuch und führte Regie. Der Jugend
scheint kein Berg zu hoch zu sein und manchmal, manchmal, wenn die Götter
es gut mit ihr meinen, dann erreicht sie schwindelerregende Gipfel. |