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Nackt
durchs arktische Eis
Ein Inuit-Film erkämpft die erste Liga
Kotofeij K. Bajun
Ein Inuit-Film erkämpft die
erste Liga, schreiben wir in der Unterzeile unserer Überschrift.
Und wir müssen schweren Herzens ergänzen: ...und wird sowohl
von Amerika als auch Europa grandios ignoriert. ARTE strahlt ihn aus,
zu einer Zeit, wenn 80 Prozent des alten Kontinents schnarchen und der
Rest Nachtschicht schiebt. Wir stecken uns Streichhölzer zwischen
die Augen und wir schauen, was uns der deutsch-französische Kulturkanal
da von 1:30 Uhr bis kurz vor halb fünf Uhr morgens offeriert. Es
lohnt sich. Und wie es sich lohnte! Wir wollen die Handlung nicht auswalzen,
nicht hier, man kann sie in der Wikipedia nachlesen.
Das wahrscheinlich Fesselndste an diesem Streifen ist wohl dem Grund nachzuspüren,
warum er so fesselt. „„Atanarjuat – Die Legende vom
schnellen Läufer“ ist das Filmdebüt des Inuit-Regisseurs
Zacharias Kunuk. Es ist der erste kanadische Spielfilm, der von Inuit
geschrieben, produziert, inszeniert und gespielt wurde“, weiß
das Online-Lexikon Wikipedia zu berichten. Und dass das Drehbuch vom seligen
Paul Apak Angilirq geschrieben wurde, der den Film auch produzierte, sein
Erscheinen im Jahre 2001 aber nicht mehr miterleben konnte. Erzählt
wird eine alte Inuit-Legende, die in den Zeitraum von vor eintausend Jahren
angesiedelt ist. Man kann sie auch in die Epoche vor dreizehntausend Jahren
verlegen oder in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts – es
ist egal. Auch die Zeit, ihre Wochentage, Stunden, Minuten verlieren ihre
Bedeutung. Das Leben der Eskimos in den unendlichen Weiten der Arktis
spielt sich gleichförmig ab, richtet sich nach den Jahreszeiten,
der Dicke des Eises, den Wanderungsbewegungen der Karibus, den Sammelplätzen
der Robben. Es ist ein bretterhartes Leben in der klirrenden Kälte
des nördlichen Polarkreises – ein Leben, das den indiogenen
Völkern, die diesen Extremlebensraum wählten, keine nennenswerten
Toleranzen gewährt. Stets hängt es an einem seidenen Faden.
Kommt der Jäger zurück und wenn ja, hat er Beute gemacht? Bringt
er eine Robbe mit, ein Walross oder ein Karibu, dann ist die Freude riesig.
Denn – stirbt er auf den gefährlichen Jagdausflügen, verletzt
er sich oder verfehlt die Beute, bedeutet das möglicherweise das
unbarmherzige Aus, den Tod der ganzen Sippe. Selbst ein an einem Stein
zerbrochenes Messer stellt eine Katastrophe dar. Man möchte meinen,
das allein führte bereits zur Herausbildung besonderer sozialer Strukturen,
einer engen solidarischen Verbundenheit zwischen den notgedrungenermaßen
eng miteinander verwandten Clanmitgliedern. Normalerweise schon. Doch
gibt es, wie in jeder menschlichen Gemeinschaft, solche und solche. Immer
gibt es welche, die wollen das Sagen haben, die reklamieren die besten
Happen für sich, die wollen sich als erste etwas zwischen die Zähne
schieben, die dünken sich mehr zu sein und besser. Und weil das so
ist, haben sie ein Recht auf die schönsten Frauen. Und dann geht’s
los. Es ist das uralte, globale Thema, das sich durch die gesamte Fauna
und über den ganzen Erdball erstreckt. Davon zehrt auch dieser Film,
der eine Inuit-Saga, im oben aufgeführten Sinne zwar trivialen Inhalts,
dennoch mit epischer Größe und ungeheurer erzählerischer
Wucht berichtet. Diese Saga braucht sich vor der Ilias nicht zu verstecken
und nicht vor den altisländischen Überlieferungen. Und doch
– der Film ist ein Streifen der leisen Töne, fremdartiger Töne,
gesprochene Inuktituts, einer Sprache, die dem indogermanischen in ihrem
Aufbau, ihrer Syntax so unterschieden ist, dass sich schier keine andere
Brücke zu ihr finden lässt, als die des Herzens. Die Menschen,
in so überschaubaren Bahnen ihr Leben auch eingebunden ist, verfügen
doch über die gesamte Klaviatur menschlicher Emotionen. Sie lieben,
sie sind eifersüchtig, eitel, großherzig... sie können
hassen und sie können – vergeben! Das alles trägt sich
offener zur Schau, nicht so sublim verlogen wie in unseren Zivilisationen,
in dem ein unbedachter Zungenschlag zur Unzeit einen Weltenbrand auszulösen
in der Lage ist. Vielleicht liegt darin auch eines der Momente, die unsere
Faszination für diese Welt und ihre filmische Darstellung ausmachen.
Mag aber auch sein, dass es gerade eben dieses „Vergeben“
ist, was uns in Ehrfurcht erstarren lässt. Die Menschen um den schnellen
Läufer Atanarjuat wissen nichts von Christus oder Buddha –
aber sie leben sie. Aus dem Herzen heraus und sicherlich auch aus der
Notwendigkeit – denn, mag ein junger starker Mann namens Oki noch
so ein Charakterschwächling sein, seine Hand wird so dringend gebraucht.
Ohne sie sinkt die Chance auf das Überleben des Clans ins Bodenlose.
Für des Lumpen Schwester Puja, die nicht minder verkommen ist, gilt
das gleiche. Die Sippe muss einen Weg finden, sich mit den sozialen Inkompetenzen
zu arrangieren, ohne dass das Blut in Hekatomben fließt, wie vor
den Mauern Trojas.
Oki, der Gegenspieler des Helden, bekommt vom Drehbuch eine üble
Rolle zugewiesen: als Doppelmörder in der kriminellen Tradition seines
von einem bösen Schamanen aufgestachelten Vaters erdolcht er am Ende
selbst diesen, um an die Macht und die Frau seines Begehrens zu gelangen.
Beide wurden ihm vom Vater aus einem Kalkül des reiferen Alters heraus
bis zu diesem Augenblick vorenthalten. Doch selbst wenn er diese Frau,
welche die Frau des Helden ist, vergewaltigt – der Protagonist Atanarjuat,
der die Möglichkeit hat, den feigen Meuchelmörder seines geliebten
Bruders und Vergewaltigers seiner Frau zur Verantwortung zu ziehen, verzichtet
auf die Blutrache und überlässt die Entscheidung der Matriarchin
des kleinen Gemeinwesens, die gleichzeitig die Großmutter des schwerkriminellen
Geschwisterpaares Oki und Puja ist. An dieser Stelle wetterleuchtet ein
weiteres faszinierend-cineastisches Konstrukt aus dem Zelluloid, das doch
die Lebenswirklichkeit der Inuit reell abzubilden scheint: Die alte Frau
erkennt sehr wohl das Verdorbene in ihren Nachkommen. Sie erkennt es –
und sie handelt. Sie handelt in völliger Übereinstimmung mit
ihrer Erkenntnis. Unvorstellbar für uns Wohlstandseuropäer –
die wir dynastisch denken und stets gewillt sind, die Parole, Blut sei
dicker als Wasser, vor uns her zu tragen wie ein sakrosanktes Feldzeichen.
Man möchte meinen, das sei auf die harten Bedingungen der Arktis
zurückzuführen, die für solche Bevorzugung der eigenen
Gene keinen Spielraum lässt, sondern im Gegenteil die Überlebensgemeinschaft
nachgerade zwingt, denjenigen zu unterstützen, der nicht nur die
besten Jagdergebnisse vorzeigt, sondern auch imstande ist, den sozialen
Frieden zu garantieren. In diesem Sinne verbannt die Alte am Ende des
Films neben ihrer Enkelin und dem Enkel gleich noch dessen beide Anhänger
mit – ein wahrlich aberwitziger, ein möglicherweise tödlicher
Verlust für die nur wenige Mitglieder umfassende Sippe, die jetzt
nur noch aus ein, zwei Jägern, dafür aber umsomehr Frauen, Alten
und Kindern besteht. Die Alte weiß, die Verbannten sind junge, kräftige
Leute. Die gehen so schnell nicht unter. Zumal sie jetzt nur noch für
sich selbst zu jagen haben. Die Versorgungssituation wird quasi bis ins
Paradoxe verkehrt. Dennoch entscheidet sie so und nicht anders. Warum?
Weil eine instabile soziale Situation offenbar dem Überleben der
Gruppe noch abträglicher ist, als der allgegenwärtige Hunger.
Und genau das scheint die Kernaussage des Films, der Saga zu sein. Ganz
sicher sind die Inuit keine besseren Menschen als alle anderen. Wir sagten
es schon: Nackter Affe bleibt Nackter Affe, ob in den Sand- oder Schnee-
oder urbanen und emotionalen Wüsten der Welt. Dennoch können
wir alles von diesen Menschen lernen, was wir „Hochzivilisierten“
zum Überleben auch nur dieses gegenwärtigen Jahrhunderts zwingend
brauchen, nachdem uns das letzte schon um Haaresbreite an den Rand unserer
Ausrottung geführt hat. Das ist die Botschaft – geformt von
einer vitalen Bedrohung, die an einer kleinen Menschengemeinschaft im
Hohen Norden zugegebenermaßen weitaus deutlicher ablesbarer ist
als bei uns, die wir in dem Wahn leben, alles ginge ewig so weiter. Auch
wenn unser Verstand mittlerweile zu anderen Schlussfolgerungen gelangt
ist. Sozialer Friede sichert zwar noch nicht den nächsten Tag, aber
ohne ihn ist dieser bereits verloren.
Natürlich wollen wir uns jetzt nicht in einer romantischen Gefühlsduselei
verlieren, die uns seit dem Zeitalter der Aufklärung mit dem Märchen
vom edlen Wilden peinigt und frühpubertierenden Mädchen sowohl
als auch nie erwachsen werdenden Jünglingen das freie und weise Indianerdasein
als der Güter höchstes erscheinen lässt. Wir verkennen
nicht, dass eine kleine Gemeinschaft ganz andere sozial-dynamische Prozesse
zulässt als große, von Anonymisierung und dem Total-Verlust
des individuellen Wertes so unendlich vieler Vertreter der „grauen
Masse“ gekennzeichnete Gesellschaften. Dennoch – das Fazit,
das uns dieser großartige Film lehrt, bleibt unveränderlich:
Entweder wir machen uns noch eifriger auf die Suche nach einem funktionstüchtigen
Sozialmodell der Zukunft als wir nach alternativen Energieträgern
fahnden – oder wir akzeptieren den freien Fall, der das Ende der
Menschheit bedeutet.
Atanarjuat ist von Kanada im Jahre 2002 für den Oscar in der Kategorie
„bester fremdsprachiger Film“ vorgeschlagen worden, schaffte
es aber nicht einmal bis in die Nominierungsrunde. Das sagt nichts, aber
auch gar nichts über die überragende Qualität des Werkes
aus. Ganz im Gegenteil – es lehrt uns viel über das geistige
Niveau des Oscar-verteilenden Amerikas: Es verhielt sich ja schon sehr,
sehr oft direkt umgekehrt proportional zur Güte des vorgelegten Materials.
Das muss uns nicht beirren... Doch muss es! Denn diejenigen, die mit der
Ablehnung von Atanarjuat ihre bodenlose Ignoranz, ihre ebenso unergründlich
gewaltige Dummheit und ihre Borniertheit zum Ausdruck bringen, sind genau
die, welche dem tonangebenden Teil der Menschheit die Richtung vorgeben.
Unser Schicksal liegt leider in deren Hand und nicht in der von uneigennütziger
Weisheit getragenen Entschlusskraft einer alten Inuit-Frau. Möge
Atanarjuat vielen klugen Leuten an der Basis bekannt werden und vielleicht
auch dem ein oder anderen von Vernunft begabten Tycoon. (Das eine schließt
das andere beinahe gesetzmäßig aus – wir wissen das.)
Darin liegt der ganz große Wert dieses Films, sein eigentliches
Faszinosum, dem wir uns im wahrsten Sinne des Wortes ums Verrecken nicht
entziehen können. Sollte dem Auftrag dieser 167 Minuten ganz großer
Kinokunst, nämlich zu lehren, in breitem Umfange eine Chance beschieden
sein, dann hat er einen weitaus wertvolleren Preis als einen Oscar verdient.
Dann meritierte er wohl den Friedensnobelpreis oder – vorausgesetzt,
Oslo ränge sich dazu durch – den ersten Filmnobelpreis der
Weltgeschichte. Und hoffentlich nicht den letzten...!
Wer den Streifen bei Tageslicht genießen möchte, findet ihn
im Internet hier.
Nachsatz: Gerechterweise
müssen wir anführen, dass die Inuitlegende einen anderen Ausgang
überliefert. In ihr wird berichtet, dass Atanarjuat das Leben Okis
und seiner Bande keineswegs verschont, nachdem er ihnen seinerseits einen
Hinterhalt gelegt hatte. Wenn das so war, dann bietet der Film den idealen,
nicht den realen Ausweg aus der Konfliktspirale an. |