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Numerus Clausus

Was die moderne Medizin wirklich braucht

Jules-Francois S. Lemarcou
Ulan Bator. Vor über 80 Jahren ließ der Chirurg Professor Dr. Payr an seiner Leipziger Universitätsklinik ein Memorandum an die jungen Kollegen seines Hauses verteilen, in welchem er darlegte, wie er sich den Arzt vorstellte, mit dem er zusammenzuarbeiten gewillt war.

Der Preußische Landbote druckte dieses Rundschreiben ab. Dort ist nun wenig zu lesen über die fachlichen Qualifikationen derjenigen, die sich um eine Stelle an Herrn Payrs Chirurgie bewarben. Der berühmte Mediziner setzte diese wohl voraus. Weitaus wichtiger erschien ihm offensichtlich die charakterliche Eignung des Aspiranten.

Nun ist es ja selten so, dass man auf etwas Gegebenes explizit hinweisen muss. Häufiger werden Defizite thematisiert, so dass der Leser zu dem Schluss versucht ist, schon Herr Payr hätte sich über Vertreter der ärztlichen Zunft geärgert, deren Ethos hinter dem Anspruch des Hippokratischen Eides zurückbleibt.

Der von Herrn Payr in so deutlichen Worten angesprochene Gegenstand hat in den acht Jahrzehnten seither spürbar an Aktualität gewonnen.

Zwar führten viele Universitäten einen Numerus Clausus (NC) mit der Absicht ein, den Zugang zum Medizinstudium nur solchen Leuten vorzubehalten, die das nötige geistige Rüstzeug mitbrächten, weil den Müttern und Vätern dieser Idee zu dämmern schien, dass die künftigen Vertreter der Weißen Zunft mit dem kostbarsten Gut des Menschen umgehen – seiner Gesundheit. Hier steckt das Potential, menschliches Leid in biblischen Dimensionen zu produzieren.

Der Trugschluss aber besteht in der irrigen Annahme, ein besonders gutes Abitur allein schüfe die Voraussetzungen zu einem späteren brauchbaren Arzt. Es kann aus diesem Medizinstudenten auch ein besonders gewissenloser Kaufmann werden.

„Also passen Sie mal auf, da schieben wir Ihnen nächste Woche einen Herzkatheter und schauen nach, was da los ist … Wie, was? Na ja, die aktuellen Richtlinien empfehlen diese Untersuchung ...“ Wirklich? Im Ernst? Oder wurde sie dir von deinem ökonomischen Direktor empfohlen, Herr Oberarzt, weil noch nicht genug Casi in diesem Quartal zur Abrechnung vorliegen? Das ist eine bösartige Unterstellung, rufen Sie? Ach du lieber Gott, die Realität ist oft noch weitaus böser!

Da setzt ein Niedergelassener seine Patienten unter Druck: „Wenn Sie die Weiterbehandlung in der von mir empfohlenen Physiotherapie absolvieren, dann können wir noch dieses und jenes tun … Wie meinen? Sie gehen seit Jahren zu einer anderen Physiotherapeutin? Ja, das ist jetzt aber blöd. Dann können wir nur …“ Dieser Arzt verschweigt, dass die von ihm empfohlene Physiotherapie ihm gehört. Ihm allein. Das ist kein Arzt, mag er auch noch so brillieren – das ist ein Schweinehund.

Und eine solche Canaille ist durch den NC eben nicht vom Studium ausgeschlossen worden. Im Gegenteil. So war der schon im Kindergarten: auf sich bedacht, rücksichtslos und ein Gauner, wenn es um den eigenen Vorteil ging.

Die neue Medizinische Hochschule des Landes Brandenburg „Theodor Fontane“ mit ihren Standorten Neuruppin und Brandenburg an der Havel versucht einen anderen Weg zu beschreiten, indem sie auf den NC verzichtet. Hmmm. Böse Zungen reden der Hochschule nach, sie wäre ein Auffangbecken für die Leistungsversager, denen reiche Eltern jedoch ein Studium bezahlen können und stelle somit einen gefährlichen Bypass zum Filtermechanismus des NC dar. Der Skeptizismus bekommt angesichts des amerikanischen Ausbildungssystems dieser neugegründeten Hochschule erheblichen Rückenwind. Fand doch diese Art der medizinischen Edukation bereits 1973 in dem genialen Samuel Shem ihren besissendsten Kritiker. Unvergessen und inoffizielle Pflichtlektüre aller angehenden Ärzte ist immer noch Schems „House of God“.

Doch unbeschadet dieser Vorwürfe, deren Fundierung noch nicht hinreichend belegt ist, bedeutet der Verzicht auf den NC generell einen Schritt in die richtige Richtung?

Ein anderer Numerus Clausus müsste geschaffen werden. In dem Sinne, wie Goleman einst dem Intelligenzquotienten IQ einen Emotionalen Quotienten EQ gegenüberstellte und dessen enorme Bedeutung in der Gestaltung sozialer Interaktionen nachwies, sollte ein Verfahren entwickelt werden, das die charakterliche Eignung des zukünftigen Arztes ausweist.

Das aber wird mit Sicherheit eine aberwitzigere Utopie bleiben als Campanellas „Sonnenstaat“. Denn solche Ärzte sind ganz, ganz schlecht für's Geschäft. Die „Gesundheitswirtschaft“ ist immerhin ein Hauptpfeiler des modernen Turbokapitalismus. „Laut Richtlinie ...“ Wer hat diese Richtlinie denn in wessen Auftrage erarbeitet? Wer hat diese Arbeit bezahlt? Qui bono?

Das sind die Fragen, die gestellt werden müssen. Der angehende Arzt, dem nach der erfolgreichen Absolvierung seines letzten Staatsexamens kein Hippokratischer Eid mit justiziablem Charakter mehr abgefordert wird, sollte nach christlich-abendländischem Verständnis dem kranken Menschen dienen und nicht der ihn ernährenden Pharmalobby! Doch wie sagte schon ein unbekannter König: „Und? Haben Wir gelacht?“

Doch dem Patienten bleibt noch eine Waffe. Die stärkste schlechthin. Und das ist die unbedingte Verfügungsgewalt über den eigenen Körper. Das „Habeas Corpus“ der Medizin. Das unverletzliche Menschenrecht. Das Recht „Nein“ zu sagen.

Schwer, sicher, wenn man nicht in der Materie steckt. Wenn man Lehrer ist oder Ingenieur, Straßenbahnfahrer oder Förster. Dafür hat man die Mediziner ja einst studieren lassen, damit man ihnen vertrauen kann, wenn's drauf ankommt. Weil's in der hochdifferenzierten modernen Gesellschaft immer eines Spezialisten für irgendetwas braucht.

Aber dieses Vertrauen bedarf mit derselben Sicherheit einer ständigen Rechtfertigung und Kontrolle. Hier wird über eine Machtfrage entschieden, die da lautet: Meine Gesundheit oder dein Profit?

Kardiologen, die einen Senioren mit einer Bluthochdrucksymptomatik und einer ausgeprägten Cardiopathie aufs Belastungsergometer schicken, sind nicht nur irrsinnig, sondern darüber hinaus brandgefährlich. Solche, die leichtfertig nach der Applikation eines femoralen Herzkatheters bläken, anstatt ihren Patienten zunächst einmal in der Aussage gleichwertige noninvasive Methoden zu unterbreiten, weil ihnen möglicherweise das ökonomische Direktorat ihrer Klinik im Nacken sitzt, sind schon als kriminell zu bezeichnen.

Der eiserne Grundsatz des Ärztlichen Handelns, das NIHIL NOCERE (niemals schaden), scheint zu einer Gummithese degeneriert zu sein, die das Papier nicht wert ist, auf dem sie fixiert wurde. Der Laie traut sich nicht zu widersprechen: 'Was, wenn wir den Herrn oder die Frau Doktor verägern? Dann bleiben wir am Ende krank oder müssen gar sterben ...' Ist es schon soweit gekommen, oder anders gefragt, ist eine maßgebliche Anzahl von Medizinern schon soweit verkommen, dass sich solche fatalistischen Gedanken überhaupt erst etablieren können?

An dieser Stelle ist der Patient gefordert, die gesellschaftliche Unfähigkeit zur Etablierung eines charakterlichen NC durch Eigeninitiative zu kompensieren. Mit einem „Halt! Ich hole mir jetzt erst einmal eine unabhängige Zweitmeinung ein!“, ist schon viel getan. Lasst sie getrost krötig werden, bockig wie die kleinen Kinder … an der Reaktion der Ärzte, die mit einem solchen Patientenimperativ konfrontiert werden, lässt sich schon sehr viel über just den zur Debatte stehenden Charakter ablesen! Das ist ein ganz exquisiter Scharfrichter.

Und dieser Scharfrichter steht nur dir zu Diensten, du so oft entmündigter und für dumm verkaufter Patient! Nutze ihn – und denke daran: Bei diesem Machtspielchen bist du möglicherweise derjenige, der mit dem höheren Risiko spielt. Denn es ist dein Leben und deine Gesundheit – beides in vielen Fällen unwiederbringlich. Doch gerade darum ist beides wert, es nicht gewissenlosen Schurken mit einem Einser-Abitur auf Gedeih und Verderb auszuliefern.

25. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
29.07.2016