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Hat der Dialektische Materialismus noch eine Zukunft?
David M. Katz im Gespräch mit den Chefredakteuren des Preußischen Landboten

Herrn Michael H. aus Magdeburg zugeeignet

David M. Katz
Der Kapitalismus hat die Welt in der Vergangenheit oft an den Rand des Abgrunds geführt. Kriege um Rohstoffquellen und Absatzmärkte, oft gnadenlose Ausbeutung der Menschen, die im kapitalistischen System ihre Arbeitskraft zu verkaufen gezwungen sind, spalteten die Welt.

Der Kommunismus trat mit dem Anspruch an, diese auf den Abgrund zusteuernde Welt zu verbessern, wenn nicht sogar zu retten. Die Utopie des Kommunismus aber scheiterte grandios an der charakterlichen Ausstattung des Nackten Affen, der, egal in welchem System, zur Elitenbildung neigt. Damit einher folgte die Etablierung eines kommunistisch-ideologischen Religionssubstituts, einer Pseudoreligion, die, einschließlich eines Dogmenkanons und eines Heiligen- bzw. Personenkults, viele Merkmale der abgelösten Religionen übernahmen.

Nun bedienten sich Ausbeutergesellschaften allzu oft des von den Kommunisten attackierten religiösen Unterbaus, um die Menschen sowohl in eine homogene und daher leichter zu steuernde Masse zu verwandeln, als auch mit dem fokussierten Blick auf eine diffuse Jenseitigkeit die Aufmerksamkeit von der diesseitigen, realen Welt abzulenken. Dem setzten die Kommunisten das philosophische Konstrukt des Dialektischen Materialismus entgegen, der seine pseudoreligiösen Ausformungen erst im Zuge der Machtgewinnung der Kommunisten annahm.

Auf seine Essenz reduziert, gebührt dem Dialektischen Materialismus allerdings das Verdienst, den ungedeckten Scheck auf eine fiktive und nicht zu beweisende jenseitige Welt zerrissen zu haben. Millionen DDR-Bürger wurden einst mit der Theorie des Dialektischen Materialismus sozialisiert.

In einem Interview mit dem Chefredakteur B. St. Fjøllfross und dem Chef der Kulturredaktion Kotofeij K. Bajun des Preußischen Landboten näherte sich David M. Katz der Frage, inwieweit der Dialektische Materialismus noch immer die Sichtweise des „gelernten DDR-Bürgers“ bestimmt, der sich seit mittlerweile über einem Vierteljahrhundert im spätkapitalistischen System der Bundesrepublik Deutschland bewegt.

Katz: Herr Fjøllfross, spielt der Dialektische Materialismus in Ihrem heutigen Leben noch irgendeine Rolle?

Fjø: Eine sehr gewichtige sogar. Ich schulde die dialektisch-materialistische Denkweise nicht allein den Kommunisten, die mich zu einem erheblichen Teil erzogen und ausgebildet haben. Die dialektische Betrachtung eines Problems ist ein wesentlicher Bestandteil der viel älteren jüdischen Analytik, die bereits durch hervorragende Denker wie beispielsweise Maimonides oder Moses Mendelssohn sublimiert wurde. Die Dialektik ist den Kommunisten nicht aus dem Himmel in den Schoß gefallen. Doch soll es hier nicht um Urheberrechte gehen. Der Zauber des dialektischen Denkens wurde von Antoine de Saint-Exupéry auf den Punkt gebracht, als er sagte, um klar zu sehen, genüge oftmals ein Wechsel der Blickrichtung. Für jemanden, der sich bewusst ist, dass es keine absolute Wahrheit gibt, der aber aus dieser Erkenntnis heraus stets und ständig bemüht ist, sich der Wahrheit, so gut es eben geht, zu nähern, ist die Dialektik ein unverzichtbares Werkzeug. Nur die Dialektik schützt sicher vor Dogmatismus, Indoktrination und infantilem Glauben. Sie geht dem, der sie von Kindesbeinen an zu nutzen gewohnt ist, in Fleisch und Blut über.

Katz: Herr Bajun, Herr Fjöllfross sprach soeben sehr despektierlich von „infantilem Glauben“. Nun ist bekannt, dass sie ein Byzantiner sind, also der russischen Orthodoxie sehr nahe stehen. Bedeutet das nicht zwangsläufig, dass Ihnen der Dialektische Materialismus ein rotes Tuch sein muss?

Bajun: Gott bewahre! Sehen Sie, wir sind davon überzeugt, dass alles, was auf der Welt existiert, von Gott ist. Nun mögen Sie einwenden, der Dialektische Materialismus sei in diesem Denkschema möglicherweise des Teufels. Verneint er doch explizit die Existenz Gottes und ist daher das Hohelied aller Atheisten. Nun ist die Ostkirche jedoch mehr damit befasst, sich Gott zuzuwenden. Da bleibt wenig Zeit, sich mit dem Teufel zu befassen. Wenn wir das aber tun, dann vermuten wir ihn eher in ganz real existierenden Mitmenschen, statt in einem theologischen Prinzip. Für mich – und ich rede hier nicht für den Patriarchen von Moskau und ganz Russland – ist bei der Bewertung des Dialektischen Materialismus der Grundsatz von Bedeutung, dass der kluge Mensch in der Regel die Botschaft vom Boten trennt. Nimmt man die Existenz Gottes an, so erwächst meinem Verständnis nach jedem Gläubigen daraus die Verantwortung, dieses Verhältnis zu seinem Gott persönlich und privat zu halten. Ich beziehe diese Forderung aus dem Worte des Rebben Jeshua, der, laut Matthäus 22.21 von den Pharisäern auf die Probe gestellt, sagte: Gebt Gott, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Der Kaiser ist in diesem Falle die reale, uns umgebende Welt, deren Entschlüsselung wir uns mit klarem Verstand und nicht mit Glaubensgrundsätzen zu nähern haben. Theosophische Dogmen zielen immer auf eine Perpetuierung von Stagnation und Einengung der Freiheit des Geistes ab. Sie verzichten auf eine beweiskräftige Untermauerung ihrer Thesen und ersetzen diese rotzfrech durch den Imperativ „glaube!“ Das ist inakzeptabel.

Katz: Befürchten Sie denn aber nicht durch eine zunehmende Rationalisierung der Welt deren Entzauberung, quasi deren Überführung von einer bunten in eine monochrome Wirklichkeit?

Fjø: Mitnichten. Wir unterscheiden hier nur zwischen den Farben einer Theaterkulisse und denen, die uns die Natur bietet. Letztere verlieren nichts an ihrer Intensität, nur weil man die Wellenlängen des Spektrums analysiert. Nein, es geht auch in erster Linie nicht darum. Begreift man die Theologie und die ihr inhärente idealistische Weltanschauung als natürliche Opponentin des Dialektischen Materialismus, dann kommt letzterem zweifelsohne das Verdienst zu, in Fortsetzung der Arbeiten der Aufklärer einen gewichtigen Beitrag zum Erwachsenwerden der Menschheit zu leisten.

Katz: Wie das?

Fjø: Sehen Sie, das mag jetzt viele religiöse Menschen auf die Palme treiben und ich fürchte den heiligen Zorn unseres verehrten Kollegen Bajun: Des ungeachtet bin ich ein Verfechter der Ansicht, dass Religionen nicht nur Opium für's Volk sind, sondern darüber hinaus ganz klar infantile Bedürfnisse bedienen. Worin besteht der Unterschied zwischen einem bittenden Kinde und einem betenden Erwachsenen? Beide wenden sich bezüglich des Wunsches nach einer speziellen Bedürfnisbefriedigung an eine für sie höhere Instanz. Sie gestehen damit ein, dass sie nicht selbst in der Lage sind, die Befriedigung ihres Bedürfnisses umzusetzen. Sie benötigen Hilfe. Sie erkennen ihre Abhängigkeit und liefern sich ihr aus. Wobei das Kind noch rationaler vorgeht, als der Betende. Denn das Kind wendet sich immerhin noch an eine real existierende, sozusagen fassbare Entität. Es handelt demzufolge materialistisch. Erwachsensein aber bedeutet, sich als eine für die eigene Existenz voll verantwortliche Persönlichkeit zu begreifen. Eben dieser Verzicht auf Verantwortungsübertragung und den damit verbundenen Blick aus der Froschperspektive entspricht dem Loslassen kindlicher Denkmuster, das viele – ich sage ausdrücklich viele, nicht alle – Religionen zu verhindern suchen. Der reine und ursprüngliche Buddhismus bildet meines Erachtens eine Ausnahme. Vielleicht aber wurde auch der Buddhismus erst in späterer Zeit von einer Philosophie in eine Religion umgeformt. Das vermag ich nicht zu beurteilen.

Katz: Ein unschätzbares Verdienst einiger Religionen, zumindest der monotheistischen, scheint doch aber die gesellschaftliche Verankerung moralisch-ethischer Prinzipien zu sein. Wo sehen Sie eine ähnliche Leistung des Dialektischen Materialismus?

Bajun: Zunächst gehört es nicht zum ursächlichen Aufgabenbereich des Dialektischen Materialismus, gesellschaftsbefriedende Verhaltensmodelle zu entwerfen. Philosophie soll in erster Linie helfen, die Welt zu erklären. Wie sich der einzelne dann in ihr zurechtfindet, bleibe einem nüchtern erarbeiteten Konsens innerhalb einer aufgeklärten Gesellschaft vorbehalten …

Katz: … soweit die Utopie ...

Bajun: Der Materialismus bietet zwar in seiner gesellschaftlichen Ausprägung ebenfalls einen moralischen Verhaltenskodex an, dessen Umsetzung in ähnlichem Maße scheiterte, wie das Moralkorsett, welches die monotheistischen Religionen strickten. Natürlich verzichtet eine materialistische Weltsicht auf obskure Strafandrohungen im Falle einer Verfehlung. Der Materialismus appelliert an die rationale Einsicht – und, da mögen Sie Recht haben, in einer irrationalen Art und Weise. Aber wie gesagt – der Dialektische Materialismus tauscht die Kausalitäten: Während die monotheistische Religion versucht, die Gesellschaft zu befrieden, indem sie den freien Geist in Geiselhaft nimmt, sprengt der Dialektische Materialismus genau diese Ketten. Ob die ihm entstammende These, dass das Sein das Bewusstsein forme, auf Dauer zu halten ist, muss man abwarten. Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen diesbezüglich ernsthafte Zweifel zu. Was aber dem Dialektischen Materialismus zu attestieren ist, das ist der unbedingte Wille zum Progress. Revolutionär ist insofern das Postulat, dass sich das Agens jedes Fortschritts aus dem Spannungsfeld zwischen dem Kampf und der Einheit der Gegensätze speist. Die Bipolarität wurde zwar schon in der christlichen Religion vorgedacht – jedoch nur als Druckmittel, adressiert an den Gläubigen, sich dem als positiv bewerteten Pol Gottes selbst unter Aufgabe der eigenen Persönlichkeit zuzuwenden. Diese Weltsicht war auf Stagnation ausgerichtet und bestrebt, jedwede Veränderung im Keim zu ersticken.

Auch das zweite Grundgesetz des Dialektischen Materialismus, die Negation der Negation, konnte sich in der Praxis nicht bewähren. Beinhaltete dieses Gesetz doch die Feststellung, dass bei einem Qualitätssprung die positiven Anteile der vorangehenden Entwicklungsphase erhalten blieben. Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Mit der Überwindung des Kapitalismus hätte die Demokratie als positive Errungenschaft in den Herrschaftsbereich des Dialektischen Materialismus übernommen werden müssen. Die Wahrheit aber war, dass genau die Leute, die sich über das christliche Abrakadabra von der Dreieinigkeit Gottes lustig machten, ein noch abstruseres Gedankengebäude bastelten. Sie begannen davon zu faseln, dass die Diktatur des Proletariats die höchstentwickelte Form der Demokratie wäre. Dabei war jedem Klippschüler klar, dass es sich bei der Herrschaftsform in dem jeweiligen sozialistischen System ausschließlich um eine Gerontokratie mit feudalistischen Grundstrukturen handelte. Den Unterschied zu ihren verhassten klerikalen Vorgängern darzustellen, gelang den Kommunisten nur sehr unvollständig. Die Kleriker maßten sich an, im Namen Gottes zu sprechen – die Weltverbesserer aber im Namen des Volkes. Das Problem war, dass sich Gott nur sehr selten deutlich in seiner eigenen Wesenheit artikuliert – das Volk indessen tut das schon häufiger. Hier nun lag für die Vertreter des Kommunismus der Hund begraben: Sie hätten aus der Geschichte lernen können, dass es ein objektiver Indikator für den beginnenden Verfall der Macht ist, wenn man beginnt, eine staatstragende Theorie zu einem theologischen Luftballon aufzublasen, dessen Inhalt nur noch dazu taugt, wenige Elfenbeintürmer zu bespaßen. Die Verfechter des Dialektischen Materialismus schlitterten zielgerichtet auf denselben Leim. Einmal in den hilflosen Bemühungen gefangen, den wachsenden Spalt zwischen Anspruch und Realität zu kitten, marschierten sie schnurstracks denselben Weg, wie ihre so heiß bekämpften Vorgänger auf dem Thron der Macht. Es ist wie mit den Kindern, die sich schwören, alles anders zu machen als ihre Eltern, wenn sie denn einstmals erwachsen sind, und dann nach Jahren feststellen, dass sie quasi zu Abziehbildern ihrer Altvorderen wurden, unfähig, über deren Schatten zu springen.

Katz: Was also bleibt dann vom Dialektischen Materialismus?

Fjø: Die Zukunft!

Katz: Die Zukunft?

Fjø: Ganz recht. Der Dialektische Materialismus ist aus aufgeklärten modernen Gesellschaften nicht mehr wegzudenken. Er allein bereitet einer vorurteilsfreien und wissenschaftlich-objektiven Analyse aller Naturvorgänge und gesellschaftlichen Prozesse den Weg. Er allein schafft die Voraussetzung dafür, dass der selbstzerstörerische Anthropozentrismus in Frage gestellt wird, und der Mensch beginnt, für sich Verantwortung zu übernehmen. Eine zwingende Voraussetzung dafür, dass er auch nachhaltige Verantwortung für die Schöpfung übernehmen kann. Er allein ersetzte das religiöse Postulat, Wahrheit sei nur im Glauben zu finden, durch die Erkenntnis, dass das einzig relevante Kriterium der Wahrheit die Praxis ist.

Der Dialektische Materialismus, sachlich und korrekt in Anwendung gebracht, lehrt die Vielschichtigkeit eines jeden Problems und – daraus folgend, dass Wahrheit nur relativ sein kann und somit in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Frage des Standpunkts und damit des Blickwinkels ist. Auf diese Weise öffnet der Dialektische Materialismus einem konstruktiven und sachbezogenen Miteinander in einer heterogenen Gesellschaft Tür und Tor. Natürlich kann auch der Dialektische Materialismus die biologische Unschärfe nicht eliminieren.

Das wäre ja auch furchtbar! Denn just der Verzicht auf die Bandbreite menschlichen Denkens und Handelns würde die Menschheit noch weitaus effektiver zu einer homogenen und mechanisch funktionierenden Masse degenerieren, als die großen monotheistischen Religionen das je ins Werk zu setzen vermochten.

Im Großen und Ganzen war je exakt diese Tendenz bei allen Systemen des real existierenden Sozialismus bereits zu beobachten und Nordkorea bietet noch heute ein schauerliches Beispiel für eine solche Entartung. Eine Homogenität aber, die zum Ziel hat, Spannungsfelder auszugleichen, nimmt der Gesellschaft jede Triebfeder des Fortschritts. Exakt das aber ist die Lehre aus dem Ersten Hauptsatz des Dialektischen Materialismus und genau die Missachtung dieses von ihnen so unermüdlich zitierten Hauptsatzes brachte die Kommunisten um ihre Macht. Sie vergaben ein großes Menschheitsexperiment, welches die alte Devise „homo homini lupus est“ ablösen und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beenden sollte.

Eigene und die im eigenen Unterbau verbreitete allzu menschliche Korruption brachte den Sozialismus zu Fall. Das nicht-Maß-halten-können, das über-das Ziel-hinausschießen brach den Stab über den Kommunismus. Wie übrigens schon früher über das staatstragende Christentum und wie früher oder später über die sogenannten islamischen Gottesstaaten. Die Theorie hielt und hält dem Praxistest nicht stand.

Das aber in seinen ursächlichen Zusammenhängen erkennen und wasserdicht formulieren zu können ist ein Verdienst des Dialektischen Materialismus. Ebenso wie die ständige kritische Hinterfragung der eigenen Ansichten, ohne darüber in Minderwertigkeitskomplexe verfallen zu müssen. Der Dialektische Materialismus bleibt für mich und viele andere Leute auch nach wie vor ein alltagstaugliches und bewährtes Instrument im Umgang mit dem Leben und seinen Herausforderungen.

Katz: Ich danke für das Gespräch.

25. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
17.08.2016