„Idomeneo“
abgesetzt oder „Die verratene Freiheit“
S.
M. Druckepennig
Waren das noch Zeiten! Muß so in der Mitte der Siebziger
gewesen sein, als der große, weiße Daimler mit der
doppelten Stoßstange und dem Düsseldorfer Kennzeichen
um die Ecke bog und sowohl der Onkel Jürgen und die Tante
Gerti als auch Cousine Levke und Cousin Hauke dem Schlitten entquollen.
Ach, dieser Duft nach dem 10-Liter-Persilpaket, das Gerti aus
dem Aldi für ihre Schwägerin mitgebracht hatte! Ach,
die unaufgerissene Tüte Milky Way und der sofort einsetzende
Sermon Onkel Jürgens über den Toskana-Urlaub, aus dem
sie gerade mit Umweg Potsdam zurückkamen, über das triste
Grau-in-Grau unserer noch tristeren Mangelwirtschaft – soeben
beseitigten sie mit ihren milden Gaben die größten
Notstände – und unsere völlig unverständliche
Feigheit, die uns daran verhinderte, die sozialistische Tristesse
abzuschütteln. Unser Duckmäusertum in der Heimat der
Freien, in Westdeutschland – undenkbar! Gerade vorhin an
der Zonengrenze hatte es der Onkel Jürgen dem sächselnden
VoPo mal wieder so richtig gezeigt! Und dann kam er, der unvermeidliche,
tausendmal zitierte und sicher tausendmal gelogene Kalauer: …Und
da sagte ich, unsere Pässe hat der Beamte da!“ Schnauzt
der VoPo zurück: „Wir sind ein Arbeiter- und Bauern
Staat. Bei uns gibt es keine Beamten.“ Grinse ich ihn an:
„Na gut, also unsere Pässe hat der Arbeiter und Bauer
dort drüben…Wie der blöd geglotzt hat, ha, ha!“
Ach Gottchen, ja.
Heute, da der Stacheldraht und mit ihm die Masken der guten Onkels
und Tanten aus dem Goldenen Westen gefallen sind, wissen wir,
wie die Situation weitaus wahrscheinlicher ablief: Ganz brav waren
sie alle miteinander, die Pässe lagen griffbereit. Ehe der
VoPo das verlangte, war die Kofferhaube schon auf und hätte
sich eine Göre auch nur eine abfällige Bemerkung gewagt,
dann hätt’s ruckzuck eine Watschen gegeben von der
Vorderbank. Auf der Autobahn immer schön Hundert –
die Zweihundert, „die der Wagen mühelos schafft“,
sind halt nichts für „eure schlechten Straßen.“
Ja, ja.
Und so ging’s in einem Fort. Nur als wir den obligatorischen
Familienspaziergang nach Sanssouci absolvierten, und unser Vater
Hans dem Onkel Jürgen und uns allen den neuesten, im Betrieb
kursierenden Honecker-Witz erzählte, da lachten wir alle,
mit Ausnahme der Westverwandtschaft laut und schallend. Onkel
Jürgens Lächeln war ein sehr Gequältes, ständig
huschten seine Augen vorsichtig in der Gegend herum und in den
Schweißperlen auf der Stirn spiegelte sich schon die Deportation
nach Sibirien.
Natürlich wußte er gleich zu Hause in der Düsseldorfer
Stammkneipe zu berichten, daß sein Bruder Hans bei der Stasi
sein müsse, sonst würde der nie so das Maul aufreißen!
Der eigene Bruder wollte ihn nur provozieren um ihn dann einlochen
zu lassen, so weit sind wir schon. Aber er hat das miese Spiel
sogleich durchschaut und hat sich nicht bei der Nase kriegen lassen.
Ach, Onkel Jürgen, mit deinem großen Daimler und der
noch viel größeren Klappe – Papa war nicht mal
bei den Kampfgruppen und die Stasi hatte sich gleich gar nicht
für ihn als Mitarbeiter interessiert, weil er von dir nicht
lassen wollte.
Ja, so war das damals.
Ja, so ist das noch heute.
Wir erinnern uns doch noch der „Satanischen Verse“
des Salman Rushdie? Wie – kaum war die Fatwa durch –
die meisten deutschen Buchhändler und Verleger den Schwanz
zwischen die Beine klemmten. Ich habe das Buch in keinem einzigen
Schaufenster gesehen.
Oder als die Flugzeuge in die Zwillingstürme krachten…
Lehrer, die ihren Schülern selbständiges Denken beibringen
sollten, versagten sich eine kritische Auseinandersetzung mit
dem Thema und seinen Hintergründen. Zu viel, der Beamtenstatus,
die Pensionsanwartschaften standen auf dem Spiel. Die eine, die
es in Sachsen gewagt hatte, den Mund aufzumachen, diente allen
anderen als warnendes Beispiel.
Ein dreifach Hoch auf die Dame Libertas! Dreifach? Moment mal
– da fehlt noch einer. Ja, richtig: Die Deutsche Oper in
Berlin will den Idomeneo absagen, in vorrauseilendem Gehorsam.
Bravo, Bravissimo.
Wie bläkte der Alte von Rhöndorf seinerzeit: „Wir
wählen die Freiheit!“ Na, dann mal los!
Übersetzen wir neuerdings also das Wörtchen Freiheit
mit einem Kotau vor Terroristen. Das heißt nichts anderes,
als genau diese Freiheit preiszugeben – oder versteht man
im Westen des Landes unter Freiheit noch immer lediglich „Reisefreiheit“?
Es sind ein paar elende Jammerlappen, vom Pässe schwenkenden
Onkel Jürgen bis zur Intendanz der Deutschen Oper!
Auch wir drehen uns angewidert ab, wenn der Regisseur den Idomeneo
am Schluß der Aufführung mit den abgeschlagenen und
blutigen Köpfen von Neptun, Christus, Buddha und Mohammed
hausieren geht. Wir finden es abartig, pervers, bar jeder ernstzunehmenden
Aussage, befremdlich. Dennoch bedeutet Freiheit, dem Manne ungehindert
zu ermöglichen, seine kruden Sperenzchen zur Aufführung
zu bringen.
Doch da knicken sie ein, die Kuscher, die einst so großartigen
Kämpen der Freiheit.
Dieses Einknicken entlarvt sie als billige und substanzlose Sprücheklopfer
und Maulhelden.
Worte – das ist ein Allgemeinposten – dienen in allererster
Linie dazu, den Gegenüber zu täuschen, ihn zu manipulieren.
Worten sollte man in einem Maße mißtrauen, wie sonst
Werbebotschaften. Beide versprechen viel und halten wenig.
An den Taten läßt sich erkennen, aus was für Holz
die Sache geschnitzt ist. Taten sind weniger korrupt.
So läßt sich gerade an diesen Episoden gut studieren,
wie weit Freiheit im Maule führen und Freiheit leben beim
deutschen Michel auseinanderklafft. „Wir wählen die
Freiheit!“ Das ist mittlerweile so ermüdend, wie weiland
Onkel Jürgens Geschwafel.
Die Assassinen aber wird’s freuen. Der todbringende Versuchsballon,
der von ihnen beinahe täglich nach Westen hin auf den Weg
gebracht wird, kommt immer häufiger mit guten Nachrichten
zurück. Bald werden sie wissen, wann die marode Festung Europa
mit ihren gottlosen Werten sturmreif ist. Als Byzanz von innen
her verfaulte, bewiesen sie schon einmal einen guten Riecher für
die zunehmende Schwäche ihres Gegners. Na denn, einen Halbmond
für die Paulskirche!
Brauchen die freiheitsliebenden Demokraten wenigstens nicht mehr
zu Kreuze kriechen – zu Halbmond kriechen ist doch auch
ganz schön. |