Bildungsmisere
J.-F. S. Lemarcou
Die Iden des März
2007 bescherten einigen Schülern der Brandenburger zehnten
Klassen ein Praktikum vor geschichtsträchtigem Hintergrunde
und einem geplagten Journalisten in einem mitteldeutschen Vortragssaal
ein zweistündiges Fegefeuer.
In sieben Gruppen, jeweils vier bis sieben Mädchen und
Jungen stark, trugen die baldigen Schulabgänger ihre Projekte
und deren Ergebnisse vor.
Bald vier Dutzend junge Menschen nach zehn Jahren westdeutscher
Schulausbildung – und nur ein Einziger blieb am Ende,
dem Herr Bajun auf die Schultern klopfen und sagen konnte:
Du hast deine Sache gut gemacht.
Dieser Letzte, Eric, war denn auch der Einzige, dem man eine
emotionale Beteiligung an der Materie anmerkte, einer Materie,
welche die grauenhafteste Epoche der deutschen Geschichte bezeichnet:
die Zeit des Dritten Reiches. Das Konzentrationslager Sachsenhausen
in seiner Funktion als KZ der Nazis und als Straflager des NKWD
sollte vorgestellt werden. Die andere Hälfte der Schüler
befaßte sich mit der Geschichte der Juden in der Stadt
Brandenburg. Wenn man ihnen noch einiges Engagement unterstellen
konnte, dann war dieses wohl auf die zu erwartende Note gemünzt
und hatte wenig mit dem Leid der Opfer der totalitären
Regime zu tun.
Das ist nun eine harte Behauptung, zugegeben! Doch sie wird
durch die Art und Weise, in der die Referate gehalten wurden,
hinreichend untermauert.
Die technische Umsetzung der Vorträge war noch das, was
bei allen Vorträgen am wenigsten zu bemängeln war.
Die Kinder hatten sich mit der Ausarbeitung sichtlich Mühe
gegeben. Power-Point-Präsentationen, selbst gestaltete
Plakate, selbst gedrehtes Filmmaterial – das alles war
so übel nicht.
Aber die Vorträge
selbst… Mit Ausnahme des letzten waren sie allesamt grottenübel.
Da ist keine Eloquenz, kein rhetorisches Talent, keine innere
Anteilnahme zu merken gewesen. Das war hohl, dröge und
einschläfernd. Ein schlechter Redner ist der Gehilfe des
Henkers, pflegt der Herr Chefredakteur des Preußischen
Landboten häufig zu sagen. Diese Vorträge waren die
Bestätigung des Bonmots. Quälend das Genuschel, Geleier,
Heruntergestotter und Gelalle – da war wie gesagt vorbehaltlich
des letzten Vortrags keine Spur von freier Rede. Ach, wenn sie
doch wenigstens, da sie schon alles von ihren Zetteln ablasen,
vernünftig und prononciert vorgelesen hätten! Aber
das waren ja Legastheniker, die den Sinn dessen, was sie da
aus dem Internet und aus Schriften, die sie zur Verfügung
gestellt bekamen, gnadenlos herauskopiert hatten, wenn überhaupt,
dann nur ansatzweise erahnten. Die französische Hafenstadt
Marseille wurde ausgesprochen, wie sie geschrieben wird –
glauben Sie nicht, der junge Mann hätte gewußt, wo
Marseille auf dem Atlas zu finden sei! Häftlinge kamen
auf "richterliche Verführung" ins KZ! Eine richterliche
Verfügung wurde also zu einer richterlichen „Verführung“.
Wie wird man vom Richter verführt, ins KZ zu gehen? Das
mochte noch der Aufregung geschuldet sein – war es aber
nicht: die Schülerin kannte zwar den Begriff der Verführung
– ihr gewaltiger Ausschnitt – (und den betonte sie
fachfraulich!) – illustrierte das entsprechende Faktum
hinlänglich. Darüber hinaus war die kleine Solarium-gebräunte
Nymphe strohdoof! Doch mit diesem Attribut brauchte sie sich
nicht zu verstecken. Sie war nicht allein.
Eine Truppe konnte glücklicherweise an der Produktion eines
Eklats erster Ordnung schon im Vorfeld verhindert werden: Die
Damen und Herren planten zu verkünden, sogenannte „Stolpersteine“,
dem Gedächtnis ermordeter jüdischer Bürger zu
Ehren verlegt, wären auch für Adolf Hitler ins Trottoir
Braunaus eingelassen worden! Tatsache stand in dem Text, den
die Schüler kaum zu lesen, geschweige inhaltlich zu erfassen
in der Lage waren: Auch in der Heimatstadt Adolf Hitlers, Braunau,
sind Stolpersteine verlegt worden.
Allmächtiger Vater Israels, ich würde gerne viele
hungernde aber des Denkens mächtige Neger und Indios und
Mexikaner eintauschen, gegen diesen dekadenten und zum Bersten
blöden deutschen Nachwuchs. Sollen sie sich in die Slums
scheren, wo sie begreifen, wofür der liebe Gott den Nackten
Affen einst mit Hirn und Vernunft begabt hat, oder untergehen.
Das wäre zwar nicht schön, aber akzeptabler als dieser
Anblick von ignoranten Wohlstandszöglingen, die ihre geistigen
Ressourcen unbekümmert degenerieren lassen um ein sorgloses
von "fun" bestimmtes Dasein auf Kosten besagter hungernder
und hart schuftender Neger und Indios führen.
Die Juden bekamen statt einer Synagoge eine Synkope übergeholfen.
Welch Wunder! Dieses Wort gibt es sogar in der medizinischen
Fachsprache und bezeichnet nicht nur das sprichwörtliche
Korn, das auch einmal von einem völlig blinden Huhn aufgepickt
wird, sondern darüber hinaus die Bewußtlosigkeitsattacke,
die meinen verehrten Kollegen Scholcher M. Druckepennig fraglos
ereilt hätte, wäre er von unserem Herrn Chefredakteur
zur Teilnahme an diesem denkwürdigen Ereignis verdammt
worden.
Diese Kinder berichteten völlig teilnahmslos von den fürchterlichsten
Verbrechen, die Menschen an anderen Menschen je verübten.
Sie haben’s nicht gerafft! Ihnen fehlte völlig die
Empathie mit den Opfern. Es war so etwas wie eine pflichtgemäß
deklamierte Märchenstunde mit Hänsel, Gretel und Schneewittchen,
die Verbrennung der bösen Hexe inklusive; Fairy Tales von
einem anderen Planeten… Kinders, heute haben wir: Gedicht
aufsagen!
Wollen wir so eine Wiederholung der Greuel des Nationalsozialismus
präventieren? So? Mit dieser Jugend? Gute Nacht allerseits!
Einer, ein Einziger nur, dessen Stimme tremolierte, als er vom
Schicksal der verschleppten und gemordeten Juden berichtete.
Kinder, die im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren nur an Disko,
fun und ficken denken, die nach der Projektverteidigung die
beurteilende Lehrerin nicht einmal ausreden ließen, da
stürzten sie schon aus dem Audimax wie die gesengten Säue,
Kinder, die Lachanfälle bekommen, während sie von
ermordeten und geschundenen Opfern der Nazis berichten –
mon cher Monsieur Liebermann – auch ich konnte gar nicht
so viel fressen, wie ich hätte kotzen können!
Und Sie meinen, ich würde die Themata, die einzig diese
juvenilen, ach was infantilen Hirne bewegen, zu drastisch formulieren?
Oh, ich versichere Sie: ich sitze oft genug in der Straßenbahn
vor und hinter und zwischen ihnen und höre wohl, was der
ausnahmslos einzige Tenor ihrer Unterhaltungen ist. Ich wiederhole
es: Disko, fun und ficken! Ein paar Beziehungskisten werden
noch auseinander geächzt und gestöhnt: „…ey,
Alter, ey, voll kraß Alter, die Alte ey, mit der schiebt
der ab, der Penner, ey, kricht wat uff’s Maul wenn er
det nächste Mal im F. (hier folgt der Name einer stadtbekannten
Schlägerdisco) is, ey, Alter, Mann…“. Mit Alter
und Mann wird immerhin ein junges Mädchen angesprochen.
Doch solche kleinen Ungereimtheiten stört die geistig retardierte
Jugend nicht. Sie hätten auch nicht annähernd soviel
Grips zu bieten, den Unsinn ihres teils auf Urlaute reduzierten
Gestammels zu erfassen. Sollte der Gesetzgeber nicht darüber
nachsinnen, daß es zum bußgeldbelegten Straftatbestand
erhoben wird, sich an der deutschen Sprache zu vergreifen? Sie
lächeln? Warten Sie’s ab, was für weitreichende
Konsequenzen einer Ungeisteshaltung erwachsen, deren Ausdruck
sich in diesem grauenvollen Geblöke formiert.
Hier haben sich alle schuldig gemacht, hier haben alle versagt:
Die Gesellschaft, die Eltern die Lehrer. Die Gesellschaft am
Allermeisten. Die Lehrer am Allerwenigsten.
Die Eltern – nun ja... Was glauben Sie, wird eine bildungsferne
Litfaßsäule wie die cerebral und über dem Sternum
(Brustbein) tief ausgeschnittene Gake ihrem statistisch gesehen
ziemlich bald zu erwartenden Nachwuchs an Wissen vermitteln
können? Denken Sie nicht zuviel darüber nach! So viele
Antidepressiva kann die pharmazeutische Industrie gar nicht
auf den Markt werfen.
Und haben wir vernünftige Eltern, die das große Glück
haben mit echten Pädagogen kooperieren zu können,
dann macht eine dümmliche Peer-Group jeden Ansatz zunichte.
Da können Sie sich drauf verlasen. Nichts zieht, nichts
formt so sehr wie die Peer-Group.
Pädagogische Restriktionen gegen ungebremste Schülernaturelle
ziehen oft einen Kleinkrieg der oft selbst intellektuell etwas
im Schatten stehenden Eltern nach sich, die sich in ihren Eigentumsrechten
am Kinde beeinträchtigt fühlen. Das Wohl des Kindes
langfristig zu beurteilen, fehlt es auch einem Großteil
der Eltern dieses Lumpenproletariats an grauer Masse.
Die ermattenden Lehrer reagieren entsprechend mit Gleichgültigkeit,
Lethargie oder Krankenscheinen.
Die Gesellschaft, die vom Schrecken des totalen Autoritätsstaates
gezeichnet, panisch in die anarche Ecke flüchtete, hat
das zu verantworten, was da bar jeder Erziehung, bar jeden Allgemeinwissens
heranwächst. Unser Jammer ist vergebens. Das aber bleibt
uns zum Troste: Alles, alles wird von selbst sich regulieren.
Als der gequälte Journalist seine Notizen machte, schrieb
er in sein Quartheft: Wenn die Edelklamotten, die von den Vortragenden
vorgeführt werden, von derselben räudigen Qualität
wären, wie die Vorträge, dann würde dort vorne
ein trister Haufen Vogelscheuchen herumstottern.
Nun, über kurz oder lang wird das auch der Fall sein, denn
es ist schwer vorstellbar, daß eine Hochleistungsgesellschaft
wie die Unsrige für einen solchen Schwund und Schwachsinn
auch nur einen müden Cent bezahlen wird. Ja, die Hochleistungsgesellschaft
selbst wird binnen kurzem in sich zusammenfallen, denn dieses
Kernholz ist morsch. Mit denen läßt sich keine Spitzenposition
am Weltmarkt behaupten, ja nicht einmal die eigene Binnennachfrage
an qualifizierten Kräften befriedigen.
Man kann sich eine rosarote Brille aufsetzen und das Ganze noch
schönreden: Für die attestierte Dummheit und Unbildung
der Schüler wäre ihre Leistung doch recht passabel
gewesen. Gebt ihnen ruhig eine Drei, wo eine Note „Acht“
hätte erfunden werden müssen! Macht ruhig. Findet
Euch damit ab, daß ihr die Anforderungen Stück um
Stück herunterschraubt. Nur zu! Das Leben wird einst anders
benoten. Verlaßt euch drauf. Eure Schönfärberei
und Nachsicht und falsch applizierte Milde wird euch bitter
auf die Füße fallen, wenn das Rentenalter mangels
Deckung der Rentenkassen auf Einhundertzehn heraufgesetzt wird.
Die miesen Leistungen der Schüler von heute, ihre Ignoranz
und Dummheit werdet ihr morgen mitbezahlen, die ihr diesen Entwicklungen
kein Paroli bietet.
Vielleicht kommt’s sogar noch schlimmer. Vielleicht kann
eines Tages wieder ein Irrer Millionen von Menschen im Namen
einer asozialen Ideologie ausrotten, weil diejenigen, die ihm
ein solches Mandat erteilen, keinen blassen Schimmer haben,
daß das alles schon mal da war.
Basekap von NY auf dem Schädel, Stroh und Gülle darunter
und blütenweiße Nike an den Füßen –
es ist nur noch die Frage, wer das Korrektiv ansetzt: Die Zukunft
oder wir selbst. Letzteres wäre vernünftiger.