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Der Bahnhaltepunkt Kirchmöser -
eine neuzeitliche Tragödie

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Jules-Francois Savinien Lemarcou
Ein Bahnhof sagt viel aus über die Menschen, deren Verbindung zur Welt er oft bedeutet. Stuttgart leistet sich gerade ein Prestigeobjekt der avantgardistischen Art. Wahrscheinlich will die Schwabenhauptstadt andeuten, daß sie nicht hinter den schwäbischen Bergen liegt, sondern sehr wohl eine Stimme hat im Kanon der europäischen Metropolen. Seinen schicken neuen Bahnhof wird Stuttgart ähnlich behüten, wie Berlin seinen neuen, riesigen Hauptbahnhof – und Gnade Gott dem, der es wagt, hier zu schmieren oder zu randalieren!
Nicht weit von Berlin entfernt liegt der mit der Eisenbahn eng verbundene Ort Kirchmöser. Für das Dorf ein wenig zu groß geraten, grüßt das imposante, neoklassizistische Bahnhofsgebäude aus dem letzten Jahrhundert, sozusagen der Eingangsbereich Kirchmösers. Aufwendig restauriert wurde es nach der sogenannten Wende – seitdem steht es leer, gammelt vor sich hin und verfällt. An seinen Westgiebel lehnt sich ein weißer Fachwerkschuppen. Sieht man vom Lankenweg an einem verschneiten Winterabend herüber zum Bahnhof – so erblickt man ein Postkartenmotiv wie es schöner und idyllischer nicht sein könnte.
Nichts davon bleibt, wenn man näher kommt. Die Ernüchterung ist furchtbar. Das mittlerweile veräußerte Gebäude ist mit ekelhaften Graffitis verschmiert. Die Fenster des Erdgeschosses sind gegen weiteren Vandalismus mit perforierten Metallplatten verhangen. Nun müssen die Fenster der oberen Etage zur Zielscheibe für Steinwürfe dienen. Schrecklich ist dem kleinen Fachwerkschuppen mitgespielt worden. Brutaler und sinnloser Vandalismus hat aus ihm ein trostloses Symbol für die Verkommenheit der Subjekte gemacht, die es bewußt und gewollt in eine Ruine verwandelten. Kein Fenster blieb heil, die Eingangstür ist eingetreten, traurig wehen ein paar übrig gebliebene Gardinen im Wind. Auf dem Fußboden liegen Glasscherben und einige zerstörte Öfen. Schutzlos ist das Gebäude dem Wetter ausgesetzt und den weiteren Orgien der Zerstörung und der Gewalt.
Dieser desaströse Anblick wird seit den ersten Novembertagen des Jahres 2006 durch die zerstörten Bahnhofsuhren und das eingeworfene Bahnhofsschild der Deutschen Bahn vervollständigt. Um die Bahnhofsuhren zu zertrümmern, hatte die tobsüchtige und tollwütige Canaille die Wurfsteine aus dem Bürgersteig herausgerissen. Die Elektrokabel hängen herunter, das einzig heil gebliebene Ziffernblatt von ehemals sechsen zeigt keine Zeit mehr an.
Das sind kriminelle Asoziale, die so etwas tun. Das sind Verbrecher, die sich an der Gemeinschaft in übelster Weise vergehen. Doch die Gesellschaft reagiert nicht. Sie läßt diese Straftaten über sich ergehen und sieht tatenlos ihrer eigenen Verwahrlosung zu, die ihr von haltlosen und unreifen Gestalten aufobtruiert wird. Dafür stehen der zerstörte Bahnhof und seine kaputten Uhren. Wie eingangs erwähnt – sie sind ein Spiegel der Leute, die hinter ihnen wohnen. Denn es wird kaum jemand von weit her anreisen, um diesen Bahnhof zu zerstören.
Mit den Banditen wird eine große Masse von lethargischen Menschen das Dorf Kirchmöser bewohnen, die das Ganze vielleicht noch ärgerlich finden, sofern sie den Schaden überhaupt bemerken. Aber rühren sie einen Finger, um die Dinge wieder ins Lot bringen? Es sind Männer, Frauen und Kinder aus ihrer Mitte, die diesen Schaden verursacht haben. Wer hat dieses Lumpenpack gelehrt, so mit unser aller Eigentum umzugehen? Wer duldet das?
Es ist richtig – dieses Problem reicht weit über die Dorfgrenzen von Kirchmöser hinaus. Es ist das Problem der Bundesrepublik Deutschland. Die Werte dieser Bundesrepublik Deutschland sind nicht mehr erkennbar. Man registriert sie nur noch als Bestandteil hohler Sprechblasen profilneurotischer Politiker.
Der Bahnhof Kirchmöser ist ein Menetekel! Nebenan wird der Industriestandort Kirchmöser mit immensen Kosten revitalisiert. Eine Investition in die Zukunft…
Wer’s glaubt. Die Investition in die Zukunft hätte in den verkommenen Nachwuchs getätigt werden müssen. Statt sie vor ungebändigter Aggression, deren Wurzeln in der eigenen verpfuschter und sinnentleerten Existenz liegen, leerstehende Häuser demolieren zu lassen, hätte man besser daran getan, ihnen beizubringen wer Johann Wolfgang von Goethe ist und was sein Rat bedeutet: Was von deinen Vätern du ererbt, erwirb es, um es zu besitzen! Und daß damit nicht gemeint ist: …zerstör es, auf daß wir alle auf einer Müllhalde und einem Schutthaufen leben.
Nachdem nun der Bahnhof Kirchmöser solcherart geschändet wurde, fragen wir uns, was folgt? Ermittelt die Polizei die Halunken? Und wenn die Strolche dingfest gemacht sind – welche Sanktionen haben sie zu gewärtigen? Ein sanftes „du, du!“ vom Onkel Richter?
Wie viele sind es, die begreifen, daß mit dieser traurigen Ruine ihre Zukunft verhandelt wird. Daß die Signale auf Untergang stehen, wenn ein Volk seinen Nachwuchs aus Faulheit und Desinteresse verwahrlosen läßt, so wie es seine Kulturgüter der Zerstörung anheimgibt, wenn sie keinen direkten Nutzen in Mark und Pfennig mehr abwerfen.
Wenn ich ein Investor wäre, den die Stadt Brandenburg für ihre industriellen Liegenschaften eingenommen hätte, und ich käme mit dem Zug nach Kirchmöser – ich sähe mich kurz um, hörte mir an, was der Bahnhof mir zu erzählen hätte, setzte mich in den Gegenzug und wäre mit einem „Pfui Teufel!“ auf den Lippen auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Sollen die Zerstörer und ihre pflichtvergessenen Eltern sehen, wo sie ihre Arbeitsplätze herbekommen. Sollen sie in ihrem selbstfabrizierten Müll und Unrat hockenbleiben.
Aber die wird selbst das nicht interessieren. Hauptsache – Hartz IV kommt pünktlich und die Glotze flimmert. Wenn nicht – na dann machen sie halt vor Wut das nächste Gebäude klar.
Unrechtsbewußtsein – Fehlanzeige! Aber das geht ja ihrer Gesellschaft ebenfalls zur Gänze ab.
Ach, da es sich um einen Bahnhof handelt, wird die Frage erlaubt sein, wohin die Reise geht. Die Eisenbahn fährt nach Magdeburg, der Zug der Gesellschaft ohne Zwischenstop nach Rio de Janeiro: mit all den geschützten Wohnvierteln der Reichen, den abartig stinkenden und verrottenden Elendsquartieren der Armen und den Esquadraos da Morte, den Todesschwadronen, die ein wenig am Gesetz vorbei des Nachts die Reihen des ungeliebten Gesindels lichten. Aber die Republik sieht keine ernsthafte Notwendigkeit, die Weichen herumzureißen. Na denn! Gute Fahrt!

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9. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2006