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        zum Landboten   | Misericordia Ein epochale Skulptur aus Brügge"The bridge" (2023) von Frau Patricia Piccinini*
 Kotofeij K. Bajun. Brügge. 
        Rathenow. Havelsee. .„Misericordia“ 
        – das ist Latein und bedeutet Mitleid, Erbarmen. Der christliche Kanon 
        der Kardinaltugenden führt sie nicht auf. Damit die den Christen heilige 
        Siebenzahl nicht überschritten wird, musste sie so unsinnigen, metaphysischen 
        und substanzlosen Kategorien wie „Glaube“ und „Hoffnung“ weichen.
 Glauben heißt „nicht wissen“. Hoffen und Harren hält manchen zum Narren. 
        Trotzig sagte darum der Gigant der abendländischen Musik Georg Friedrich 
        Händel. „Ich WEIß, 
        dass mein Erlöser lebt!“
 
 Die Misericordia aber ist zwingend eine Tugend der Tat.
 
 Das ist auch Christen nicht ganz fremd. In einem der ältesten Krankenhäuser 
        Europas, dem beinahe neunhundert Jahre alten Sint-Jaansspital in der Marienstraße 
        38 der flandrischen Hanse-Metropole Brügge ist dies eindrucksvoll auf 
        dem ganzen Ausstellungsgelände nachzuvollziehen.
 
 Atemberaubend jedoch ist eine lebensechte Skulptur, die im Johannis-Hospital 
        platziert wurde. Sie lässt den Schritt stocken, verharren. Man schaut 
        einmal hin, zweimal … Das gibts doch gar nicht!
 
 Doch während einem das Blut durch die Ohren rauscht, beginnt es im Großhirn 
        langsam zu dämmern, welchen gewaltigen, epochalen, zutiefst christlichen 
        und menschlichen Ansatz die Künstlerin verfolgte.
 
 Die Eiferer einer jeden Religion mögen Zeter und Mordio schreien. Wir 
        aber stehen ergriffen vor diesem Bildnis und es wird uns klar, dass allem 
        Grauen in der Welt, aller Geringschätzung des Lebens zum Trotze doch noch 
        andere Menschen in der Lage sind, mit dem Herzen zu sehen, mit dem man 
        Antoine de Saint-Exupéry zufolge einzig gut sehen kann.
 
 Eine zeitgenössische Beghine sitzt auf einer simplen Bank, in ihrem Schoß 
        eine sterbende alte Dame haltend. Sie ist dieser zugewandt, ihre Hand 
        ruht auf dem Arm der Leidenden. Die Moribunde ist nackt, wie Gott sie 
        erschuf.
 
 Wie Gott sie erschuf? Nein, wie eine Künstlerin von großem Format sie 
        formte. Denn Gott hatte eine solche Dame weder geplant noch erschaffen. 
        Es sei denn, man hätte die ranghöchste Diplomatin im Sinne, welche das 
        christliche Abendland je hervorbrachte: die Gralsbotin Kundrie aus der 
        Geschichte um Parzival von Wales und Norgals.
 
 Diese Dame ist eine Chimäre, ein Mischwesen aus Dame und Schwein und beide 
        Phänotypen gehen nahtlos ineinander über.
 
 Hier geht es um alles! Diese Skulptur sagt tausendmal mehr als jedes Plakat, 
        jede Parole, die so inbrünstig wie gehaltlos jeglichen Rassismus verdammen 
        und die eigene Toleranz betonen.
 
 Bewusst wählte die Künstlerin das Schwein, die ebenso engen und nützlichen 
        wie völlig irrsinniger und paradoxer Weise verachteten Gefährten des Menschen, 
        die ihm schon von der Physiologie und Anatomie her so unheimlich ähnlich 
        sind, dass man sogar Schweineorgane in Menschen verpflanzen kann.
 
 Dennoch steht das Schwein für Ablehnung, Ausgrenzung, Herabsetzung, Diffamierung. 
        Dessen der Mensch am dringendsten bedarf, das verunglimpft er bevorzugt 
        und bereichert damit das Arsenal seiner Schimpfwörter. Tiere, vornehmlich 
        Hunde, Esel, Kamele und vor allem Schweine stehen da pars pro toto. Wer 
        sich so artikuliert, stellt sich selbst einen Ausweis menschlicher Dummheit 
        aus. Wir nennen solche Leute unreflektierte Idioten. Es sind die nämlichen 
        Idioten, die da meinen, sie seien Gottes Kinder – und nur sie allein. 
        Die anderen sehen anders aus, sprechen in anderen Lauten, sie sind fremd 
        – also per se minderwertig.
 
 Diese Künstlerin aber sagt: Siehe, das ist mir scheißegal. Du, Schweinedame, 
        magst von anderer Gestalt sein als ich, aber du bist ich und ich bin du. 
        Du bist meine Schwester in Christo und du hast ein vor Gott einklagbares 
        Recht auf Barmherzigkeit und Mitleid und Zuwendung und wer dir dieses 
        verweigert, der sei des Teufels fette Beute!
 
 Der Preußische Landbote zieht vor dieser MISERICORDIA tief bewegt und 
        in Demut seinen Dreispitz.
 
 Wer das nicht versteht, an dem hat Gott die menschliche Natur verschwendet.
 
 Gottes Segen über diese großartige Künstlerin!
 
 Du hast ein Werk geschaffen, Frau Patricia Piccinini, welches in derselben 
        Liga spielt, wie Michelangelos Pietá! Du hast Brügge und seinen Besuchern 
        aus aller Welt ein Geschenk von unschätzbarem Wert gemacht, denn deine 
        Botschaft ist die wahre Menschlichkeit in kristalliner Form.
 A-mejn.  
  "The Bridge", 2023, Frau 
        Patricia Piccinini,
 Sint-Jansspital Brügge
 Foto © Preußischer Landbote
 
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